„Es war nicht immer so“

Rezension und Kommentar von Mark Staskiewicz zum Buch von Heimo Halbrainer und Ursula Vennemann (Hg.)

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Das Buch handelt vom „Leben mit Behinderung in der Steiermark zwischen Vernichtung  und Selbstbestimmung 1938 bis heute“. Im Vorwort argumentiert die Präsidentin der Lebenshilfe-GUV, Frau Vennemann, weshalb sie sich mit ihren Kooperationspartnern dafür entschieden hat, ein solches Buch zu schreiben. Die Lebenshilfe setzt sich „für das Lebensrecht von Menschen mit Behinderung“ ein. Und wie die LeserInnen feststellen werden, war es eine gute und wichtige Entscheidung das Buch herauszugeben.  

Trotz aller Schwierigkeiten gibt es inzwischen zahlreiche Literatur über die Zeit des Faschismus. JüdInnen, ZwangsarbeiterInnen,  Sinti und Roma, KommunistInnen, SozialdemkratInnen und GewerkschafterInnen haben über die Verfolgung, Vernichtung und  ihren Widerstand berichtet. Gerade aber im Bereich von Menschen mit intellektuellen Einschränkungen, geistiger Behinderung, ist die eigene Geschichtsschreibung unter sehr erschwerte Bedingungen gestellt, da es den entsprechenden Menschen selbst selten möglich ist, ihre eigene Geschichte aufzuschreiben. Es gibt wenig Literatur über deren Erlebnisse. Somit können wir uns mit diesem Buch über ein weiteres Werk freuen. Das Buch schafft den Spagat zwischen objektiven historische Berichten und subjektiven Erlebnissen von ZeitzeugInnen.

Sehr deutlich wird die früh begonnene Vorgeschichte, die schließlich bis hin zur Vergasung von Menschen mit Behinderung im 3.Reich geführt hat. Denn die Geschichte des „Sozialdarwininsmus“ begann nicht erst 1938. Der Akteur Reichel hielt bereits 1913 einen Vortrag „Über Rassenhygiene“ in Wien. Auch in Österreich kam es zwischen 1923 und 1925 zur Gründung von „rassenhygienischen Ortsgruppen in Linz, Graz und Wien“ (S.17).

Sehr lobenswert ist, dass die polit-ökonomischen Grundlagen, die zu faschistischen Euthanasie führten, angedeutet werden. Die Einteilung als „unproduktiv“ (S.35) spielt hier eine große Bedeutung. In einer von den faschistischen Vordenkern Hoche und Binding 1920 veröffentlichten Broschüre wird die Zahl der „Idioten“ auf „20-30.000“ geschätzt, bei einer Lebenserwartung von 50 Jahren könne man sich vorstellen „welches ungeheure Kapital in Form von Nahrungsmitteln, Kleidung und Heizung dem Nationalvermögen für einen unproduktiven Zweck entzogen werden“ (S. 86). Und der im Nürnberger Ärzteprozess angeklagte Brack meinte: „Diese Leute wurden als nutzlose Esser angesehen und Hitler war der Ansicht, dass durch die Vernichtung dieser […] die Möglichkeit gegeben wäre, weitere Ärzte, Pfleger, Pflegerinnen und anderes Personal, Krankenbetten und anderen Einrichtungen für den Gebrauch der Wehrmacht freizumachen“ (S.135). Hier ging es also um knallharte polit-ökonomische Ziele, denn beim 2.Weltkrieg ging es ja auch um den Versuch der Faschisten die Welt neu aufzuteilen und andere Länder reihenweise zu unterwerfen, um sie ökonomisch ausbeuten zu können.

Beschrieben wird die Aktion T4 an deren Folgen allein im Schloss Hartheim von Mai 1940 bis August 1941 ca. „18.000 Menschen in der Gaskammer den Tod fanden“ (S.30).  

Die dort getöteten Menschen gingen mit Stempeln auf ihrem Leib ihren letzten Gang, wie ein Kalb zur Schlachtbank. Auch wenn es in Brechts Gedicht eigentlich um die Soldaten ging, so passen die Zeilen auch hier: „Der Metzger ruft. Die Augen fest geschlossen.
Das Kalb marschiert…“.

Das Buch zeigt deutlich, dass es nicht wenige Verantwortliche waren, sondern dass es in der Zeit des Faschismus eine systematische und von einem weit verzweigten Netz an Akteuren durchgeführte Massenvernichtung gab. Geschildert wird auch, dass viele Menschen, wie z.B. auch die PflegerInnen mitbekommen haben, was passierte. Dennoch verschweigt das Buch nicht den Umgang mit den Tätern, die z.T. auch nach dem 2.Weltkrieg noch im Amt blieben, Karriere machten, die z.T. Freisprüche bekamen oder im Gegensatz zu ihrer menschenvernichtenden Tätigkeit z.B. als „beispielgebender menschenfreundlicher Arzt“ beschrieben wurden. Wenn heute noch das Konterfei des T4-„Gut“-achters Dr. Bertha „die Wände im Dekanat der Medizinischen Fakultät“ ziert, so zeigt, dies, dass noch heute eine breite gesellschaftliche Diskussion dieses Themas erforderlich ist.

