Archivierte Artikel: Die enthaltenen Informationen sind möglicherweise veraltet.

"Österreichs rettende Volksfront"

Erich Hackl über Romane von Kurt Neumann und Karl Wiesinger (Junge Welt, 10.2. 2012)

Funke der Hoffnung
Österreichs rettende Volksfront: Zwei große Romane über das, was möglich ­gewesen wäre
Von Erich Hackl

Überzeugt von der Notwendigkeit eines breiten Bündnisses gegen die Nazis: Der Kommunist, Schauspieler und Schriftsteller Kurt Neumann
Foto: jW-Archiv
Unter dem Titel »Verfreundete Nachbarn« hat die österreichische Diplomatin Gabriele Holzer vor Jahren, aber schon nach der sogenannten deutschen Vereinigung, ein Buch veröffentlicht, in dem sie die gegenseitige Wahrnehmung deutscher und österreichischer Intellektueller und ihren Blick auf die jeweils andere Gesellschaft zu ergründen suchte. Ärgerlicher Anlaß war ihr weniger die berüchtigte westdeutsche Überheblichkeit auf der einen, der tiefsitzende österreichische Minderwertigkeitskomplex auf der anderen Seite als die aus deren Zusammenspiel resultierende Einschätzung, daß die Aufarbeitung der Naziverbrechen in der Bundesrepublik Deutschland viel besser und tiefgreifender gelungen sei als in Österreich. Holzer widerlegte die Behauptung anhand der Statistik und mit vielen Details, ohne daß sie dem Fehler verfallen wäre, die politischen Versäumnisse und Gemeinheiten der Zweiten Republik kleinzureden. Dem Buch widerfuhr gerade das, was seine Autorin kritisch beschrieben hatte: In Deutschland wurde es kaum zur Kenntnis genommen und von Österreichs liberaler Öffentlichkeit als peinlicher Ausfluß eines ranzigen, rückwärtsgewandten Patriotismus abgetan.

Problematisch an dieser Art Rezeption ist weniger die deutsche Ignoranz gegenüber dem südlichen Nachbarn – Kleinstaaten leiden fast immer darunter, daß ihre mächtigen Nachbarn allzu sehr mit sich selbst beschäftigt sind und bei Bedarf dazu tendieren, von katastrophalen Zuständen im eigenen Land durch die Behauptung abzulenken, nebenan gehe es noch katastrophaler zu. Viel schlimmer erscheint mir, über den konkreten Fall hinaus, die unter österreichischen Künstlern und Intellektuellen hegemoniale Auffassung, daß die eigene Geschichte nichts bietet, an das sich anzuknüpfen lohnt. Man muß sie löschen oder sich ihrer in immer wiederkehrenden Tiraden schämen. Diejenigen, die dafür gekämpft hatten, ihr einen anderen Verlauf zu geben, werden tunlichst verschwiegen. Oder man glaubt, es habe sie gar nicht gegeben. Oder – dritte Variante – man weiß zwar von ihrer Existenz, entzieht ihnen aber jede Legitimität. Weil die meisten von ihnen sich zur Zeit der Stalin’schen Verbrechen zum Kommunismus bekannt haben. Oder weil sie innerhalb des eigenen Volkes eine Minderheit blieben, in ihrem Kampf dem Feind erlegen sind (den Geköpften wird gleichsam das Schafott als Schuld angerechnet).

Ein anderes Österreich

Besonders spitzfindig ist der unterschwellige Vorwurf der letzten Jahre, daß erst durch ihren opferreichen Einsatz eine Bestimmung der Moskauer Deklaration – anläßlich der Konferenz der drei alliierten Außenminister im Herbst 1943 – erfüllt worden sei, nämlich diejenige, daß bei Kriegsende darauf Bedacht genommen wird, wieviel Österreich selbst zu seiner Befreiung beigetragen hat. Eben diese Konferenz habe durch die Erwähnung Österreichs als erstes Land, das der typischen Angriffspolitik Hitlers zum Opfer gefallen ist, der Zweiten Republik das Fundament der behaupteten »Lebenslüge« geliefert, die erst durch die Auseinandersetzung um Kurt Waldheims Präsidentschaftskandidatur 1986, sein schwaches Gedächtnis betreffend den Kriegseinsatz in Griechenland und auf dem Balkan und seine Äußerung, er habe als Offizier der Deutschen Wehrmacht nur seine Pflicht erfüllt, entlarvt worden sei. Tatsächlich aber ist die Waldheim-Affäre eher deshalb von Bedeutung, weil sie einen Paradigmenwechsel darstellt: Von nun an dominierte der »Opfer-Diskurs«, dessen erstes Opfer – wie einer der wenigen geistreichen Historiker Österreichs, Winfried R. Garscha, vor ein paar Jahren geschrieben hat – der Widerstand und innerhalb dessen die Rolle der KPÖ werden sollte.

Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes zum Beispiel, eine einzigartige und lange Zeit hindurch verdienstvolle Einrichtung, beschäftigt sich hauptsächlich nicht mehr mit dem, was als seine eigentliche Aufgabe im Namen festgeschrieben ist. Von der moralischen Verpflichtung, den antifaschistischen Widerstand zu würdigen, der selbstredend und notgedrungen ein patrotischer war, fühlen sich auch die meisten universitären Institute entbunden, seit von den Widerstandskämpfern kaum noch jemand am Leben ist. Mehr Renomee als der Kampf um die Erinnerung verspricht die Beschäftigung mit der Erinnerungskultur, eine echte Afterwissenschaft der letzten Jahre, die man nicht weiter beachten müßte, wenn sie sich nicht anmaßen würde, ihre belanglosen Erkenntnisse in die Gestaltung von Gedenkstätten einfließen zu lassen. So wird zur Zeit die permanente Ausstellung über die österreichischen Häftlinge und ihren Überlebenskampf im Stammlager Auschwitz dahingehend umgestaltet, daß deren Schaubildern und Biographien die von österreichischen Naziverbrechern und Nazierfüllungsgehilfen zur Seite gestellt werden. Auf diese Weise wird der Widerstand der Wenigen nicht hervorgehoben, sondern aufgerechnet, relativiert und neutralisiert. Es war ein Anliegen der Überlebenden gewesen, die nazideutschen Vernichtungslager in erster Linie als Stätten der Gepeinigten wahrzunehmen. Nun sollen diese unter großem Aufwand auch wieder den Peinigern eingeräumt werden.

»Gefangen zwischen zwei Kriegen«

So sind es durchweg Einzelgänger, die in ihren historischen und literarischen Fundstücken Umrisse eines anderen Österreich sichtbar machen. Da dieses andere Österreich auf sozialistische und kommunistische Traditionen verweist, bleiben sie Außenseiter im akademischen und publizistischen Betrieb.

Einer von ihnen ist der steirische Historiker Heimo Halbrainer, der allein oder mit Gefährten aus dem von ihm gegründeten Verein Clio seit Jahren vergessenen, verschwiegenen oder unbekannten Geschichten über Verfolgung und Widerstand nachgeht. Nun legt er einen Roman seines engeren Landsmannes Kurt Neumann vor: »Gefangen zwischen zwei Kriegen«.

Die Erstveröffentlichung dieses großen Zeit- und Entwicklungsromans, gut siebzig Jahre nach seiner Niederschrift, gewährt auch Einblick in kuriose Begebenheiten. Die erste hat Neumann selbst überliefert, der 1902 in Judenburg geboren wurde, in Marburg/Drau und Graz zur Schule ging und sein Studium in Leipzig, Wien und Graz mit zwei akademischen Titeln – dem Diplomkaufmann für Welthandel und dem Doktor der Staatswissenschaften – abschloß. Nicht zuletzt deshalb, weil er mit seiner bürgerlichen Herkunftsklasse brach, wurde Neumann ins Exil getrieben, nach Frankreich, in die Tschechoslowakei, zuletzt in die Vereinigten Staaten, wo er sich als Gärtner verdingte, ehe er in Hollywood-Filmen Personen mimen durfte, die ihm besonders verhaßt waren: SS-Männer, Gestapo­agenten und Wehrmachtsoffiziere. »Ein Freund aus Paris hat gesagt, ich soll mich als Schauspieler versuchen, und er hat mich in die Produktion von Fritz Lang eingeführt, der den Film ›Hangmen Also Die‹ gemacht hat. Fritz Lang hat gesagt, sagen Sie was auf Deutsch. Und da ist mir nicht gleich was eingefallen. Da sagt Lang, der kann ja gar nicht Deutsch. Hat mein Freund gesagt, nein, der ist nur ein deutscher Schriftsteller.«

