Der österreichische Wandel

Das Ende der Verstaatlichten hat Österreich gewandelt

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Die Soziologen Christoph Hermann, Roland Atzmüller und andere von der FORBA-Forschung haben diesen Wandel in Österreich in ihrem Buch „Die Dynamik des österreichischen Modells“ aufgearbeitet. Dieses Buch zeigt unter anderem auch, dass in diesem kleinen konsensorientierten und wirtschaftlich erfolgreichen Land in den letzten drei Jahrzehnten unter der Oberfläche zum Teil dramatische Veränderungen stattgefunden haben, auf die hier nur für einen Artikel, mit kurzen Zitaten betreffend zur „Privatisierung“, eingegangen werden kann.


Während der Nachkriegsperiode spielte der Staat in Österreich eine wichtige Rolle in der Organisation der wirtschaftlichen Entwicklung.
Das öffentliche Eigentum an der verstaatlichen Industrie und den Banken basierte auf zwei Verstaatlichtengesetzen, die 1946 und 1947 verabschiedet wurden. Zu dieser Zeit gab es einen breiten politischen Konsens über die Verstaatlichung. Auch weil sie befürchteten, dass die Betriebe im deutschen Eigentum von den Alliierten als Kompensation für die Kriegsausgaben konfisziert werden. (Christoph Hermann, Roland Atzmüller, Hg., „die Dynamik des österreichischen Modells“, Brüche und Kontinuitäten im Beschäftigungs- und Sozialsystem, FORBA-Forschung, edition sigma, 2009, S. 21).


Bis in die 1970 Jahre gehörte dem Staat fast ein Drittel des Aktienbesitzes, darunter Firmen im Bergbau, in der Grundstoffindustrie und im Bankensektor.
Etwa ein Viertel des österreichischen Bruttosozialprodukts wurde von staatlichen Betrieben erzeugt. (Beer et al. 1991)
Die Endfertigung war offiziell aus dem Verstaatlichtengesetz ausgenommen.
Staatliche Banken hielten Anteile an einer Vielzahl von Industrieunternehmen. Sie schufen damit einen zweiten Kreis indirekter verstaatlichter Unternehmen. Darunter befanden sich auch einige Unternehmen mit Endfertigungen.
Noch 1985 war die verstaatlichte Industrie insgesamt für ungefähr ein Viertel des Umsatzes und fast 17% der Beschäftigungen im industriellen Sektor verantwortlich (Butschek 2004, S. 177).
Der staatliche Sektor schuf Beschäftigung und subventionierte den privaten Sektor, indem Grundstoffe zu Preisen geliefert wurden, die unter den Weltmarktpreisen lagen. Die staatlichen Banken stellten den privaten Unternehmen günstige Kredite zur Verfügung.
Der österreichische Staat agierte als „Unternehmerstaat“.
Die verstaatlichte Industrie diente im Interesse des privaten Sektors. Sie konkurrierte nicht mit ihnen.


Österreich hatte auch ein großes Segment von kleinen und mittleren Unternehmen. Diese zeichneten sich, im Gegensatz zu den verstaatlichten Betrieben, durch niedrige Löhne und hohe Fluktuationsraten bei den Beschäftigten und wiederholte Phasen von Arbeitslosigkeit, weniger günstige Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen aus. (Christoph Hermann, Roland Atzmüller, Hg., S. 23).
Nach der von Gosta Esping-Andersen (1990) entworfenen Wohlfahrtsstaatstypologie entwickelte Österreich nach 1945 einen konservativen Wohlfahrtsstaat.
Nach dem Abschluss des Wiederaufbaus Mitte der 1950er Jahre wurde ein umfassendes Versicherungssystem etabliert. Es schütze die Bürger/innen vor Risiken wie Krankheit, Alter, Arbeitslosigkeit und Invalidität. In den 1960er und 1970er Jahren wurden die staatlichen Leistungen in dieser Hinsicht quantitativ und qualitativ kontinuierlich ausgeweitet. (Talos 2005a).
Der Anspruch auf Leistungen und in manchen Fällen auch die Höhe der Leistungen wurden durch Beitragszahlungen bestimmt, die von Lohneinkommen abhingen. Die Bundesregierung stellte zusätzliche steuerfinanzierte Mittel zur Verfügung. Trotzdem bestanden systematische Benachteiligungen für Bürger/innen mit niedrigem Einkommen oder mit Unterbrechungen in ihren Erwerbskarrieren. (Christoph Hermann, Roland Atzmüller, Hg., S. 24)
Zum Teil wurden wohlfahrtsstaatliche Leistungen auch dazu eingesetzt, die sozialen Folgen des ökonomischen Wandels abzufedern. Arbeitslosenzahlen wurden niedrig gehalten, indem relativ generös Frühpensionen gewährt wurden – vor allem im öffentlichen Sektor (Unger 2001).


