„Im nächsten Leben werde ich ein Mann!“

Ani­ta Stras­sers Se­rie "Gleich­be­rech­ti­gung im Jahr 2020?

Diesen oder einen sinngemäßen Satz hörten viele kleine Mädchen meiner Generation regelmäßig von ihren Tanten, Müttern und Großmüttern. Als Kind verstand ich nicht, warum sie lieber Jungs sein wollten. Als ich das erste Mal über diesen Spruch nachdachte, war ich gerade in einem Alter, in dem ich die meisten Jungs ziemlich blöd fand. Als Erwachsene entschied ich mich, ein freies, selbstbestimmtes Leben abseits von traditionellen Rollenmustern zu leben. In meiner kleinen privaten Filterblase von Gleichgesinnten hatte ich diesen Ausspruch schon fast wieder vergessen, hätten mich vor einigen Wochen nicht die Kursteilnehmerinnen einer Fortbildung, die ich besuchte, ins feministische Mittelalter zurückversetzt. 
Und da war er wieder, dieser Satz, ausgesprochen von einer total erschöpften, resignierten jungen Mutter, die nicht mehr wusste, welche Arbeit sie zuerst erledigen sollte. - Der Archetyp der aufopferungsvollen Mustermutter.
 

Frau Mustermann
Frau Mustermutter ist zwar am Papier mit dem Vater ihrer zwei Kinder verheiratet, aber agiert im Alltag quasi als Alleinerzieherin. Nicht weil sie es will, sondern weil es ihr Umfeld so eingerichtet hat und dies als den „natürlichen Lauf der Dinge“ empfindet. Neben einem schlecht bezahlten 20-Stunden-Job, einer Fortbildung und der Betreuung von zwei Kindern unter 10 Jahren kümmert sich diese Frau alleine um Haushalt und Garten und betüdelt zusätzlich ihren Ehemann mit frisch gekochtem Essen und gebügelten Hemden und nimmt ihm organisatorische Dinge ab. Mit dieser Situation ist sie nicht alleine. Gut zwei Drittel der Frauen, die mit mir gemeinsam am Kurs teilnahmen, leben in einer vergleichbaren Konstellation: Frauen aus ländlichen Gebieten zwischen 25 und 45 Jahren, ein bis vier Kinder, verheiratet, bezahlte Teilzeitarbeit und unbezahlte Reproduktionsarbeit. Sie klagten über Müdigkeit, schlechtes Konzentrationsvermögen und dergleichen. Späteres Kommen und früheres Gehen aufgrund von Betreuungspflichten war an der Tagesordnung. Eine der Frauen konnte an 2 von 5 Tagen gar nicht zur Fortbildung kommen, da sie keinen Babysitter auftreiben konnte. Eine andere brachte ihr Kind mit in den Seminarraum.
 

Konditionierung mit dem „Will to please“

Diese Frauen werden nicht von ihren Ehemännern unterdrückt, denn das ist gar nicht notwendig. Sie machen genau das was sie von ihren Müttern gelernt haben und diese von den Frauen vor ihnen. Durch Lob und Anerkennung für „weibliche“ Interessen und Tätigkeiten und andererseits negativer Stimmung oder gar Strafen für „unweibliches“ Verhalten wurden diese Frauen bereits als kleine Mädchen perfekt auf ihre Zukunft als aufopferungsvolle Supermamas konditioniert.
Kleine Kinder vertrauen darauf, dass jede Entscheidung, die ihre Eltern treffen, die beste für sie ist. Bemerken kleine Mädchen Ungerechtigkeiten, beispielsweise in Bezug auf ungleiche Behandlung gegenüber ihren Brüdern, sind diese negativen Empfindungen nicht mit diesem Vertrauen in Einklang zu bringen. Die Folge ist, dass sie ihre eigenen Wahrnehmungen in Frage stellen und diesen auch zukünftig in ähnlichen Situationen misstrauen. Sie übernehmen die Haltung der Eltern und hören auf, selbst nachzudenken. Auch als Erwachsene fragen sich diese Frauen selten, ob anerzogene Verhaltensweisen, Handlungen und Entscheidungen wirklich zu ihrem persönlichen Vorteil führen oder ob vielmehr nur andere von ihrer Opferbereitschaft profitieren, während für sie selbst die Nachteile gravierend überwiegen.
Natürlich sind diese Mustermütter mehrheitlich mit Männern zusammen, die als Kind von der eigenen Mustermutter vermittelt bekamen, dass sie sich nicht um Haushalt und Kinder zu kümmern brauchen und sich alles wie durch Zauberhand von selbst erledigt.
 