Die zweite Pointe zu diesem Buch liefert Neumanns Tochter Maria Ramas, die als vielseitige, vermutlich auch beherzte Künstlerin und Professorin an der University of California ausgewiesen ist: In ihrem Vorwort bringt sie es fertig, seine politischen Aktivitäten zwar eingehend zu schildern, dabei aber mit keinem Wort zu erwähnen, daß er über fünf Jahre lang, bis zur Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts im Herbst 1939, Mitglied der KPÖ gewesen war. So verständlich es ist, daß Kurt Neumann selbst in den diversen Lebensläufen, die er in den USA verfaßt hat, seine Zugehörigkeit zu einer kommunistischen Partei verschwiegen hat (sein Schwager Adrian Scott wurde in der McCarthy-Ära als einer der tapferen Hollywood Ten eingesperrt und mit Berufsverbot belegt), so gewaltig ist offenbar heute noch die antikommunistische Verfolgungswut, daß die Tochter Neumanns politisches Engagement mit einem wenig aussagekräftigen Zitat von Martin Luther King über Gerechtigkeit und Moral ins allgemein Menschliche verflacht.

Zum Glück sind wir, um mehr über den Verfasser dieses Romans zu erfahren, dessen Manuskript seine Tochter lange nach Neumanns Tod 1984 beim Ausräumen der elterlichen Garage gefunden hat, nicht auf das Vorwort angewiesen: Auf gut zwanzig Seiten entwirft Heimo Halbrainer, der den Roman gemeinsam mit dem Schriftsteller Christian Teissl herausgegeben hat, die Biographie dieses vergessenen Journalisten, der zum linken Flügel der steirischen Sozialdemokratie – der »Sozialistischen Jungfront« – gehört hatte, leitender Redakteur der in Graz erscheinenden Tageszeitung Arbeiterwille war und sich nach der Niederschlagung des Arbeiteraufstandes im Februar 1934 der schon im Jahr davor verbotenen Kommunistischen Partei anschloß. Bis Mai 1935 gab er gemeinsam mit Erwin Zucker-Schilling in Wien die illegale Rote Fahne heraus, das Zentralorgan der KPÖ, dann emigrierte er nach Paris, wo er unter dem Namen Harry Olten in dem von Willi Münzenberg initiierten Weltkomitee gegen Krieg und Faschismus tätig wurde. 1937 kehrte er nach Österreich zurück – zu einem Zeitpunkt, als das austrofaschistische Regime von Hitlerdeutschland immer stärker unter Druck gesetzt wurde. Sein publizistisches Wirken galt dem Bemühen, die Regierung Schuschnigg und ihr politisches Umfeld von der Notwendigkeit einer Verständigung mit den Arbeiterorganisationen zu überzeugen, als Voraussetzung für ein breites antinazistisches Bündnis, das zwar nicht die Unabhängigkeit Österreichs garantiert, dem Land und der Mehrheit seiner Bevölkerung aber zur Ehre gereicht hätte. Gemeinsam mit dem ehemaligen Sozialminister Josef Dobretsberger, einem Befürworter der Versöhnung mit der österreichischen Sozialdemokratie, bereitete er die Herausgabe der Neuen Österreichischen Blätter vor, die diese Politik propagieren sollten. »Den Vortag des Erscheinens der Zeitung habe ich mit dem Umbruch verbracht, und wie der Umbruch fertig war, bin ich zu einer Wohnung gegangen, wo ich mich mit Christlichsozialen treffen sollte. Aber da war niemand, und wie ich das Radio angedreht habe, habe ich gehört, daß die deutschen Truppen die Grenze überschritten haben.« Unter abenteuerlichen Umständen gelang es ihm, noch am Tag der Okkupation Österreichs, am 12. März 1938, in die Tschechoslowakei und zwei Monate später von dort nach Frankreich zu fliehen. In einem Internierungslager für »feindliche Ausländer« in der Bretagne schrieb er den nun vorliegenden, stark autobiographisch gefärbten Roman, der mit der Emigration seines Helden Peter Wendel nach Amerika endet, und mit einem angesichts der damaligen Umstände allzu zuversichtlich wirkenden Glauben »an die Welt, an den Menschen und an das, was wir tun«.