Die Wirtschaftspolitik erwies sich als besonders geeignet, das Land durch die ökonomisch eher stürmische Zeit der 1970er und der ersten Hälfte der 1980er Jahre zu navigieren. In Österreich kam die ökonomische Krise erst Mitte der 1980er Jahren voll zum Tragen, die in der Folge zu einem rasanten Anstieg der Arbeitslosigkeit führte. (Christoph Hermann, Roland Atzmüller, Hg., S. 25).
Mitte der 1980er Jahre führte die Bewahrung von Beschäftigung durch die verstaatlichte Industrie zu steigenden Verlusten, die auf das staatliche Budget drückten, während Frühpensionierungen und die steigende Arbeitslosigkeit das Sozialversicherungssystem belasteten. Externe Kräfte, die Druck auf das Modell ausübten, waren die Kehrtwende in der internationalen Zinspolitik und der rasante Anstieg der Zinsrate in den frühen 1980er Jahren.
Auch war Österreich stark vom Außenhandel mit Deutschland und anderen EG-Nachbarstaaten abhängig und riskierte, durch das Mitte der 1980er Jahren gestartete Projekt des gemeinsamen Marktes ausgeschlossen zu werden. (Christoph Hermann, Roland Atzmüller, Hg.S. 26)
Die Vorbereitung auf den EU-Beitritt wurde dann dazu genützt, um eine Reihe von Veränderungen voranzutreiben, die ansonsten politisch nicht so einfach durchsetzbar gewesen wären. Als eine der ersten Maßnahmen nach dem erfolgreichen Beitritt verabschiedete die Regierung 1995 und 1996 zwei aufeinanderfolgende Sparpakete.
Die darauf folgende Privatisierung, Internationalisierung, EU-Mitgliedschaft und die wachsende Akzeptanz der neoliberalen politischen Agenda zeigten eine deutliche Wirkung auf das Produktionsmodell, das Ausbildungssystem und die Arbeitsmarkt- und Wohlfahrtsstaatspolitiken.


