Lenin. Zum 90 Todestag.

Rede von Dietmar Dath beim "Zirkel zur Abschaffung des sozial Unerfreulichen"

Es liegen mindestens 100 Gründe vor, weshalb die Menschheit von Glück sagen kann, daß es Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, gegeben hat, und mindestens noch mal 100 dafür, daß sie sich wünschen muß, es gäbe ihn wieder.

Zehn lebendige Lehren

Rede zum Lobe Lenins aus Anlaß seines 90. Todestages

 

 

Von Dietmar Dath

 

Aus JUNGE WELT

Es liegen mindestens 100 Gründe vor, weshalb die Menschheit von Glück sagen kann, daß es Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, gegeben hat, und mindestens noch mal 100 dafür, daß sie sich wünschen muß, es gäbe ihn wieder. Auf dem Roten Platz in Moskau hat man ihn in einem Prunkbau aus Granit, Marmor, Porphyr und gutem Willen zur Ruhe gebettet. Das war wohl als kleine Entschädigung für die vielfältigen Mühen gedacht, die er sich im Interesse der Menschheit aufgebürdet hat. Diese Mühen sind allerdings, wie man leicht einsieht, wenn man die Nachrichten verfolgt, längst nicht vorbei. Was an Lenin lebendig bleibt, schafft glücklicherweise immerfort irgendwo neue Tatsachen und spült viel Unsinn aus den Köpfen. Das bleibt nötig.

Von den erwähnten mindestens 200 Gründen möchte ich, weil sich der Todestag des unersetzlichen Mannes am 21. Januar 2014 zum 90. Mal jährt, rasch zehn vorstellen. Sie haben vielfach eher indirekt mit seiner größten Leistung zu tun, dem Anstoß und der mitverantwortlichen Leitung der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution des Jahres 1917. Das ist kein Beinbruch. Denn was etwa die »Aprilthesen« waren, wie er seine Partei bei der Rückkehr aus dem Exil aufgeweckt hat, daß und warum sich diese Partei einer Spaltung der russischen Sozialdemokratie verdankt, an der er ganz und gar nicht unschuldig war – das alles erfährt man überall, sogar bei Wikipedia (wenn auch nicht, was es bedeutet und wozu es gut ist).

Die im folgenden entfaltete Liste darf gegenüber solchen Eckdatenaufzählungen deshalb eher als eine Art Teaser oder Trailer verstanden werden, wie man heute sagt. Wenn wir, die Lenin zu danken haben, in zehn Jahren immer noch nicht weiter sind als jetzt, mag ich oder, wenn sich’s fügt, jemand anders dann die nächsten 190 Gründe fürs tägliche Leningedenken erläutern.

In meiner Aufzählung stehen, wie man merken wird, vorrevolutionäre Vorzüge Lenins einträchtig neben nachrevolutionären. Diejenigen, die er schon vor dem Umsturz demonstrierte, sind für uns derzeit möglicherweise wichtiger, man hat ja, wenn man’s mit der Menschheit gut meint, im Augenblick in der Region, deren Bewohner diesen Text zu lesen bekommen, leider sehr wenig Macht. Aber auch die nachrevolutionären großen Züge Lenins soll man nicht unterschätzen: Sie zeigen, wie schön und sinnvoll Macht doch gebraucht werden kann, wenn man sie erst mal hat, und regen so vielleicht bei dem einen oder anderen Linken Appetit an (Magenverstimmungen psychosomatischer Art plagen ja leider immer noch viel zu viele, die sich einschlägige Gedanken machen). Zur Liste also.

I. Umstürzlerische Arbeit

Erstens wußte Lenin, daß es verschiedene Arten umstürzlerischer Arbeit gibt, und unterschied sie nach funktionalen und instrumentellen Kriterien. Diese Kriterien werden heute einer Linken, die sich für ein rein ethisches Projekt halten soll, immer wieder vom Schimpf der Gegenseite, aber unglücklicherweise auch von allerlei komischen Heiligen in den eigenen Reihen mies gemacht. Als sich in Lenins Umfeld während einer Phase, die noch nicht klar zu erkennen gab, ob daraus eine revolutionäre Situation werden wollte oder nicht, Tröpfe meldeten, die grundsätzlich in keinem Parlament arbeiten wollten, das der Zar (und später: die wankende bürgerliche Macht, die ihn kurzfristig ablöste) bereitstellte, stieß er diesen Leuten ebenso harsch bescheid wie umgekehrt anderen, die überhaupt nur noch in den Hohen Häusern der verfassungsmäßig bürgerlichen oder spätabsolutistischen Legislative Politik machen und deshalb illegale Wühlabteilungen freiwillig liquidieren wollten.

