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"Mit Marx- und Engelszunge"

"Presse" über einen Tag mit Ernest Kaltenegger

Kaltenegger:
Mit Marx und Engelszunge

VON ERNST SITTINGER (Die Presse) 15.09.2005

Fortsetzung des Wahlkampfs mit anderen Mitteln.

GRAZ. Im Grazer Rathaus ist wenig Betrieb. Nur gelegentlich huschen Menschen ehrfurchtsvoll durch die Gänge. Fast alle haben dasselbe Ziel: zweiter Stock, Zimmer 236. Für Haftentlassene und Mindestrentner, Alleinerzieherinnen und Untermieter ist diese weiße Doppeltür das Tor zur Hoffnung.

Dahinter sitzt Ernest Kaltenegger an einem Besprechungstisch, den Taschenrechner in der Hand. Bedürftigkeit ist sein Thema. Der KPÖ-Stadtrat und Landtagskandidat setzt auch mitten im heftigsten Wahlkampf auf "business as usual". Als mildtätig lächelnder Beschwerdeonkel hört er sich die Nöte der Bürger an. Warum sollte er sich ändern? Die Stimmen fliegen ihm von selbst zu, gerade weil er anders als die anderen ist. Wie ein Arzt lässt Kaltenegger die Parteien vortreten, legt bei jedem "Neukunden" ganz altmodisch eine Karteikarte an und notiert darauf, welche Wohltat er dem jeweiligen Bittsteller angedeihen lässt. Bezahlt wird aus dem Stadtratsbezug: 1.950 € verwendet Kaltenegger für sich, die restlichen 2.700 € gehen freihändig an die Armen.

"Sie haben heuer schon einmal Geld gekriegt, am 14. April", sagt er streng zum jungen Herrn W. Der wäre nicht gekommen, wenn es nicht "so dringend wär'": Ob Kaltenegger etwas Geld für Obst und Gemüse habe? "Sagen Sie, was Sie brauchen, und wir kaufen es ein", schlägt der Politiker vor. Da hat es Herr W. plötzlich eilig: "Äpfel kann ich mir auch bei der Caritas holen", sagt er enttäuscht.

Kaltenegger schmunzelt: "Für einen guten Schmäh bin ich bereit, etwas zu geben. Aber dieser Schmäh war nicht gut." So geht es den ganzen Tag dahin: Ein Vater will sein Kind besuchen und braucht Geld für die Fahrkarte. Ein beleibter Herr ist weniger bescheiden: Die Wiederaufnahme seines Strafverfahrens werde 10.000 Euro kosten. Kaltenegger: "Des is eine Nummer zu groß." Konter des Bittstellers: "5.000 sind auch geholfen." Zwecklos. Auch die Künstlerin, die für ihren Beruf ganz dringend "ein Haus im Grünen" braucht, muss sich mit einem Gratis-Inserat im KP-Organ "Stadtblatt" begnügen.

Mit der Routine eines Landpfarrers scheidet Kaltenegger die echten Notfälle von den vorgetäuschten, nimmt Anträge für Gemeindewohnungen entgegen, teilt Lebensmittelgutscheine aus und rät bedrängten Mietern, "nur ja nichts zu unterschreiben". Echte Notfälle - da ist der Häftling, der diesen Freitag entlassen wird und noch keine Unterkunft hat. Oder die Frau eines Alkoholikers, die nicht ins Frauenhaus gehen kann, weil ihr behinderter Sohn dorthin nicht mit darf. Wunder werden hier keine gewirkt, aber sehr oft helfen schon die passenden Worte. Zumindest für den Augenblick.

Das Ein-Mann-System Kaltenegger: unbürokratisch, unideologisch, unbeirrbar. Ist es Aufgabe des Grazer Wohnungsstadtrates, höchstpersönlich Anzeigen zu texten und Formulare zu kopieren? Kaltenegger ist das wurscht, er spielt das politische Spiel nach seinen eigenen Regeln. Und auch mit der KPÖ hat das alles wenig zu tun. Kein Revoluzzer ist hier am Werk, sondern ein biederer Gewohnheitsmensch. An seinem kleinbürgerlichen Habitus zerbrechen die anderen Parteien: Die Warnungen vor "Kolchose und Klassenkampf" (so der steirische VP-Geschäftsführer Andreas Schnider) gehen ins Leere.

Wer sind die übrigen KPÖ-Kandidaten auf der Landtagsliste? Eingefleischte Kommunisten wie der Chemie-Professor Walter Kosmus sind die Ausnahme. Der Historiker Gerhard Dienes, lange Jahre Chef des Grazer Stadtmuseums, wurde eher der SPÖ zugerechnet. Der Student Philipp Funovits war Grazer ÖH-Vorsitzender - aber nicht für den Kommunistischen Studentenverband, sondern für die Fachschaftsliste. Kaltenegger bleibt auch beim Postenverteilen ein eiserner Pragmatiker: "Ich will, dass unsere Leute im Landtag nicht über den Tisch gezogen werden."

16. September 2005