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Marxistischer Historiker Eric Hobsbawm verstorben

Im Alter von 95 Jahren - War Mitglied der KP Großbritanniens

Der bedeutende marxistische Historiker Eric Hobsbawm ist 95jährig verstorben. Er wurde 1917 geboren, seine Schulzeit verbrachte er zuerst in Wien und wurde nach der Übersiedlung nach Berlin als Gymnasiast Mitglied des Sozialistischen Schülerbundes, einer Unterorganisation der KPD. 1936 wurde er Mitglied der Kommunistischen Partei Großbritanniens (CPGB). Von 1946 bis 1956 gehörte er der Communist Party Historians Group an, die nach der Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes zerfiel. Er blieb als einer ihrer bedeutendsten Intellektuellen Mitglied der britischen kommunistischen Partei. Im April 2012 sagte er, dass man sich an ihn "als jemanden erinnern sollte, der nicht nur die (rote) Fahne wehen liess, sondern auch an jemanden, der zeigte, dass
man, wenn man diese Fahne wehen liess, auch etwas erreichen konnte und wenn das nur gute und lesbare Bücher waren".

In einem Interview mit der Illustrierten stern nahm er 2009 zur aktuellen Weltlage stellung:

Herr Hobsbawm, Sie haben das Verschwinden von vielen Systemen erlebt: den Untergang der Weimarer Republik, die Zerschlagung des Faschismus, das Absterben der DDR, den Kollaps des Kommunismus und nun …
Wenn Sie das so aufzählen, merke ich, dass ich fast so etwas wie ein Museumsobjekt bin. Als ich ein Kind war, war der König von England auch noch der Kaiser von Indien, die Welt bestand zum großen Teil aus Monarchien, Kaiser- und Kolonialreichen. Und fast alle sind flöten gegangen.

Und nun erleben Sie vielleicht auch noch das: das Ende des Kapitalismus.
Nein, ich glaube nicht, dass ich dieses Ende, über das ich mich freuen würde, noch erlebe. Als Historiker weiß ich aber, dass es keine Dauerlösungen gibt. Auch der Kapitalismus, egal, wie zäh er ist und wie sehr er auch in den Köpfen der Menschen als etwas Unabänderliches erscheint, er wird verschwinden, früher oder später.

Klar, dass Sie das so sehen müssen.
Wieso denn?

Sie als alter Marxist, der hier in London in Rufweite vom Grab von Karl Marx lebt.

Spotten Sie nicht. Dass ich Marxist geworden bin, liegt an meinen persönlichen Erfahrungen in den 30er Jahren, in der Großen Depression.

Sie lebten damals in Berlin, Sie wissen also, was das heißt: Krise.

Ich habe als junger Mensch zwischen Schule und Straßenkämpfen mitbekommen, was es bedeutet, wenn Arbeitslosigkeit sich durch die Gesellschaft frisst. Das ist wie eine alles zersetzende Krankheit. Die Angst kroch in das Bürgertum. Mir war damals klar, dass wir auf der "Titanic" sind und dass wir bald den Eisberg rammen würden. Das einzig Ungewisse war, was passieren würde, wenn es so weit ist. Wer würde ein neues Schiff bereitstellen?

Sie wussten, dass ein System zu Ende gehen würde?

Ja. Ich lebte in einer Welt, an deren Fortbestand keiner mehr glaubte. Eigentlich war ich literarisch interessiert, ein Schöngeist eben. Aber das war unmöglich 1931/32 in Berlin, man wurde politisiert, ich wurde Mitglied des Sozialistischen Schülerbunds. Die Krise war wie ein Vulkan, der politische Eruptionen hervorrief. Vor der letzten Reichstagswahl habe ich noch Flugblätter verteilt, es war gefährlich, aber für mich als Jugendlichen war da auch so ein Element von Indianerspielen, wie bei Karl May, dabei. Am 25. Januar 1933 organisierte die KPD ihre letzte legale Demonstration, einen Massenmarsch durch die dämmrigen Straßen Berlins zum Karl-Liebknecht-Haus. Wir sangen Lieder wie "Der kleine Trompeter", auch ein Lied über die Bauernkriege, "Wir sind des Geyers schwarzer Haufen", die "Internationale", es war da ein kollektives Hochgefühl, Massenekstase trotz Zukunftsangst.

Als Hitler an die Macht kam, da …
Als er am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt wurde, es war ein kalter Tag, auf dem Heimweg von der Schule mit meiner Schwester las ich die Schlagzeilen, ich kann sie immer noch, wie im Traum, vor mir sehen. Ja, ich habe es gespürt: Das ist ein historischer Wendepunkt.

Und jetzt? Stehen wir wieder an einem Wendepunkt?
Ich denke, ja. Der 15. September 2008, der Tag, an dem die Lehman-Bank zusammenbrach, wird den Lauf der Geschichte mehr verändern als der 11. September 2001, als die Türme des World Trade Centers zusammenbrachen.

Riskieren Sie doch mal einen Blick in die Zukunft.
Wir Historiker sind keine Propheten. Ich kann nur sagen: Wir kommen wohl noch nicht an den Jüngsten Tag. Aber Teile der Welt können untergehen.

Warum bloß?
Zunächst mal: Mir, der ich die Große Depression miterlebt habe, fällt es immer noch unfassbar schwer zu verstehen, wieso die Ideologen der entfesselten Marktwirtschaft, deren Vorgänger schon einmal so eine fürchterliche Katastrophe, also Armut, Elend, Arbeitslosigkeit, letztendlich auch den Weltkrieg mitverursacht haben, in den späten Siebzigern, den 80er, 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wieder das Sagen haben konnten.