Die beiden Sorten Dummheit, mit denen Lenin sich da anlegte, hat man seither immer mal wieder gegeneinander in Stellung gebracht. Wer die Fetischisierung bestimmter Kampfesweisen (konspirativ, parlamentarisch, spontan, von langer Hand etc.) zuläßt, endet jedes mal wie die Grünen, bei denen das unvermittelte Gegeneinander sogenannter Fundis und sogenannter Realos bekanntlich die tragische Ouvertüre zur übelsten deutschen Opportunismusfarce seit dem gigantischen Versagen der SPD zwischen 1914 und 1920 abgab.

II. Revolutionäre Mitteilungen

Zweitens hatte Lenin einen ehrfurchtgebietenden Sinn für Medienfragen. Er gewann seine nützlichsten Unterscheidungen und Vergleichsmaßstäbe gerade aus inhaltlichen – und eben nicht, wie heute üblich, aus dem hypnotisierten Glotzen auf die Technik abgezogenen – Überlegungen. Lenin war, noch bevor er daran ging, Plattformen und Formate zu bespielen, strahlend klar, daß revolutionäre Mitteilungen grundsätzlich mindestens drei politischen Ebenen zugeordnet werden können: der programmatischen (Wohin will man überhaupt?), der strategischen (Wie kommt man mit den vorhandenen Mitteln und bei den gegebenen Feinden dorthin?) und der taktischen (Was muß auf welche Weise bis morgen Mittag bekanntgegeben und erledigt sein?).

Weil es diese drei Gesichtskreise gibt, braucht man unterschiedlich organisierte Instrumente der Aufklärung, des Begriffsabgleichs und der Handlungskoordination. So arbeitete Lenin bei der Vorbereitung und Gestaltung dessen, was dann bald »Bolschewismus« heißen sollte, medial dreigliedrig: Ab 1900 gab es die Untergrundzeitung Iskra, für ganz Rußland zunächst in Leipzig gedruckt, damit das Programm bekannt werde. Im Jahr darauf erschien erstmals die legale russische marxistische Theoriezeitschrift Sarja, in welcher strategierelevante Denkarbeit geleistet wurde, und abermals binnen Jahresfrist war das wunderbare Buch »Was tun?« fertig, in dem aus Programm und Strategie einige der genialsten Folgerungen für die richtige Taktik gezogen wurden, die je irgendwem eingefallen sind.

Damit soll nicht gesagt sein, daß die jeweiligen Zuordnungen, die Lenin fand, zu Dogmen zu erklären sind – man kann eine verbotene Zeitung auch taktisch nutzen, und ein Buch ist kein schlechtes Gefäß für ein Programm. Entscheidend war aber, daß Lenin überhaupt mehrgleisig zu publizieren wußte und dabei mit den Formaten experimentiert hat. Wäre es nicht wunderbar, wenn sich ein paar Leute mit derartigem Funktionsbewußtsein einmal des Unterschieds zwischen Netz und Printmedien für sozialistische Gegenwartsagitation annähmen?

III. Unterstützung vom Feind

Drittens ist Lenin bis heute unübertroffen in der schwierigen, aber wertvollen Kunst, Widersprüche im feindlichen Lager zu erkennen und sofort zu nutzen. Hat er wirklich Geld vom deutschen Kaiser genommen, vermittelt über Parvus? Vielleicht nicht, es riecht nach Propaganda. Logistisch aber war zumindest eine wichtige Eisenbahnfahrt ein deutsches Geschenk. Den ewigen Freunden der Reinheit zuliebe, die es in umstürzlerischen Bewegungen immer wieder gibt, hätte er das eigentlich nicht annehmen dürfen. Wenn aber Putin ein paar Nüßchen springen ließe, um Obama Ungelegenheiten zu bereiten, soll das kommunistische Eichhörnchen die nicht nehmen? Und wenn Obama ein Forum – nicht nur einen Horchposten – spendieren würde, um einige unter Merkel ausgeheckte Europasauereien öffentlich zu machen, soll man das verschmähen? Weshalb? Weil solche Hilfe von außen bei Spiegel online ausgeschlachtet würde und man in nationalen Verruf käme? Drauf gepfiffen. Nein, ernsthaft, man soll nicht mit der antiimperialistischen Sammelbüchse in der Hand iranische Gegenden bereisen, das überlasse man dem verrückten Herrn Elsässer.