Gesellschaftliche Erwartungshaltung versus Gleichberechtigung

Der Ehemann von Frau Mustermutter weiß noch nicht einmal, dass hier etwas unfair läuft. Schließlich hatte sie selbst die Idee, ihren gut bezahlten Job mit fallweisen Nachtdiensten gegen eine wesentlich schlechter bezahlte angelernte Tätigkeit zu tauschen und in diesem Job nur noch halbtags zu arbeiten, damit mehr Zeit für die unbezahlte Reproduktionsarbeit (sie würde Familie sagen) bleibt und er sich ungestört auf seine Karriere konzentrieren kann.
Frau Mustermutter tat mir leid. Lösungsorientiert, wie ich bin, fragte ich also ganz gezielt nach, ob denn nicht andere Familienmitglieder auch Aufgaben übernehmen könnten. Zum Antworten kam sie nicht, denn andere Kursteilnehmerinnen echauffierten sich lauthals über meine „merkwürdigen“ Ideen, dass ein Mann beispielsweise kochen solle oder die Wäsche waschen. Die Emotionen gingen hoch. Um jeden Preis musste vermieden werden, dass Frau Mustermutter durch das Gespräch mit mir dieses einzementierte Rollenbild in Frage stellen könnte. Da war ich also – gefühlt – im Jahr 1950.
 

Ausschluss aus dem Klub (der Mustermütter)

Beginnen einzelne Frauen ihre Situation und ihr gelebtes Rollenbild in Frage zu stellen, werden sie sofort von anderen Mustermüttern daran gehindert. Alle sitzen im gleichen Boot, keine darf ausbrechen und es sich leichter machen als die anderen. Wagt es eine Mutter dennoch, sich dem frauenfeindlichen Rollenverständnis zu entziehen, wird sie durch soziale Isolation vom Klub der Mustermütter ausgeschlossen. Über diese Frauen wird getratscht, sie seien egoistisch, während ihre Kinder und ihr Ehemann geradezu bemitleidet werden. Dazu wird ihre Kompetenz als Partnerin und Mutter bei jeder Gelegenheit in Frage gestellt. Dass eine Frau wie ich, die Feminismus tatsächlich lebt, eine Gefahr für ihre doch nicht so heile Welt darstellt, ist selbstredend.
Zig Ausreden prasselten auf mich ein, warum Männer Hausarbeit, Kindererziehung und Pflegetätigkeiten angeblich nicht auf die Reihe bekämen oder wie arm die Kinder wären. Gefragt wurde auch, was der Mann / die Schwiegereltern / die Nachbarn sagen würden. Es hörte sich für mich so an, als wollten mir diese Frauen weismachen das männliche Y-Chromosom führe zu einer Art sozialen und praktischen Beeinträchtigung, während die Fähigkeit zu Haus- und Pflegearbeit wohl am zweiten X-Chromosom lokalisiert sein müsse.
 

Kognitive Dissonanz
Darin, dass sie im nächsten Leben ein Mann sein wollten, war sich die Mehrheit einig, jedoch wähnte sich keine von ihnen tatsächlich im falschen Körper. Genau wie einst für meine Großmutter war für die Mustermütter in meinem Kurs das Leben als Frau so fordernd, entbehrungsreich und frustrierend, dass sie dennoch bereit waren ihr Geschlecht, das sie prinzipiell mochten, zu wechseln, um das leichtere Leben eines Mannes führen zu können.
Eine derartige Gefühlsverwirrung hat in der Sozialpsychologie sogar einen Namen: Sie nennt sich „Kognitive Dissonanz“. Sie beschreibt den negativen Gefühlszustand, den wir verspüren, wenn wir nicht miteinander vereinbare Wahrnehmungen, Gedanken, Meinungen, Wünsche, Einstellungen oder Absichten haben.
 

„Im nächsten Leben werde ich ein Mann!“
Für mich wirkt dieser Spruch wie blanker Hohn den mutigen Vorreiterinnen gegenüber, die für feministische Forderungen in psychiatrische Anstalten gesteckt, kriminalisiert und in Gefängnisse gesperrt wurden und vielfach mit dem Leben dafür bezahlten.
Im EU-Raum haben wir nahezu eine gesetzlich verankerte Gleichberechtigung erreicht, aber die wenigsten Frauen haben gelernt, diese im Alltag auch aktiv einzufordern.

Liebe Frauen! Ihr müsst nicht auf das nächste Leben warten, sondern könnt schon jetzt eure Lebensrealität verändern. Überwindet diese frühkindliche Gehirnwäsche und nehmt euren Töchtern nicht die Freude daran, eine Frau zu sein.

Veröffentlicht: 10. Juli 2020