»Gefangen zwischen zwei Kriegen« ist, wie eingangs erwähnt, sowohl ein Zeit- als auch ein Bildungsroman. Er will erzählen, wie ein junger Mann entgegen der von Vater, Lehrer und Staatsgewalt oktroyierten Wertvorstellungen sein Gewissen stärkt, den sich dabei ergebenden Konflikten stellt, falsche Entscheidungen verwirft und zu einem selbstbestimmten, zugleich der Gemeinschaft nützlichen Leben findet. Er möchte aber auch den gesellschaftlichen Raum ausleuchten, in dem sich das individuelle Schicksal ereignet, also ein Bild der Verhältnisse liefern, das nicht nur anschaulich und glaubhaft, sondern auch parteilich sein soll, was zur Folge hat, daß dem Roman sein eigener Protagonist gewissermaßen im Weg steht: Weil es ja dessen Überzeugung zufolge in erster Linie um das Proletariat geht, um seine Not und seine Stärke und um die Absicht der herrschenden Klasse, die anstehende Revolution mit Gewalt, aber auch durch antisemitische, antislawische, antisozialistische Hetze zu verhindern.

Diesen Widerspruch zwischen zwei gegensätzlichen literarischen Modellen vermag Neumann nicht aufzulösen. Er erweist sich am schwärmerischen Tonfall, an der Neigung zum Pathos, an der Vorliebe, gesellschaftliche Ereignisse mit Naturerscheinungen zu vergleichen. Man merkt natürlich auch die Eile, mit der der Autor die Geschichte, im letzten Abschnitt fast gleichzeitig mit den beschriebenen Ereignissen, aufs Papier geworfen hat. Sie geht ihm zu nahe, als daß er sich in der Darstellung zurücknehmen, sein Alter ego aus der Distanz wahrnehmen könnte. Trotzdem vermag er den Leser zu erschüttern, durch die Fertigkeit, seelische Regungen nicht zu behaupten, sondern in Gesten und Gebärden deutlich zu machen, durch seine Ernsthaftigkeit, den Verzicht auf dumpfen Sarkasmus, die Beharrlichkeit, mit der er die Wandlungs- und Liebesfähigkeit scheinbar verstockter Menschen schildert. Durch das Aufblitzen von Freude auch, am Dasein und an der Stärke, nicht klein beizugeben. »Gefangen zwischen zwei Kriegen« enthält viele Passagen, die man besser hätte schreiben können, aber keine einzige, die überflüssig wäre. Und es geht Neumann, mit Walter Benjamin gesagt, um die höchste Aufgabe gesellschaftlich verbindlicher Literatur, nämlich darum, »im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen«.

»Achtunddreißig«
Das gilt auch für Karl Wiesingers Roman »Achtunddreißig«, der schon 1967 im Ostberliner Aufbau-Verlag – und in Wien in der KPÖ-eigenen Buchgemeinde – erschienen war. Ein Teil des Titels, »Jänner–Februar–März«, wurde bei der Neuausgabe einfach weggelassen. Das ist bedauerlich, aber viel weniger schlimm als die Tatsache, daß der Roman bis heute nicht zur Kenntnis genommen worden ist. Der Vorwurf der fehlenden oder verspäteten Geschichtsaufarbeitung in Österreich wird just von denen erhoben, die zu faul, zu dumm oder zu dreist sind, Belege wider ihre These zu akzeptieren. »Achtunddreißig« ist ein solcher Beleg, und darüber hinaus ein ungemein packender, vielschichtiger, erschütternder Roman.

Wiesinger, Linzer des Jahrgangs 1923, zog sich im Gefangenenhaus Wels, in das er unter der Naziherrschaft wegen »Wehrkraftzersetzung« gesperrt worden war, eine schwere Lungenkrankheit zu, an der er bis zu seinem Tod 1991 laborierte. Er war kein unbekannter, aber ein selbst von den eigenen Genossen sträflich unterschätzter Autor. Umso erfreulicher ist es, daß der Promedia-Verlag gleich drei Romane wiederaufgelegt hat, die mit Fug und Recht als Wiesingers Hauptwerk gelten dürfen und die wichtigsten Ereignisse der österreichischen Zeitgeschichte aufgreifen: den Februaraufstand 1934 und seine blutige Niederwerfung, den Abwehrkampf gegen den sogenannten Anschluß an das Deutsche Reich sowie den Massenstreik gegen das vierte Lohn-Preis-Abkommen im Oktober 1950 und die darauffolgende Repressionswelle, beispiellos in der Zweiten Republik.

