Lenin kam unerwartet

Zur 150. Wiederkehr seines Geburtstages

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„Die Entwicklung in der Corona-Krise nimmt Züge einer gesamtgesellschaftlichen Krise an. Die erste von den drei Voraussetzungen einer revolutionären Situation, die Lenin angeführt hatte, könnte bald eintreten. Es ist aber mehr als fraglich, dass die große Mehrheit der Bevölkerung bei uns und im internationalen Maßstab ihre Lage trotz gestiegener Arbeitslosigkeit und sinkendem Lebensstandard als unerträglich ansehen wird.“

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Geboren am 22. April 1870 in Simbirsk, gestorben am 21. Jänner 1924 in Gorki bei Moskau. Das sind die Lebensdaten von Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin. Was hat uns ein Denker und Revolutionär, der vor 150 Jahren zur Welt gekommen ist, heute noch zu sagen? Sein Leben und sein Werk sind mit der russischen Revolution und mit Sowjetrussland verbunden – und die Sowjetunion ist seit fast 30 Jahren Geschichte. Ist auch Lenin nur mehr eine Gestalt für die Geschichtsbücher, eine Figur, mit der sich Fachhistoriker beschäftigen, die aber für die Entwicklung von Strategien für die grundlegende Umwälzung der Gesellschaftsordnung im 21. Jahrhundert kaum noch Bedeutung hat?

Dass ein Kommunist diese Frage mit Nein beantwortet, wird niemanden verwundern. Viel aufschlussreicher ist aber eine andere Tatsache. Im englischen Sprachraum sind in den letzten Jahren mehrere Biographien von Lenin erschienen, die sich auch mit der Frage befassen, was er der heutigen Generation zu sagen hat. Hervorzuheben sind dabei „Conspirator. Lenin in Exile. The making of a revolutionary“ von Helen Rapoport (2009), „Lenin the Dictator. An intimate Portrait“ von Victor Sebestyen (2017) und mit Abstrichen „Lenin“ von Robert Service (2000). Diese Autoren sind allesamt keine Freunde der kommunistischen Bewegung. Ihre Schlussfolgerungen geben aber auch unsereinem Mut. So betont R. Service in den letzten Sätzen am Schluss seiner Biographie (vom Standpunkt der herrschenden Bourgeoisie aus): „Lenin kam unerwartet. Aber, um das Mindeste zu sagen: Sein außerordentliches Leben und seine Karriere beweisen die Notwendigkeit für uns, wachsam zu bleiben. Nur wenige historische Persönlichkeiten haben diesen Effekt erzielt“. (Service, S. 494. Aus dem Englischen übersetzt).

Und Victor Sebestyen sieht ihn als „in höchstem Maße relevant“. Dabei verweist er auf die aktuelle krisenhafte Entwicklung des kapitalistischen Gesellschaftssystems und betont, dass Lenin seinerzeit „die selben Fragen gestellt hatte, die wir uns heute angesichts ähnlicher Probleme stellen“. (Sebestyen. S.2).

Nun: Wir teilen die Sorgen der Verteidiger des Kapitalismus nicht, sondern wir müssen aufmerksam studieren, welchen Nutzen wir aus den Schriften und aus dem Wirken Lenins für die aktuelle Situation ziehen können. Und das ist nicht wenig. Zu diesem Zweck dürfen wir ihn aber nicht wie einen Säulenheiligen behandeln, sondern müssen versuchen, seine Haltung als Politiker und Denker zu analysieren und zu begreifen:
Es kommt dabei nicht darauf an, eingelernte „marxistisch-leninistischen“ Formeln zu wiederholen, sondern darauf, im richtigen Moment das Richtige herauszufinden, nämlich jene Fragen, die in der Wirklichkeit eine feste Verbindung zwischen unserer Bewegung und den Wünschen, Gefühlen und Forderungen der Menschen zustande bringen.
Um grundlegende gesellschaftliche Veränderungen einleiten zu können, muss man die Funktionsweise des Kapitalismus und das gesellschaftliche Kräfteverhältnis immer wieder aufs neue analysieren, man muss eine politische Bewegung in Gang bringen, die diese Analyse mitträgt und die sich auf die arbeitenden Menschen stützt – und man muss zum richtigen Zeitpunkt das Richtige machen.
 

Eine Sternstunde der Menschheit

Das ist leichter gesagt als getan. Um einen Begriff davon zu geben, wie Lenin gearbeitet hat, beschränkt sich diese Arbeit auf die Zeitspanne zwischen Herbst 1916 und Frühjahr 1917 .