Aber was Lenin mit dem angeblichen deutschen Wohlwollen schließlich anstellte, hat ihm und dem Staat, den er mit schuf, jede deutsche Zuneigung rasch so gründlich verscherzt, daß der deutsche Imperialismus gut 15 Jahre nach Lenins Tod die grauenhafteste Militärmacht der jüngeren Geschichte nach Osten schickte, die dort dann so gründlich verdroschen wurde, daß man den Lärm noch heute hören kann, wenn man sich nicht gerade von Guido Knopp die Ohren hat zuschmieren lassen.
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Unterstützung von Feinden gegen Feinde annehmen? Warum nicht, aber die schöne Leninsche Regel dazu nie vergessen: Tu mit den Mitteln, die du dir verschaffen kannst, das, was du gesagt hast, und sage dabei deutlich, was du tust.

IV. Korrumpierbare Intellektuelle

Viertens stand Lenin zwar links und war ein Intellektueller, litt aber erstaunlicher- und erfreulicherweise kaum an den standardisierten Deformationen, die den Intellektuellenstand, nicht nur soweit er links steht, in der Neuzeit entstellen. Schaut man sich um, dann ist das alles schon sehr trostlos: Viele Linke, die lesen, schreiben und vielleicht sogar ein bißchen rechnen können, sind aufgrund dieser Fähigkeiten zwar von allerlei demoralisierenden Verrichtungen freigestellt (Fabrikarbeit, Verkauf beim Discounter, Scheiße schaufeln), müssen ihr Dasein dafür aber zumeist damit fristen, daß sie einfache Dinge kompliziert darstellen, um sie im zweiten Arbeitsschritt dann mehr oder weniger erfolgreich wieder zu entwirren. Für derlei Anstelligkeit gibt es dann, wenn alles gut geht, zur Belohnung irgendwo eine Kolumne, eine kleine Sendung oder einen Stehplatz am Kopierer der pädagogischen Fakultät irgendeiner Uni.

Lenin aber hat diesem Zauber nicht nur widerstanden, sondern etwa in »Materialismus und Empiriokritizismus« (1908), einem Buch, das einige an sich heute längst uninteressante steile Thesen diverser seinerzeitiger Starintellektueller der Lächerlichkeit preisgab, überdies gezeigt, daß etwa jemand »ein guter Physiker und trotzdem ein schlechter Philosoph« sein kann und ein guter Philosoph ein entsetzlich naiver Geschichtsdenker. Lenin hat also gezeigt, daß der beliebte Autoritätstransfer ein Humbug ist, von dem ein Großteil unseres derzeitigen Debattenwesens bei Philosophen, Künstlerinnen, Romanautoren und Physikern lebt – bis hin zu Spieltheoretikern, die prokapitalistischen Rechtfertigungsblödsinn an der Wirtschaftsfakultät erzählen, nebst zahllosen anderen Kronzeugen des Status quo von Genetik bis Diskursanalyse.

V. Ãœber Whistleblowing

Fünftens hat Lenins Regierung in Gestalt extrem instruktiver Veröffentlichungen allen Whistleblowerinnen und Whistleblowern der Gegenwart gezeigt, was eine Harke ist. Die Bekanntgabe der Methoden der Herrschaft beim Überwachen, Unterwandern oder Desinformieren in allen Ehren. Nützlicher ist aber doch, wenn auffliegt, was die ganze widrige Herrschaft eigentlich bezweckt, worauf sie hinauswill, was also den Menschen bevorsteht, wenn sie diese Herrschaft nicht schleunigst brechen sowie durch ein der allgemeinen Wohlfahrt und dem Fortschritt der Sitten zuträglicheres System ersetzen.

Kaum also hatten Lenin und seine Leute die Staatsmacht in Rußland inne, wurden mehrere schweinische und geheime Abkommen, welche die Vorgängerregierung Rußlands getroffen hatte oder von denen ihre Organe aus irgendeinem Grund Kenntnis besaßen, in alle Welt posaunt – zum schweren Ärger etwa Englands oder Frankreichs, z.B. in Sachen Abkommen über die Aufteilung imperialer Interessensphären in Nahost nach dem Untergang des Osmanischen Reiches. Das praktischste Instrument zur Destabilisierung aller Weltreiche der Lüge ist und bleibt die Wahrheit.