Warum? Wie erklären Sie sich das?
Der Mensch hat ein unglaublich kurzes Gedächtnis. Wir Historiker schreiben die Verbrechen und den Wahnsinn der Menschheit auf, wir erinnern an das, was viele Menschen vergessen wollen. Aber fast nichts wird aus der Geschichte gelernt. Das rächt sich nun. In den letzten 30, 40 Jahren wurde eine rationale Analyse des Kapitalismus systematisch verweigert.

Wir haben jede Menge Wirtschaftswissenschaftler, Experten, die den ganzen Tag nichts anderes tun.
Wir haben vor allem Theologen des Marktes mit einem kindlichkindischen Glauben, dass der Markt alles von allein regeln wird. Sie verschließen die Augen vor der Wirklichkeit, das macht sie so gefährlich für die Menschheit. In den vergangenen Jahren weigerten sie sich einfach, die Krisen, die sich immer mehr aufbauten, überhaupt wahrzunehmen. Verblendete. Ignoranten.

Manche in den USA sprachen - ganz euphorisiert - vom Ende der Geschichte. Gab es denn gar keinen Grund für diesen Optimismus?
Nein. 40 Prozent der Weltbevölkerung leben von einem Dollar am Tag. Das ist doch keine Basis für eine stabile Gesellschaftsordnung. Von wegen Ende der Geschichte. Die Krisen wurden am Rand immer größer und immer dramatischer. Bei uns im Zentrum kamen sie gelegentlich als Börsenkräche an, die bald wieder repariert waren, das Spiel konnte weitergehen.

Das Spiel ist aus.
Ja, das kann man wohl so sagen. Diese Krise hat eine völlig neue Qualität. Das Einzige, an dem sich die Politiker ein wenig orientieren können, ist die Zeit zwischen 1929 und 1933.

Nun haben wir, sagt die "New York Times", sogar eine Krise, die womöglich dramatischer ist als die der Großen Depression. Und diese Depression damals sei erst durch den Weltkrieg bereinigt worden.
Roosevelts heute so gefeierter New Deal hat die Krise tatsächlich nicht beendet, er verhinderte allenfalls politische und soziale Aufstände in den USA. Niemand bekam in den 1930er Jahren die Krise wirklich in den Griff. Und heute - obwohl sich Geschichte nicht wiederholt - ist es ähnlich dramatisch wie damals, nein schlimmer: Keine Regierung weiß, was sie tun soll.

Wie bitte? US-Präsident Barack Obama pumpt Billionen Dollar in die Wirtschaft, Angela Merkel und die Bundesregierung legen milliardenschwere Konjunkturprogramme auf, auf dem G-20-Gipfel haben sie erklärt: Wir halten zusammen! Wir wissen, was wir tun!

Haben Sie das Gefühl, die wissen wirklich, was sie tun? Stecken da Konzepte, Analysen dahinter? Nein, aufgeschreckt wie Krankenschwestern eilen die Politiker ans Bett des Kapitalismus und tun so, als ob sie etwas täten.

Sie wissen nicht, wohin sie gehen?
Ja, und das macht die Sache so schrecklich ungemütlich: Sie wissen einfach nicht, was sie tun sollen! Was wir im Augenblick erleben, ist ja etwas, was es nach der radikalen Moraltheologie des Marktes gar nicht geben kann und darf, es ist also etwas, was das Denkvermögen der Akteure sprengt. Wie ein blinder Mann, der durch ein Labyrinth zu gehen versucht, klopfen sie mit verschiedenen Stöcken die Wände ab, ganz verzweifelt, und sie hoffen, dass sie so irgendwann den Ausgang finden. Aber ihre Werkzeuge funktionieren nicht.

Der frühere französische Premierminister Laurent Fabius fürchtet "soziale Revolten", und die, meint die SPD-Präsidentschaftskandidatin Gesine Schwan, könnten zu einer Gefahr für die Demokratie werden.

Alles ist möglich. Inflation, Deflation, Hyperinflation. Wie reagieren die Menschen, wenn alle Sicherheiten verschwinden, sie aus ihrem Leben hinausgeworfen, ihre Lebensentwürfe brutal zerstört werden? Meine geschichtliche Erfahrung sagt mir, dass wir uns - ich kann das nicht ausschließen - auf eine Tragödie zubewegen. Es wird Blut fließen, mehr als das, viel Blut, das Leid der Menschen wird zunehmen, auch die Zahl der Flüchtlinge. Und noch etwas möchte ich nicht ausschließen: einen Krieg, der dann zum Weltkrieg werden würde - zwischen den USA und China.

Das ist doch Unsinn.
Nein.

Okay, das ist doch einfach absurd, dieser Gedanke!

Nein. Im Augenblick, das gebe ich gern zu, erscheint dieses Szenario sehr unwahrscheinlich. Im Augenblick scheinen sich China und die USA zu ergänzen, ja sich sogar zu stützen, sie erscheinen geradezu komplementär. Doch im pazifischen wie im asiatischen Raum wird ihr Konkurrenzkampf immer härter. Es gibt keine Basis für eine dauerhafte Freundschaft zwischen diesen beiden Großmächten.

text übernommen von wikipedia aus .stern Ausgabe 20/2009

Veröffentlicht: 1. Oktober 2012

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