Die Oktoberrevolution und wir

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Lenin spricht in den Revolutionstagen vor Arbeitern und Soldaten in Petrograd.

Es gibt viele runde Jahrestage. Und es ist bezeichnend, auf welche Weise die verschiedenen politischen Kräfte im Laufe der Geschichte auf jene Ereignisse eingehen, welche die gesellschaftliche Entwicklung qualitativ verändert haben, auf Revolutionen.
Die französische Revolution von 1789 und die Revolutionen in Europa 1848 und ihre Ergebnisse werden allgemein als wichtige Grundlagen für die heutigen Verhältnisse gesehen.

Bei dem, was vor genau 100 Jahren in Russland geschehen ist, ist es nicht so.
Am liebsten möchte man die Oktoberrevolution aus der Geschichte streichen. Das gilt für die vorherrschende Meinung im Westen, aber auch für die Regierung in Russland. Fast möchte man meinen, dass den Leuten um Putin ein nahtloser Übergang vom Regime des Zaren zu Stalin am liebsten gewesen wäre und sie mit der revolutionären Unordnung, die durch die Bolschewiki und Lenin ausgelöst wurde, nichts mehr zu tun haben wollen.

Für uns ist das anders. Die Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ) ist am 3. November 1918 gegründet worden. Sie war ein Kind des Protestes von Sozialisten gegen den imperialistischen Weltkrieg und ein Kind der russischen Oktoberrevolution. Gibt es aber eine Verbindung zwischen unserer Arbeit im Jahr 2017 und dem Impuls, der 1917 vom Großen Oktober ausgegangen ist und der jahrzehntelang die Geschicke des revolutionären Flügels der Arbeiterbewegung bestimmt hat?
Wenn wir den Jahrestag nicht nur auf eine rituelle Weise feiern wollen, dann müssen wir untersuchen, ob diese Verbindung, von der wir all die Jahrzehnte bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion ganz selbstverständlich ausgegangen sind, unter den Verhältnissen der Gegenwart weiter besteht und weiterhin eng ist.

Der andere Weg

Es gibt nicht wenige früher kommunistische Parteien, die diesen Zusammenhang ganz bewusst gekappt haben, um als Reformpartei in den Ländern des entwickelten Kapitalismus einen Nischenplatz zu finden. Dass ihr Versagen, sich zu Fürsprecherinnen der arbeitenden Menschen und all jener, die zu Opfern des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus zu machen, mit dieser bewussten Entscheidung zusammenhängt, mehr noch, dass gerade das Fehlen von politischen Kräften, die von den Erfahrungen der Oktoberrevolution und der Geschichte des ersten sozialistischen Versuchs lernen wollen, zum Erstarken von Rassismus und Rechtsextremismus beigetragen haben, kommt ihnen nicht in den Sinn.

Wir sind einen anderen Weg gegangen. Warum? Die Oktoberrevolution und die Geschichte des Realsozialismus waren der praktische Beweis dafür, dass eine andere Welt möglich ist. Die Oktoberrevolution hat auch – als Nebeneffekt – dazu geführt, dass im entwickelten Kapitalismus das eingeführt und ausgebaut wurde, was wir Sozialstaat nennen. Das Ende des aus der Oktoberrevolution hervorgegangenen Staates, hat den Generalangriff des Kapitals auf Löhne und Sozialleistungen gewaltig erleichtert. Diese Funktion hat die UdSSR bis zuletzt ausgeübt – wie auch die Funktion der weltweiten Eindämmung imperialistischer Aggressionen.

Dass wir in einer Zeit des Sozialabbaus und der zunehmenden Kriegsgefahr leben, das hat auch mit dem Verschwinden der Sowjetunion zu tun. Am 100. Jahrestag der Oktoberrevolution ist es sehr nützlich, darauf hinzuweisen.
Wir wissen genau, wo wir herkommen. Die kommunistische Weltbewegung mit ihren Höhen und Tiefen war der bisher wichtigste Beitrag der internationalen ArbeiterInnenbewegung für eine positive und ausbeutungsfreie Entwicklung der Menschheit, gegen den Faschismus, für Demokratie und für sozialen Fortschritt. Das gilt nach wie vor.

Der Realsozialismus gehört in Europa zwar zur Vergangenheit, zur Geschichte unserer Bewegung wie die Französische Revolution oder wie die Pariser Kommune. Er bleibt dabei positiver im Gedächtnis der Völker, als dies die Herrschenden geglaubt haben und der Öffentlichkeit durch ihre Kampagnen immer wieder glauben machen wollen.