VI. Das theoretische Erbe

Sechstens war Lenin zeitlebens weit entfernt von der törichten, aber beliebten Ansicht, revolutionäres Denken sei, weil es traditionellem Denken antagonistisch gegenübersteht, gleichbedeutend damit, immer wieder bei Null anzufangen und eigene Traditionen weder zu bilden noch zu pflegen oder zu verteidigen. Er hat das theoretische Erbe des Marxismus nicht als Sonntagspflicht gegen die Ahnen, sondern im Rahmen der Tagesarbeit fortwährend gesichtet, gesiebt und für aktuelle Praxis aufbereitet. Einige seiner originellsten Leistungen, etwa die beiden Bücher »Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus« und »Staat und Revolution«, beide erschienen im Annus mirabilis 1917, sind solche traditionsbewußten Updates. Wer ihnen gerecht werden will, wird sie fortschreiben müssen.

VII. Wachsam bei Genossen

Siebtens war Lenin zwar fähig und willens zu – manchmal schmerzlichen – Kompromissen im Dienst der Sache, niemals aber bereit, sich mit Leuten gemein zu machen, die sich politisch entehrt und erledigt hatten. Daß man aus hygienischen Gründen ab 1914 von der sozialdemokratischen Zweiten Internationale, besonders deren deutschen, russischen, englischen, französischen, überhaupt kernimperialistischen Gliederungen, einen großen Sicherheitsabstand halten mußte, wenn man sich noch auf Marx berufen wollte, haben bekanntlich auch andere Leute als Lenin bemerkt (Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zum Beispiel).

Die programmatische Seite der Sache war eigentlich unübersehbar. In Italien hatten die Traditionssozialisten immerhin soviel Anstand, einen der ihren, der als besonders widerlicher Vaterlands­arsch aufgefallen war, aus dem Verein zu schmeißen (er hieß Benito Mussolini).

Lenin aber war nicht zufrieden damit, das Offensichtliche zu beklagen. Er blieb wachsam auch bei Personen, die nach dem Startschuß zur allgemeinen Schlächterei zwar nicht sofort mit aller Kraft ins chauvinistische Horn gestoßen hatten, sich beim Ziehen von Konsequenzen aus dem Verrat der Zweiten Internationale aber zierten. – Als anläßlich der Konferenz linker sozialdemokratischer Kriegsgegner im Schweizer Dorf Zimmerwald einige superschlaue Strategen erklärten, man solle im Zusammenhang jener Tagung auf keinen Fall in Manifest- oder Proklamationsform umstürzlerischen Maßnahmen, defätistischen Haltungen, bürgerkriegsauslösender Befehlsverweigerung oder Streiks das Wort reden, parierte Lenin sofort treffend: Nein, man müsse »die Mittel vor die Massen bringen, damit sie erläutert und diskutiert werden können«. Denn allerspätestens, wenn Imperialisten auf Imperialisten schießen, ist die beste Taktik einfach das sozialistische Programm als solches und seine möglichst unverhohlene Verbreitung.

VIII. Erreichbare Bedürfnisse

Achtens war Lenins Bündnispolitik – durchaus anders als die vieler linker Bewegungen und Organisationen, die sich später auf ihn beriefen oder bis heute auf ihn berufen – nie daran interessiert, irgend jemanden oder irgend etwas zu finden, das stärker ist als die vom falschen System unterdrückten, ausgesperrten, ausgebeuteten, vereinzelten und belogenen Menschen, nur weil man sich an etwas Starkes leichter anlehnen kann als an viele nicht sehr Starke. Wenn kleinste westlinke Grüppchen nach 1945 Schutz und Trost mal bei der Sozialdemokratie, mal bei der UdSSR und mal bei der Volksrepublik China suchten, so war das weniger leninistisch als ein Eigentor.

Leninistisch dagegen war beispielsweise die Einlösung der Versprechen »Land und Frieden« direkt nach der Oktoberrevolution. Denn obwohl es a) Köpfe der nicht nur russischen Linken gab, die den Bolschewismus nicht durch einen Friedensschluß mit dem Deutschen Reich beschmutzt sehen wollten, und obwohl es außerdem b) Köpfe der nicht nur russischen Linken gab, die das Land sofort sozialisieren statt den kleinen Bewirtschaftern schenken wollten, und obwohl schließlich c) zu diesen Köpfen einige gehörten, die Lenin zwar kritisiert, aber nicht als Idioten abgetan hat – Rosa Luxemburg und Trotzki zum Beispiel –, hielt Lenin den Kurs.

