"Der rote Samariter"
Kaltenegger-Porträt im "Kurier" (19. 9. 05)
Der rote Samariter
Den Weg zum Spielplatz säumen Sperrmüll und gebrauchte Injektionsnadeln; aus den Altpapier-Containern quellen leere Bierdosen, der fleckige Putz der umliegenden Wohnhäuser hat faustgroße Löcher: Willkommen in der Weißenhofgasse Nummer 4 in Graz.
"Muchitsch-Block" heißt dieses trostlose Eck der steirischen Landeshauptstadt. Ein Gemeindebau, in dem die Menschen gewöhnt sind, ihre Wohnungen mit Öl-Öfen im Schlafzimmer zu heizen. Hier findet man nichts dabei, am Gang aufs Klo zu gehen oder im Freien zu duschen. – Sommer wie Winter.
Wer verstehen will, warum Ernest Kaltenegger bei der Gemeinderatswahl 2003 rund 21 Prozent der Grazer Stimmen bekommen hat, wer begreifen will, warum Umfragen zur Landtagswahl dem Kommunisten bis zu zehn Prozent und damit einen Landesrat prophezeien, der muss hierher kommen, in die Weißenhofgasse Nummer 4. "Der Kaltenegger is a Engel. Wennst a Problem host, zum Beispiel wenn s’ di delogieren wulln, dann gehst in sei Sprechstund’, und er hülft da. Er is afoch a anständiger Mensch", sagt Herr Sabathi.
Herr Sabathi wohnt im Muchitsch-Block, regelmäßig schaut Kaltenegger bei ihm vorbei. Stück für Stück lässt der Wohnbau-Stadtrat die hier im Eigentum der Gemeinde stehenden Substandardwohnungen sanieren. Die meisten im Block kennen ihn, viele sprechen ihn an, sehen in ihm keinen Politiker, sondern einen Ombudsmann. Doch auch unter vielen Bürgerlichen hat er so etwas wie Kultstatus.
Notruf
Kalteneggers überraschende Wahl- und Umfrage-Ergebnisse (österreichweit ist die KPÖ eine 0,56-Prozent-Partei, Anm.) sind das Ergebnis einer mehr als zehnjährigen politischen Arbeit: Seit Anfang der 90er-Jahre engagiert sich der 55-Jährige in der Mieterhilfe. 1992 schuf er den "Mieter-Notruf", gründete 1998 einen Unterstützungsfonds. Das Konzept ist einfach: Kaltenegger verzichtet auf 60 Prozent der Stadtratsgage und hilft Bedürftigen. Sie bekommen Mietzuschüsse oder Kosten für Reparaturen, Heizung und Strom ersetzt. Allein 2004 hat der Fonds an 363 Menschen 64.370 Euro ausgeschüttet.
Dass Kaltenegger Kommunist ist und beispielsweise der EU ablehnend gegenübersteht, stört wenige. "Er gilt als unpolitischer Sympathieträger, der die ideologische Haltung der Partei weichzeichnet", sagt Politologe Peter Hajek vom OGM-Institut. "Er lebt persönlich vor, was er fordert", bilanzierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung.
Skoda und Franzbranntwein
Politische Gegner werfen dem roten Samariter vor, er betreibe Blockade-Politik, interessiere sich im Stadtrat – bis auf den Wohnbau – für kein Thema. Seit Kaltenegger für die Macht der ÖVP eine echte Gefahr ist, wird vor einer Koalition der KPÖ mit der SPÖ gewarnt. "Hinter der Maske Kaltenegger steckt ein marxistisches Gesicht", meint ÖVP-Generalsekretär Reinhold Lopatka.
Wahr ist, dass Kaltenegger seinen ideologischen Hintergrund nicht offensiv bewirbt. Dass Kaltenegger in seiner sozialen Gesinnung authentisch ist, wird selbst beim politischen Gegner nicht bestritten. Er fährt einen weinroten Skoda, benutzt die Straßenbahn, verwendet Franzbranntwein zum Einreiben und verzichtet ganz und gar auf radikales Vokabular.
Stattdessen lächelt er, meistens zumindest. Denn in manchen Wohnungen des Muchitsch-Blocks vergeht ihm immer noch das Lachen.
Artikel vom 18.09.2005 |KURIER (Printausgabe) |Christian Böhmer
Veröffentlicht: 19. September 2005