Das Thema der Euthanasie ist viel zu lange verschwiegen worden. 1992 entstand „erstmals eine Gedenktafel auch für die Opfer der NS-Euthanasie“ in Kindberg (S. 105). Positiv hervorzuheben ist auch, dass dieses Buch den Widerstand benennt, wie beispielsweise den starken Widerstand der KPÖ (S. 107). 1940 gab es z.B. ein Flugblatt, in dem diese über Euthanasie in Wien und Graz aufklärte (S. 95). Aber es berichtet auch über den Widerstand im Kleinen. Die Mutter des Grazer-Altbürgermeisters Stingl wehrte sich so gegen eine Blockwartin, die im Hinblick auf ihre geistige behinderte Tochter sagte „Ihren Trottel holen wir auch“. Die Mutter erwiderte, dass „wenn sie so etwas macht, dann wird sie die erste sein, die den Russen angezeigt wird“. Und zur Gefahr, die sie durch diese Aussage einging, meinte sie: „Wenn ich verhaftet worden wäre, dann hätten das wenigstens auch andere Leute gewusst“ (S. 227).  

Das Buch bleibt nicht in der Zeit des Faschismus stehen, sondern es beschreibt auch anschaulich, wie sich das Leben von Menschen mit Behinderung positiv verändert hat und wie es sich heute in der Steiermark gestaltet.

Alles in allem, ein sehr gelungenes Buch! Empfehlenswert für alle Menschen, denen es nicht egal ist, was mit ihrem Nachbarn passiert und die aus der Geschichte lernen wollen.

„Es war nicht immer so“. Heimo Halbrauner/ Ursula Vennemann (Hg.), Clio-Graz, ISBN 978-3-902542-40-3

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Kommentar:

„Der Umgang mit behinderten Menschen, mit Alten und Schwachen sei ein Prüfstein für den Zustand einer Gesellschaft“, so sagte es dem Buch zufolge der Bundespräsident Dr. Fischer bei der Eröffnung einer Gedenkstätte im Jahre 2006 (S.125). Natürlich haben wir derzeit keine Lage wie in Zeiten des 2.Weltkrieges. Die offene diktatorische Herrschaftsform des Kapitalismus hat sich in eine bürgerlich demokratische Herrschaftsform gewandelt.

Wenn in Graz berechtigt über die Umbenennung der Conrad-von-Hötzendorfstraße diskutiert wird, so sollten wir konsequent sein und auch solch ein Konterfei, wie das von Dr. Bertha in der Medizinischen Fakultät offen kritisieren. Denn es ist auch ein Zeichen dafür, welche Vorbilder sich eine Gesellschaft setzt.

Das Buch ist eine Erinnerung an die Notwendigkeit der Wachsamkeit. Bei all den Fortschritten, die es gibt und die auch im Buch im Bereich des heutigen Lebens von Menschen mit Behinderung beschrieben werden, müssen wir sehr genau beobachten, was passiert.

Als ich 1997 als Zivildiener in Deutschland begann im Bereich des Wohnens von Menschen mit geistiger Behinderung zu arbeiten, tobte die Diskussion über die Bio-Ethik-Konvention. Ich beteiligte mich an dem Wiederstand daran. Es zeigte sich, wie weit die Diskussion in einer bürgerlich-demokratischen Herrschaftsform des Kapitalismus gehen kann und wie nah sie der Diskussion in den Vorjahren des Faschismus kommt. Schlugen doch Versicherungen vor, dass wenn Eltern erfahren, das ihr Kind „behindert“ zur Welt kommen würde, sie selbst die vollen Kosten die bei einem Versicherten anfallen würden und Folgekosten (z.B. für Hilfsmittel wie Rollstühle etc.) zu tragen haben, wenn sie es auf die Welt bringen wollen. Dadurch würden sie überwiegend ökonomisch zur Abtreibung gezwungen. Damit ist man nicht weit von einer Diskussion des „lebensunwerten Lebens“ entfernt. Guido Sprüngel hat in seinem Buch die ökonomischen Interessen gut durchleuchtet („Bioethik-Konvention und er Zugriff der Forschung auf den Menschen“, Pahl-Rugenstein Verlag Bonn 1999). 1998 gab es in Deutschland die Diskussion darüber ob Menschen mit Behinderungen der Aufenthalt im Garten verboten werden könne, da sich Nachbarn über Geräusche beschwert hatten.