Darin steckt eine Lehre für Radikale, die mit der unmittelbaren Befriedigung erreichbarer Bedürfnisse vieler Menschen, wenn die nicht im goldenen Buch der Utopie steht, stets ein großes moralisch-politisches Problem haben. Und dafür wollen sie dann umso Wilderes fordern und versprechen, je mehr es ihnen am geringsten Hebel gebricht, dieses ganze hübsche radikale Zeug wirklich durchzusetzen. Wenn das lange genug schiefgegangen ist, werden sie aus Enttäuschung milder und denken plötzlich darüber nach, ob man sich nicht ein Jein zu imperialistischen Kriegen der Zukunft abringen sollte, damit einen die SPD mal mitspielen läßt. Nein. Pfui. Nicht anfassen.

IX. Ãœber ein vereintes Europa

Neuntens war Lenins Europabild so hochauflösend, daß es an Gültigkeit und Wert für Leute, die den Imperialismus nicht mögen, wenig eingebüßt hat. Bis tief in Kreise, die Wert darauf legen, für kommunistisch zu gelten, hört man heute manchmal, es stünde so etwas an wie die Umarbeitung der EU zu einem republikanisch-föderalen Europa an, das doch als Gegengewicht der USA dringend vonnöten sei. Dieses Europa wird als ein Ziel vorgestellt, für das es sich sogar lohnen soll, das eigene Bauchgrimmen wegen der wachsenden militärischen Potenz der EU hintanzustellen. Erst mehr Demokratie, dann Abrüstung?

Lenin schrieb 1915, mitten in jenem Krieg, der alle Kriege beenden sollte, und von dem derzeit so viel die Rede ist, weil er a) 100 Jahre zurückliegt und b) die Bundeswehr ausnahmsweise nicht mitgemordet hat, einen glänzenden Text namens »Über die Losung der Vereinigten Staaten von Europa«. In ihm hielt er den linken Eurodemokraten seiner Zeit entgegen, sie sollten nicht zentralabendländische Flausen pflegen, sondern lieber nach dem ökonomischen Inhalt ihrer schönen Parole fragen. »Vom Standpunkt der ökonomischen Bedingungen des Imperialismus, das heißt des Kapitalexports und der Aufteilung der Welt durch die ›fortgeschrittenen‹ und ›zivilisierten‹ Kolonialmächte, sind die Vereinigten Staaten von Europa unter kapitalistischen Verhältnissen entweder unmöglich oder reaktionär«, nämlich »gleichbedeutend mit Übereinkommen über die Teilung der Kolonien«, also allenfalls ein Werkzeug zur Organisation von Ausbeutung und Unterdrückung.

Wollen wir dazu eine Griechin oder einen Nordafrikaner hören? Ja, das wollen wir. Denn sie können das Lied pfeifen, zu dem Lenins brillanter Text heute noch den präzisen Rhythmus schlägt.

X. Der Stil ist der Mensch

Zehntens, das darf nicht fehlen, konnte der Mann schreiben. I mean, he could turn a phrase like nobody’s business. Das ist nicht selbstverständlich. Denn was muß man von Marxistinnen und Marxisten hören oder lesen, seien sie nun beim ZK der SED oder beim niedlichsten Online-»Kapital«-Lesezirkel organisiert? »Der Ausbau des Schwerindustriesektors des Landes im dritten Quartal des laufenden Gähn …« oder »Die neoliberale Strategie der reaktionären Merkelregierung Schnarch…«

Liebe Schwestern und Brüder! Freundschaft, ehrlich, aber muß das sein? Statt solches Kraut zu kauen, darf man den Stil ruhig an einem Mann schulen – man wird da nie auslernen –, der prominente linke Spinner seiner Zeit schlankweg »patentierte Marxisten« nannte, der verblasene Argumente aus Kants Mottenkiste korrekt als »alten Plunder« identifizierte und der mit weltklug nachsichtiger Nächstenliebe über linksradikale Spinner schrieb: »Es ist das natürliche Vorrecht der Jugend, eine Zeitlang solche Dummheiten zu reden.«

Für wen schrieb der Mann eigentlich immer so gut? Simpel: Für alle, die, wie er listig zusammenfaßte, »gestern zu Bolschewiki geworden sind oder es morgen sein werden (in Indien, in Ungarn, in Deutschland usw.)«. Gute Güte, sogar die Namen der blöden Länder stimmen noch!


 

Der vorstehende Text ist die leicht gekürzte Fassung eines Vortrags im Rahmen der geschlossenen Lenin-Gedenkveranstaltung des Frankfurter »Zirkels zur Abschaffung des sozial Unerfreulichen«.

Veröffentlicht: 21. Januar 2014