Ein Gegenmodell

Eine politische Partei wie die steirische KPÖ ist aber kein Kameradschaftsbund zur Aufrechterhaltung des Andenkens an die Oktoberrevolution. Wir sind eine politische Partei der Arbeiterbewegung, welche die Herrschaft des Kapitals stürzen und Schritte in Richtung Sozialismus gehen will. Unsere praktischen und theoretischen Anstrengungen haben das Ziel, gestützt auf das Erbe aller bisherigen Versuche, im 21. Jahrhundert eine ausbeutungs- und herrschaftsfreie Gesellschaft zu schaffen. Der Realsozialismus gehört in Europa zwar zur Vergangenheit, die Notwendigkeit der Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse ist aber eine Forderung der Gegenwart.

Wir können unsere Strategie aber nicht mehr allein auf die Oktoberrevolution stützen, wenn wir die Sache der Arbeiterklasse vorantreiben wollen. Dabei halte ich für besonders wichtig, die Priorität der gesellschaftlichen Praxis auch für die Theoriebildung wieder ins Bewusstsein zu rücken. Meist geht man den umgekehrten Weg. Die Praxis soll einer scholastisch aufgefassten Theorie dienen.

Dabei fehlt „lediglich“ eine Sache: Wie kommt man in Bewegung, wie schafft man es, nicht in seinen Vorstellungen, sondern in der Realität, gemeinsam mit möglichst vielen arbeitenden Menschen ein Gegengewicht zu schaffen? Noch so korrekte marxistisch-leninistische Formulierungen helfen in diesem Zusammenhang nicht.

Wir haben uns – nicht zufälligerweise sondern bewusst – nach dem Ende der Sowjetunion entschieden, alles zu tun, um eine Praxis zu entwickeln, die uns zu einer Partei macht, die diese Aufgabe erfüllt.

Die schönsten Programme helfen den Leuten nicht, wenn diese unseren AktivistInnen nicht vertrauen. Wir müssen versuchen, gemeinsam mit Leuten, die sich in einem Ausmaß von der herkömmlichen Politik entfernt haben, das wir in seiner Bedeutung noch nicht völlig begriffen haben, für ihre Interessen einzutreten. Deshalb ist die Beratung und die Hilfe bei Alltagsproblemen so wichtig.
Als ein Gegenmodell zur herkömmlichen Politik sind wir deshalb über Graz und die Steiermark hinaus für viele Menschen interessant geworden. Und wir sind gewachsen. Die steirische KPÖ kann weit besser als noch vor 10 oder 15 Jahren alle Aufgaben einer Partei unseres Typs wahrnehmen: den ökonomischen, den politischen und auch den ideologischen Kampf. Es geht darum, Inseln des Widerstands zu schaffen, die den Angriffen der Herrschenden standhalten können auch wenn die Zeiten noch härter werden als jetzt. Nur wenn uns das gelingt, können wir daran denken, die grundlegenden Fragen jeder Revolution in Angriff zu nehmen: Das Ringen um die gesellschaftliche Hegemonie, um die politische Macht und schließlich um die gesellschaftliche Umgestaltung in Richtung Sozialismus.

Ein roter Stern

Die heutigen Meinungsmacher stellen die Oktoberrevolution als einen Putsch dar. Sie verschweigen dabei, dass hunderttausende und Millionen von Menschen im Jahr 1917 wie die Bolschewiki für Brot, Land und Frieden eingetreten sind, sie verschweigen die Wahlerfolge von Lenins Partei am Vorabend des Großen Oktober und sie können den Opfermut so vieler Menschen nicht erklären, die alles gegeben haben – auch ihr Leben –, um die Macht- und Eigentumsverhältnisse im Interesse der Ausgebeuteten und Unterdrückten umzuwälzen und das Zusammenleben der Menschen so zu verändern, dass es keine Herrscher und keine Mägde mehr gibt.

Sehr vieles ist danach anders gekommen. Für mich war und ist der „Große Oktober“ 1917 aber ein roter Stern, der nicht verglüht. Jede grundlegende Umwälzung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung wird mit genau denselben Problemen konfrontiert werden, denen sich Lenin und die anderen Revolutionäre in Russland konfrontiert gesehen haben. Sie haben es gewagt, den Kampf aufzunehmen. Das wird im Gedächtnis der Menschheit bleiben.

Franz Stephan Parteder war von 1991 bis 2011 Vorsitzender der KPÖ Steiermark

7. November 2023