Kommen wir zurück zum Fischer-Zitat. Wie sieht es denn derzeit in der Steiermark aus? Der Pflegeregress zwingt die Menschen ihre Angehörigen zu Hause zu pflegen, während Betten in professionellen Pflegeeinrichtungen leer stehen bleiben und Menschen durch den Regress in die Schuldenfalle gedrängt werden. Eine so produktive Gesellschaft, wie die unsrige, sollte doch in der Lage sein ein Sozialsystem zu entwickeln bei dem nicht die einzelne Familie sondern die Gesellschaft als Ganzes in die Verantwortung gezogen wird.

Das Sparpaket sorgt in der Begleitung von Menschen mit geistiger Behinderung zu einem erhöhten Kostendruck auf und zwischen den Trägern, zum Personalabbau und zur Streichung von Angeboten. Kommt es zu weiteren Kürzungen, so droht ein Zurück zu „Großanstalten“, auch wenn auf dem Papier der Abbau dieser gefordert wird. Denn Großeinrichtungen können kostendeckender arbeiten. Es würde durch weitere Einsparungen dann auch schwer Wohnangebote z.B. in zentraler Lage (sowie der Wohnverbund Messequartier in Graz, in dem ich arbeiten darf) anzubieten, da diese teurer sind als am Stadtrand.

Dabei war es ja ein Fortschritt  von den Randgebieten endlich auch in die Städte zu kommen und somit eine erhöhte Lebensqualität durch mehr Möglichkeiten der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben anbieten zu können.

Von den Erkenntnissen der Fachdiskussionen und Forschungsarbeiten sind wir hingegen doch eigentlich weiter. So sind kleine Wohneinheiten in zentraler Lage eigentlich das Gebot der Stunde, sie sind progressiv. Die nötige Inklusion, die nicht nur die Menschen, die wir begleiten sondern alle Teile der Gesellschaft umfasst, erfordert in unserem Bereich mehr statt weniger Personalressourcen. Denn die Inklusionsarbeit erfordert Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, das Schaffen von Netzwerken und die Erforschung und Nutzung des Sozialraumes. Knappe Personalressourcen (die eine Beteiligung am gesellschaftlichen Leben einschränken oder gar verhindern, also behindert machen) und Großeinrichtungen an den Stadträndern sind hier aber kontraproduktiv, sie sind reaktionär.

Und hier, so finde ich, beginnt schon die Wachsamkeit. Die Menschen mit Behinderungen sowie deren AssistentInnen und Angehörige sind die ersten, die die Erscheinungen von Sparpaketen bemerken. Sie haben eine gesellschaftliche Verantwortung und müssen auf die Missstände hinweisen. Dazu ist es erforderlich, die Menschen mit Beeinträchtigungen auf ihrem Weg als empowerte SelbstvertreterInnen zu unterstützen, damit sie selbstständig oder mit Assistenz auch in den politischen Diskurs eintreten können. Die MitarbeiterInnen müssen sich ebenso zu empowerten AssistentInnen entwickeln, die eben in die gesellschaftspolitische Diskussion eintreten bzw. das Eintreten der Angehörigen unterstützen. Der Weg vom UnterstützInnen zu „ZuseherInnen“ von Negativentwicklungen bis hin zum „TäterInnen“ ist auch heute möglich. Deshalb sollte ein Buch wie „Es war nicht immer so“ zur Pflichtlektüre der FachsozialbetreuerInnen, MedizinerInnen und  PsychologInnen in ihrer Ausbildung bzw. ihrem Studium werden. Aber auch die vorhandenen MitarbeiterInnen der sozialen Träger sind immer wieder entsprechend zur Wachsamkeit und zur Öffnung des Blickes gegenüber möglichen Missständen zu schulen. Die Beteiligung an Abwehrkämpfen, wie z.B. der „Plattform 25“ sind wichtig und zu unterstützen.

Wollen wir weitere Fortschritte erreichen, dann dürfen wir uns aber mit dem Status quo nicht zufriedenstellen. Schon heute deuten sich Möglichkeiten für morgen an. Und diese Möglichkeiten müssen wir diskutieren und an deren Erreichung arbeiten. Die Entwicklung von Zukunftswerkstätten ist somit von nachhaltiger Wichtigkeit.

Mark Staskiewicz, arbeitet seit 1997 mit Menschen mit geistiger Behinderung. Er ist seit seinem 14. Lebensjahr gegen Rassismus und Faschismus aktiv und beteiligte sich auch an den Protestbewegungen gegen die Bio-Ethik-Konvention in Deutschland.  Er arbeitet inzwischen als Leiter eines Wohnverbundes der Lebenshilfe-GUV mitten in Graz.

3. Januar 2014