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Pflege am Limit: Ein Bericht aus der Praxis

Personalbedarf, Arbeitsbedingungen und Bezahlung auf dem Prüfstand

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Pflegeskandale wie am LKH Graz Standort Süd 2018, SARS-CoV-2 Cluster in steirischen Pflegeheimen 2020, Berichte von Freiheitsbeschränkungen und Gewaltanwendung durch die Volksanwaltschaft und Gerichtsverfahren gegen Pflegekräfte schaffen einen öffentlichen Eindruck von einem überforderten und unterbesetzten Berufsstand. Ist die Pflege jetzt oder in Zukunft tatsächlich am Limit? Wie kann man Arbeitsbedingungen und Arbeitsaufwand ohne die Marketingbrille des jeweiligen Hauses realistisch einschätzen?

Eine sehr gute Kennzahl für Arbeitsbedingungen ist die Fluktuation des Personals. Während die großen Krankenanstalten bei ca. 10% liegen dürften, kann man bei den privaten, gewinnorientierten Pflegeheimbetreibern in der Steiermark bis zu 25% jährlicher Personalfluktuation schätzen. Genaue Zahlen bekommt man aus Eigeninteresse der BetreiberInnen natürlich nicht, eine Auskunftspflicht gegenüber dem Land zu solchen Kennzahlen besteht nicht. Durch eine verpflichtende Berichterstattung könnten hier Schlussfolgerungen gezogen werden.

Neben dem Einkommen hat die Umfrage Gesundheitsberufe der Arbeiterkammer ergeben, dass Arbeitszeit die zweite große Baustelle ist. Ständig wechselnde Schichten, unregelmäßige Dienstpläne und kurzfristiges Einspringen machen Freizeitgestaltung und Familienplanung schwer möglich. So bleibt bei vielen Pflegekräften das Gefühl auch in der Freizeit ständig auf Abruf zu sein. Mit dieser emotionalen Belastung und dem „niemals wirklich abzuschalten“ können Menschen auf Dauer nur schwer umgehen. Ein Viertel der Beschäftigten im Gesundheitsbereich denkt regelmäßig an den Ausstieg aus dem Beruf.

Aber gerade diejenigen mit Erfahrung im Beruf zu halten, ist absolut notwendig, um zukünftige Personalengpässe nicht noch schlimmer zu machen. Ältere Menschen mit Lebens- und Berufserfahrung, die sich optimal für die Anforderungen der Pflege eignen, müssen leider aufgrund der zu hohen Belastungen zu oft den Beruf aufgeben. Hier gehen uns viele kompetente und notwendige Menschen verloren.

Die Bedarfsprognose für Pflegepersonal des Sozialministeriums berechnet österreichweit einen Mehrbedarf von 34.000 Personen bis 2030. 75.000 sind es, wenn man die Pensionierungen schon abzieht. Dabei wird in dieser Prognose die 24-Stunden-Betreuung, ohne die unser System heute schon längst zusammengebrochen wäre, nicht mit einberechnet. Ebenfalls nicht inkludiert ist eine Prognose für den Rückgang der informellen Pflege (also Betreuung meist durch nahe Angehörige), die durch häufigere Berufstätigkeit auch jedes Jahr zurückgehen wird.

Wir müssen Wege finden, auch in Zukunft Menschen für die Pflegeberufe zu begeistern und vor allem müssen wir Wege finden, das Personal von heute im Beruf zu halten. Das kann nur mit ehrlicher Evaluierung und Bearbeitung der größten Probleme gehen. Leider ist es vielen Betreibern wichtiger, eine Vielzahl an gekauften Qualitätszertifikaten - angelehnt an Produktionsindustriestandards - an die Eingangstüre zu kleben, anstatt sich mit den wirklichen Sorgen und Problemen der Kundschaft und der MitarbeiterInnen zu beschäftigen.

Ohne besserer Bezahlung, höherer Personalausstattung und guten Arbeitsbedingungen allgemein wird es nicht gehen. Pflege muss mehr Wert sein. Mit folgenden Vorschlägen könnte schon einmal angefangen werden:

• Verpflichtende Dokumentation und Veröffentlichung von statistischen Kennzahlen von allen öffentlichen und privaten Trägern, welche die ArbeitnehmerInnenzufriedenheit beeinflussen: Fluktuation, Drop-out-Rate in den ersten Monaten, Altersdurchschnitt bei Arbeitsbeginn, beendigung, durchschnittliche Verweildauer im Beruf und dergleichen.

• Eine Berechnung des Personalbedarfs nach qualitativen und quantitativen pflegewissenschaftlichen Aspekten, nicht durch politische Willkür (Personalausstattung Pflegeheime) oder durch an Fließbandindustrie angelehnte minutiöse Einzelabrechnung von Tätigkeiten (PPR / DGK-85 in Krankenanstalten).

• Offenlegung der tatsächlichen Entlohnung von Pflegepersonal. Durch ein komplexes Zulagensystem sind verschiedene Bereiche trotz oft ähnlichem Grundlohn sehr unterschiedlich bezahlt. Hier gilt es, für Berufs Ein- und Umsteiger ein transparentes Bild zu schaffen.

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Diese Einschätzung von Wolfgang Schwab (DGKP, MSc) erschien in der 3. Ausgabe der Pflege in Bewegung, die Sie hier kostenlos abonnieren können: HIER KLICKEN!

28. April 2021