Damals stand Lenin bereits in seinem 47. Lebensjahr. Seine politische Biographie hatte bis zu diesem Zeitpunkt dazu geführt, dass er der Leiter einer Fraktion des russischen Sozialdemokratie war, die vom rechten Flügel als besonders engstirnig verleumdet wurde. Bis auf die kurze Zeitspanne der 1. russischen Revolution von 1905 musste er im Exil leben: In Frankreich, Deutschland, Österreich-Ungarn und in der Schweiz. Während des 1. Weltkrieges lebte er zuletzt in der Züricher Spiegelgasse, in der neutralen Schweiz und war von fast allen internationalen Verbindungen abgeschnitten. Stefan Zweig nennt ihn in seinen „Sternstunden der Menschheit“ den „Mann, der bei dem Flickschuster wohnt“ und fährt fort: „Niemand aber nimmt den kleinen, strengstirnigen Mann für bedeutend, keine drei Dutzend Menschen in Zürich halten es für wichtig, sich den Namen dieses Wladimir Iljitsch Uljanow zu merken“.

Ein Dreivierteljahr später stand Lenin an der Spitze der ersten Räterepublik der Welt, sieben Jahre später, als er starb, hatte die Sowjetunion Bürgerkrieg und den Kampf gegen ausländische Interventionen siegreich beendet und machte erste Schritte in Richtung Sozialismus.

Im Jahr 1916 war Lenin aber politisch noch in einer verzweifelten Lage. Abgeschnitten von fast allen Verbindungen in die Heimat hatte er zwar den Zusammenbruch der zweiten Internationale im Weltkrieg analysiert und seine Schlüsse daraus gezogen, er hatte mit dem Werk „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ die wissenschaftliche Grundlage für eine Neuorientierung der fortschrittlichen Bewegung geliefert und er befasste sich mit der Lehre des Marxismus über den Staat. All das sollte in den kommenden Monaten eine wichtige Rolle spielen.

Im Herbst 1916 war Lenin jedoch nicht einmal in der Lage, seine Schlussfolgerungen in den Diskussionen des kleinen linken Flügels der Schweizer Sozialdemokratie durchzusetzen. Das war damals aber sein einziges politisches Betätigungsfeld.

Nadeshda Krupskaja schildert ihre Eindrücke von einer Begegnung Lenins mit dem Schweizer Linksopportunisten Nobs in diesen Tagen so: „...die Gestalt Iljitschs , der krampfhaft Nobs am Mantelknopf festhielt und ihn durch seine Propaganda überzeugen wollte, erschien mir tragisch. Kein Ausweg für diese gewaltige Energie – zugrunde geht unbekannt die unendliche Hingabe an die Arbeitermassen, vergeblich – das klare Erkennen der Geschehnisse.“ (Zitiert nach. Lenin. Dokumente seines Lebens. Herausgegeben von Arnold Reisberg. Leipzig 1977. Bd. 1, S. 603 f.)

Und auch er selbst zeigte Anzeichen von Resignation. In seinem Vortrag über die russische Revolution von 1905, gehalten am 22. Jänner 1917 in Zürich stellt er zwar fest: „Wir dürfen uns nicht durch die jetzige Friedhofsruhe in Europa täuschen lassen. Europa ist schwanger mit der Revolution. Die furchtbaren Gräuel des imperialistischen Krieges, die Schrecknisse der Teuerung erzeugen überall revolutionäre Stimmung und die herrschenden Klassen, die Bourgeoisie und ihre Vertrauensleute, die Regierungen, sie geraten immer mehr und mehr in eine Sackgasse, aus der sie überhaupt ohne größte Erschütterungen keinen Ausweg finden können.“ (LW. Bd.23, S. 264). Er fügt aber hinzu: „Wir, die Alten, werden vielleicht die entscheidenden Kämpfe dieser kommenden Revolution nicht erleben“. (ebd.)
 

Kein Spiel mit der Machtergreifung

Welch ein Irrtum! Als ihn am 15. März 1917 die ersten Nachrichten über die Revolution in Petrograd erreichten, versuchte Lenin von Anfang an, Einfluss auf ihren Verlauf zu nehmen: Zuerst durch die „Briefe aus der Ferne“, die in der Heimat von der Redaktion der Prawda nur teilweise abgedruckt wurden, dann durch die Reise im „plombierten Waggon“ durch Deutschland und über Schweden und Finnland nach Petrograd, schließlich im Kampf um die Mehrheit in der eigenen Partei, die anfangs vom vorgeschlagenen Kurs ganz und gar nicht überzeugt war.