Um das steigende Budgetdefizit in den Griff zu bekommen, entschied sich die Große Koalition, eine Reihe von Staatsunternehmen zu privatisieren- ursprünglich allerdings nur bis zu 49% der Anteile. 1993 wurde das Ziel des Privatisierungsprojekts wesentlich ausgeweitet. Das Gesetz ermächtigte die Österreichische Industrieholding AG (ÖIAG), ein Unternehmen, das in den späten 1960er Jahren gegründet worden war, um die Staatsanteile in den verschiedenen Unternehmen zu verwalten, ihre Mehrheitsanteile in allen Industrieunternehmen zu verkaufen. In den späten 1990er Jahren fing die Regierung an, auch Anteile an den staatlichen Banken zu verkaufen (nach einer Fusionswelle im österreichischen Bankensektor). Ab dem Jahr 2000 wurde eine dritte Privatisierungswelle vom Zaun gebrochen, die im Sommer 2003 einen vorläufigen Höhepunkt erreichte, als der Staat seine letzten Anteile an der VOEST-Alpine verkaufte. (Christoph Hermann, Roland Atzmüller, Hg. S. 27).
Die Privatisierung der staatseigenen Industrien und Banken diente nicht nur dazu, Geld zu besorgen, um das nationale Defizit zu lindern, sondern auch um den Wiener Aktienmarkt wieder zu beleben. Vom Gesamtvolumen der zwischen 1992 und 1997 ausgegebenen Aktien an der Wiener Börse stammten 45% von Beteiligungen an Unternehmen, die sich zuvor im Besitz der ÖIAG befunden hatten (Nowotny 1998, S. 43) (Christoph Hermann, Roland Atzmüller, Hg., S. 27, 28), waren die Privatisierungen der Banken für 34,5% des Umsatzes der Börsen verantwortlich (Nowotny 1998, S. 43, ebd.). Nach der Privatisierung der Banken und Industriebetriebe wurden die öffentlichen Dienste zu einer neuen Einnahmequelle für den Staat. Nachdem Anteile der Verbund AG und der Austrian Airlines bereits in den 1980er Jahren verkauft worden waren, wurden 2000 Teile der Telekom Austria über die Börse an privaten Investoren abgegeben. 2006 erteilte die österreichische Post AG dasselbe Schicksal.
Das Privatkapital wurde so einzementiert und die Orientierung auf die Verbreitung des Shareholder-Value-gelegt. (Christoph Hermann, Roland Atzmüller, Hg., S. 28).
Der Wandel zog sich relativ langsam hin. Das erste Sparpaket war 1987 verabschiedet worden; der letzte wesentliche Einschnitt in die soziale Sicherung fand mit der Pensionsreform im Jahr 2003 statt. In ähnlicher Weise startete der Privatisierungsprozess in den späten 1980er Jahren und war 2007 immer noch nicht beendet – auch wenn es scheint, als hätte die große Koalition die Privatisierungswelle der Vorgängerregierung fürs Erste gestoppt. Laut Unger ging das „Abgehen … so langsam, dass der Paradigmenwechsel oft den Akteuren selber nicht bewusst wurde“ (Unger 1999, S. 174). Obwohl der Wandel langsam vonstatten ging, ist das Ergebnis nichtsdestotrotz bemerkenswert: Während die Lohnquote (Anteil der Löhne am Bruttonationalprodukt) zwischen Mitte der 1950er Jahre und Ende der 1970er Jahre von 63 auf 80% angestiegen war, ist sie seither auf 70% zurückgefallen. Umgekehrt haben Gewinne und anderes Kapitaleigentum, dazu zählen vor allem auch die Finanzanlagen, in den letzten 30 Jahren stark zugenommen (Guger/Marterbauer 2004, S. 4ff.)
Obwohl die Sozialpartnerschaft nach wie vor einen starken Einfluss auf die österreichische Wirtschafts- und Sozialpolitik hat, wurde die Sozialpartnerschaft in zunehmendem Maße dazu benutzt, den kontinuierlichen Rückbau des Sozialstaats zu organisieren und zu legitimieren. Franz Traxler (1993) spricht in diesem Zusammenhang vom Übergang vom Nachfrage- zum Angebotskorporatismus. Nicht nur die Arbeitgeberverbände, sondern auch die Gewerkschaften verteidigen Österreichs Beitritt zur EU und die darauf folgenden Austeritätsmaßnahmen – zumindest bis zur Pensionsreform im Jahre 2003, die offen von den Gewerkschaften bekämpft wurde. Davon abgesehen erfolgte aber der politische Wandel in Österreich in vieler Hinsicht auf Basis von institutioneller Kontinuität. (Christoph Hermann, Roland Atzmüller, Hg., S. 42, 43)

In diesem Zusammenhang gehört in die Richtung dieses Wandels in nächster Zukunft die Senkung der Lohnnebenkosten. Bezeichnenderweise wird bei dieser Kampagne völlig ausgeblendet, was Lohnnebenkosten eigentlich sind und wen deren Reduzierung letztlich trifft: Es handelt sich um Beiträge zum Familienlastenausgleichsfonds, Dienstgeberanteile zur Sozialversicherung, Urlaubs- und Weihnachtsgeld, Sonderzahlungen für Feiertage, Entgelt für Ausfallzeiten, Rücklagen für Abfertigungen, Krankengeld, Kommunalabgabe, Wohnbauförderung und Beiträge zur Berufsausbildung. (Gewerkschaftlicher Linksblock des ÖGB, Aussendung.).