Kann man den beiden anderen Romanen – »Standrecht« und »Der rosarote Straßenterror« – allenfalls kolportagehafte Elemente ankreiden, so ist »Achtunddreißig« ein literarisches Meisterwerk, das sein Versprechen einlöst, die Totalität dessen darzustellen, was in den Tagen und Wochen vor dem Einmarsch der deutschen Truppen in Österreich geschehen ist. Wiesinger wird der Dramatik der sich überstürzenden Ereignisse gerecht, indem er eine Vielzahl von Personen – erfundene oder verdichtete, aber auch historisch verbürgte wie führende Politiker und hohe Militärs – in Linz, Wien, Graz und auf dem Land handeln und miteinander reden läßt. Sie tauchen im Strudel der Ereignisse auf, werden knapp und anschaulich vorgestellt, agieren, verschwinden, um ein paar Dutzend Seiten später wieder zu erscheinen: solche mit absteigender, andere mit aufsteigender Karriere. Brutale, Abwartende, Ängstliche, Feige, Gleichgültige, Unnachgiebige, Kampfentschlossene. Und viele, die gleich mehrere solcher Eigenschaften in sich vereinen. Niemand unter ihnen, der einen kalt läßt. Den roten Faden durch dieses Universum eines von innen verratenen und von außen terrorisierten Kleinstaates bilden die Tagebuchaufzeichnungen Isaak Schneidewinds, eines jüdischen Händlers mit Scherzartikeln, keiner Partei oder Weltanschauung zugehörig, aber ausgestattet mit wachem Blick, mit großem Herzen und, leider auch, mit manchen Illusionen: Zu lange wird er in den Märztagen 1938 auf die schon geplante Ausreise nach Palästina warten. »Alles festhalten, was so geschieht, auch wenn es nichts Besonderes ist. Jede Zeit sollte ihre Berichterstatter haben«, notiert er gleich zu Beginn. Und einen Monat später, am 2. Februar 1938, nimmt er unvermittelt und scheinbar zusammenhanglos – eben noch hatte er sich um seine kranke Frau gesorgt, davor aus einer alten Chronik »Über das Mühlviertel« zitiert – die Zukunft vorweg: »Granaten detonieren, Gummiknüppel sausen auf Köpfe nieder, Tränen, Pferdekadaver, Blut auf Schlamm, Böller krepieren, alle bindet der Stacheldraht. Das Bild des Menschen verzeichnet sich, wird schmutzig und feist. Darunter Betonboden mit Quer­rillen, in denen Blut abfließen kann. Weichpappe dämpft die Schreie. Am Hakenkreuzmuster der Fliesen schlägt man sich die Knie wund.«

Volksfront gegen den Naziterror
Nicht nur in der Vehemenz ihrer Sprache und weil sie dieselbe entscheidende Etappe der nationalen Geschichte aus der gleichen Perspektive behandeln, sind sich Neumann und Wiesinger ähnlich. Im Mittelpunkt steht bei beiden das Bemühen um das Entstehen einer Volksfront wider den Naziterror, und der eine wie der andere macht klar, wie wenig dazu gefehlt hätte. Die Christlichsozialen, die Monarchisten, die katholischen Geistlichen, sie werden nicht als Feinde wahrgenommen, jedenfalls nicht a priori, sondern als Gegner, mit denen man sich einigen kann. Der Haß, mit dem sie »die Roten« lange verfolgt haben, wird ihnen durch die differenzierte literarische Darstellung gleichsam ausgetrieben.

Paradox ist, daß man die beiden Romane, besonders Wiesingers »Achtunddreißig«, Kapitel um Kapitel mit Hoffen und Bangen liest, obwohl der Ausgang ja bekannt ist. Ihre Größe besteht darin, daß man trotz dieses Wissens weiter hofft und sich am Ende wünscht, was damals schiefgegangen ist, erleben zu dürfen: in einer besseren Variante der Geschichte.

•Kurt Neumann: Gefangen zwischen zwei Kriegen. Clio, Graz 2012, 496 Seiten, 27 Euro
•Karl Wiesinger: Achtunddreißig. Promedia Verlag, Wien 2011, 365 Seiten, 29,90 Euro

Veröffentlicht: 10. Februar 2012

Archivierte Artikel: Die enthaltenen Informationen sind möglicherweise veraltet.