Warum? Die Schaffung der Arbeiter- und Soldatenräte in Russland entsprach nicht mehr dem alten Schema einer Revolution in seinem Land. Es war eine Doppelherrschaft entstanden – auf der einen Seite die bürgerliche provisorische Regierung, auf der anderen Seite der Sowjet, der sich auf die Macht der bewaffneten Soldaten in der Hauptstadt stützen konnte. Die bürgerliche Revolution war auf eine sehr spezifische Weise zur Tatsache geworden und gleichzeitig tat sich die Möglichkeit eines Staates vom Typ der Pariser Kommune (1871) auf. Dem musste die Strategie der Partei gerecht werden und zu diesem Zwecke waren die alten Formeln nicht mehr brauchbar.

Das bedeutete die Notwendigkeit einer großen Überzeugungsarbeit, um die Aktivisten der eigenen Partei in die Lage zu versetzen, dieser Aufgabe gerecht zu werden.

Lenin setzte sich dabei in einem harten Meinungsstreit durch. Dabei erinnerte er an einen wichtigen Hinweis der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus: „,Unsere Lehre ist kein Dogma, sondern eine Anleitung zum Handeln‘ – das betonten ständig Marx und Engels. Sie spotteten mit vollem Recht über das Auswendiglernen und einfache Wiederholen von „Formeln“, die bestenfalls geeignet sind, lediglich die allgemeinen Aufgaben vorzuzeichnen, die durch die konkrete ökonomische und politische Lage in jedem besonderen Abschnitt des geschichtlichen Prozesses zwangsläufig modifiziert werden.“ (LW Bd.24, S.25).

Der Weg zur Umgestaltung der Gesellschaft war seiner Auffassung nach die Übernahme der Staatsgewalt durch die Räte. Dabei würde aber nicht die Einführung des Sozialismus als unmittelbare Aufgabe auf der Tagesordnung stehen, „sondern augenblicklich nur Übergang zur Kontrolle über die gesellschaftliche Produktion“ (Ebd. S.6).

Er grenzte sich ausdrücklich von der Losung „Weg mit dem Zaren – Her mit der Arbeiterregierung!“ ab und betonte: „Ich habe mich in meinen Thesen absolut gesichert gegen jedes Überspringen der noch nicht überwundenen bäuerlichen oder überhaupt kleinbürgerlichen Bewegung, gegen jedes Spiel mit der ‚Machtergreifung‘ durch eine Arbeiterregierung (…) Um auch nicht den kleinsten Zweifel in dieser Beziehung zuzulassen, habe ich in den Thesen zweimal die Notwendigkeit der geduldigen, hartnäckigen, sich ‚den praktischen Bedürfnissen der Massen anpassenden‘ ‚Aufklärungsarbeit‘ betont.“ (ebd. S. 31).

Die konkrete Analyse der konkreten Situation machte die Information über die Rolle der Provisorischen Regierung und die Notwendigkeit, um die Mehrheit in den Räten und im Alltagsbewusstsein der arbeitenden Menschen zu kämpfen, zur Forderung des Tages. Dabei ging es aber nicht um ein Anpassen an die vorherrschende Stimmung, die noch von einer großen Vertrauensseligkeit der Mehrheit der Bevölkerung gegenüber der bürgerlichen Regierung geprägt war, sondern um eine politische Alphabetisierung. Die Schlagworte Frieden, Arbeit und Brot standen für diese Orientierung, die schließlich zum Erfolg führte.

Dabei legte Lenin großen Wert auf eine objektive Analyse der Kräfteverhältnisse. Wie veränderten sich die Mehrheitsverhältnisse in den Räten? Wie schnitten die Bolschewiki bei den Wahlen zur Petrograder Stadtduma und zu den Bezirksdumas ab? Das war notwendig: Denn ohne eine politische Mehrheit in der Bevölkerung ist jeder Versuch, die Frage der Macht in einer Revolution zugunsten der Werktätigen zu entscheiden, zum Scheitern verurteilt. Lenin wird oft mit folgendem Satz zitiert: „Eine revolutionäre Situation gibt es dann, wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen“. Und das war 1917 in Russland der Fall.