Der Sozialminister steht mit seiner Haltung auch voll im Widerspruch zu den Arbeiterkammern. Diese betonen zu Recht, dass die Lohnnebenkosten elementare Bestandteile des Einkommens und der sozialen Sicherheit der Lohnabhängigen sind. Die Kommunalabgabe ist eine wichtige Grundlage der Gemeindefinanzen, ihre Abschaffung würde ein Finanzloch der Gemeinden und Tarif- und Gebührenerhöhungen zur Folge haben.
Das Argument der Erhöhung der Nettolöhne ist der Sand, den das Kapital den Lohnarbeitern in beide Augen streut. Individuell können sie Vorteile haben, solange sie nicht krank, arbeitslos oder alt sind. Insgesamt aber sind sie die Betrogenen. ... Sie zahlen die Senkung ihrer Beiträge und der ´Arbeitgeberbeiträge´ mit sinkenden Sozialleistungen und steigenden privaten Zuzahlungen. Ein schlechtes Geschäft." (R. Roth, S. 415/416).
Fazit, um den „Privatkapitalisten“ in Österreich etwas entgegenzusetzen, brauchen wir eine starke Arbeiterpartei. In Graz ist sie schon in Ansätzen vorhanden.

 

 


Aus Christoph Hermann, Roland Atzmüller (Hg.) „Die Dynamik des österreichischen Modells“, Brüche und Kontinuitäten im Beschäftigungs- und Sozialsystem, edition sigma Karl-Marx Str. 17 D-12043 Berlin. E-Mail:  HYPERLINK "mailto:verlag@edition-sigma.de" verlag@edition-sigma.de
Die Zitate wurden meistens aus dem Artikel von Christoph Hermann, Jörg Flecker entnommen: „Das Model Österreich im Wandel“.
Literaturvergleich: Beer, Elisabeth; Brigitte; Goldmann, Wilhelmine; Lang, Roland; Passweg, Miron (1991): Wem gehört Österreichs Wirtschaft wirklich? Wien.
Butschek, Felix (2004): Vom Staatsvertrag zur EU. Österreichische Wirtschaftsgeschichte von 1955 bis zur Gegenwart. Wien.
Esping-Andersen, Gosta (1991): The three worlds of welfare capitalism. Prinseton.
Talos, Emmerich (2oo5a): Vom Siegeszug zum Rückzug. Sozialstaat Österreich 1945-2005. Österreich-Zweite Republik. Befund, Kritik, Perspektive, Innsbruck.
Unger, Brigitte (1999): Österreichs Wirtschaftspolitik: Vom Austro-Keynesianismus zum Austro-Neoliberalismus? In: Karlhofer, Ferdinand; Talos, Emmerich (Hg.): Zukunft der Sozialpartnerschaft-Veränderungsdynamik und Reformbedarf. Wien, S. 165-190.
Unger, Brigitte (2001): Österreichs Beschäftigungs- und Sozialpolitik von 1970 bis 2000, in Zeitschrift für Sozialreform, Jg. 47/ Heft 4, S. 340-361.
Guger, Alois; Marterbauer, Markus (20049): die langfristige Entwicklung der Einkommensverteilung in Österreich, Wien: Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung.
Traxler, Franz (1993): Vom Nachfrage- zum Angebotskorporatismus. In: Talos, Emmerich (Hg.): Sozialpartnerschaft – Kontinuität und Wandel eines Modells. Wien S. 103-116).
Rainer Roth, Nebensache Mensch, Frankfurt 2003, S. 413 ff.
(Nowotny 1998, S. 43)

Veröffentlicht: 24. September 2013