Der Ablauf der Ereignisse, die zur Oktoberrevolution führten, ist bekannt. Weniger bekannt ist aber, dass Lenin in seiner Schrift „Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll“ (Oktober 1917) nicht die sofortige Einführung des Sozialismus gefordert hat, sondern für die Nationalisierung der Banken und für die gesellschaftliche Kontrolle der Produktion und der Verteilung eingetreten ist.
 

Das Richtige rechtzeitig tun

Seit diesen Tagen sind mehr als 100 Jahre vergangen. Die Sowjetunion ist Geschichte. Lenin, seinem theoretischen Nachlass und seiner gesellschaftspolitischen Praxis wird von vielen jede Aktualität abgesprochen. Ein neuer Anlauf in Richtung Sozialismus wird für ausgeschlossen erklärt. Lenin soll mit solchen Aussagen ein zweites Mal begraben werden.

Dabei ist die Haltung Lenins als Marxist und Revolutionär auch heute noch wichtig: Um den Kapitalismus in Frage stellen zu können, muss man seine Funktionsweise und das gesellschaftliche Kräfteverhältnis immer wieder analysieren, man muss eine politische Bewegung in Gang bringen, die diese Analyse mitträgt und die sich auf die Arbeiterklasse und die politische Mehrheit der Bevölkerung stützt – und man muss zur richtigen Zeit das Richtige tun.

Die steirische KPÖ hat ihre gefestigte Stellung im gesellschaftlichen Leben unseres Landes in einer Periode der vergleichsweise ruhigen Entwicklung erarbeitet. Ihre Strategie lässt sich wie folgt zusammenfassen: Sie versucht, eine Bewegung für das tägliche Leben und für die großen Ziele der ArbeiterInnenbewegung zu sein, sie verbindet ihre Politik mit glaubwürdigen Personen und sie drückt das auch dadurch aus, dass ihre Mandatarinnen und Mandatare einen großen Teil ihres Politbezuges für konkrete soziale Zwecke verwenden. Schritt für Schritt ist es gelungen, dass die KPÖ in der Steiermark wieder alle Funktionen einer kommunistischen Partei, die Interessenvertretung, den politischen Kampf und die ideologische Auseinandersetzung beherrscht.

Nun stehen wir vor unserer größten Bewährungsprobe. Die Entwicklung in der Corona-Krise nimmt Züge einer gesamtgesellschaftlichen Krise an. Die erste von den drei Voraussetzungen einer revolutionären Situation, die Lenin angeführt hatte, könnte bald eintreten: „Die Unmöglichkeit für die herrschenden Klassen, ihre Herrschaft in unveränderter Form aufrechtzuerhalten; diese oder jene Krise der ‚Spitzen‘, Krise der Politik der herrschenden Klasse, die einen Riss erzeugt, durch den die Unzufriedenheit und Empörung der unterdrückten Klassen hervorbricht.“ (Der Zusammenbruch der II. Internationale, LW Bd. 21, S. 206).

Es ist aber mehr als fraglich, dass die große Mehrheit der Bevölkerung bei uns und im internationalen Maßstab ihre Lage trotz gestiegener Arbeitslosigkeit und sinkendem Lebensstandard als unerträglich ansehen wird. Das wäre aber die andere Voraussetzung, ohne die es keine revolutionäre Situation geben kann.

Solange von den Menschen die Hoffnung auf ein besseres Leben nicht außerhalb des vorgegebenen Rahmens gesehen wird, können die Eliten sogar Krisen des jetzigen Ausmaßes meistern.

Auf alle Fälle müssen wir versuchen, die Veränderungen auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens, die wir jetzt spüren, mit der Methode zu analysieren, die uns auch Lenin hinterlassen hat.

Wie hängen die Gesundheitskrise, die Weltwirtschaftskrise, die Migrationskrise, die Klimaveränderung und die Kriegsgefahr in vielen Teilen der Erde zusammen? Gibt es einen Ausweg aus dieser gefährlichen Lage, der nicht von den Interessen des imperialistischen Monopolkapitals bestimmt ist? Ist es denkbar, dass eine politische Kraft entsteht, die in der Lage ist, diesen Ausweg auch durchzusetzen?

Für die Antwort auf diese Fragen dürfen wir nicht nach dem passenden Leninzitat suchen. Da kommt es schon auf uns selbst an.

Erinnern wir uns an die Worte des Historikers Robert Service: Lenin kam unerwartet und hat in einer revolutionären Situation dazu beigetragen, die weltweite Herrschaft des Kapitalismus zu erschüttern. 150 Jahre nach seiner Geburt behalten wir das im Gedächtnis.

Franz Stephan Parteder

23. April 2020