Befreiung und Entnazifizierung

Zum 50 Todestag von Ernst Fischer

Der steirische Kommunist Ernst Fischer war 1945 Staatssekretär für Bildung in der provisorischen Regierung nach der Befreiung Österreichs. Als Beispiel für sein Schaffen der Leitartikel aus "neues Österreich" von 19. August 1945

Denkmal der Befreiung

... eine Lust sein wird, zu leben

Leitartikel, Nr. 101, 19. August 1945. ,,Neues Österreich“

Von Ernst Fischer

 

Es ist eine menschliche, allzu menschliche Eigenschaft von Tag zu Tag zu leben, von Augenblick zu Augenblick. Was das Heute bringt scheint so groß wie ein Gegenstand, den man dicht vor die Augen hält und der den Blick ins Weite verwehrt. Vergangenheit löst sich schnell in Vergessenheit auf, und Künftiges hüllt sich meist in den Nebel unbestimmter Hoffnungen und Befürchtungen. Relativ wenige Menschen leben und denken geschichtlich, im großen Zusammenhang der Ereignisse, durch prüfendes Bewusstsein über das eigene Ich und den flüchtigen Augenblick hinausgehoben.

Um dem Gedächtnis zu Hilfe zu kommen, um Dauerhaftes festzuhalten, errichten die Menschen Denkmäler. Jedes echte Denkmal soll mahnen: Vergiß nicht das Große über dem Kommen und Gehen der Tage, vergiß nicht das Bleibende über dem Vergänglichen! Ein solches Denkmal wird heute in Wien feierlich eingeweiht, das Denkmal der Befreiung auf dem Schwarzenbergplatz. Es soll uns alle und unsere Kinder und Enkerl an die Befreiung Wiens durch die Rote Armee erinnern.

Manche Wiener haben schon halb und halb vergessen, wie das vorher war, in den Jahren des Nazikrieges, die tägliche Angst vor der Gestapo, die qualvollen Stunden im Luftschutzkeller, die Stürme der Zerstörung, die über unsere Stadt hinwegbrausten. In den Wirren der ersten Nachkriegszeit, in den hundertfältigen Schwierigkeiten des Wiederaufbaus hat so mancher sich in seinen zweifellos nicht gering zu achtenden Sorgen verloren. Ihn mahnt das Denkmal: Erinnere dich an die Schreckensjahre der Hitler-Zeit; vergiß nicht, dass die Rote Armee den Krieg und die fremden Tyrannen aus Österreich hinausjagte, dass sie mit schwersten Blutopfern den Weg für ein freies und friedliches Österreich eröffnete.

Von Stalingrad bis Wien ist die Rote Armee marschiert. Furchtbarstes hat sie auf diesem ungeheuren Siegesmarsch erlebt. Die Deutschen ließen auf ihrem Rückzug eine entvölkerte Wüste zurück, die Städte, die Dörfer bis auf die Grundmauern niedergebrannt, Hunderttausende ermordeter Frauen und Kinder, schauerliche Massengräber, in denen die Niedergemetzelten Schicht auf Schicht lagen, jedes Massengrab wie ein klaffender Riesenmund, der nach Rache rief, nach Vergeltung schrie. Sie sind an Vernichtunglagern vorbeimarschiert, die Kämpfer der Roten Armee, an jenen Lagern, in denen die deutschen Henker Millionen Menschen zu Tode folterten, in denen die Verbrennungsöfen Tag und· Nacht rauchten, in denen Berge von Menschenknochen und Totenschädeln aufgetürmt waren, entsetzliche Anklage gegen Hitler-Deutschland, gegen die Waffenträger der deutschen Venichtungswut. Sie haben Bilder gesehen und Tragödien erlebt, die über jedes menschliche Fassungsvermögen hinausgehen, und es wäre verständlich gewesen, wenn sie als unerbittliche Rächer gekommen wären, als Todfeinde aller Menschen, die zum deutschen Sprachkreis gehören.

Die Rote Armee ist trotz dieser tief in sie eingebrannten Erbitterung nicht als Feind gekommen. Sie hat uns die Freiheit gebracht, die Freiheit, in der wir uns eine österreichische Provisorische Regierung geben konnten, in der wir unsere Demokratie aufzurichten vermochten, in der wir Schritt für Schritt aus der Hölle des Krieges, in die Welt des Friedens zurückkehrten.

Niemand übersieht die großen Anstrengungen, deren es bedarf, um aus den durch die Kriegsschrecken bis ins Innerste aufgewühlten Zuständen wieder in das Dasein der Arbeit, des Friedens und der gesicherten Zivilisation zurückzufinden, aber dass wir überhaupt imstande waren, diesen Weg zu beschreiten, dass wir dem, von den Nazi geplanten totalen Untergang entronnen sind, das danken wir der Roten Armee; ihrem Heldenmut und dem unwiderstehlichen Tempo ihrer Offensive. Die Gefahr, dass in Wien kein Stein auf dem andern blieb, war riesengroß: die Rote Armee hat uns vor diesem Schicksal bewahrt.

Das Denkmal der Befreiung soll uns und unsere Nachkommen an diese weltgeschichtliche Tat erinnern. Über die Sorgen unseres Alltags soll es hinausragen‚ ein machtvolles Rufzeichen: Die russischen Waffen haben Wien gerettet. Es gibt wieder ein Österreich. Und dieses Österreich, heute noch leidend unter den Nachwirkungen des verbrecherischen Nazikrieges, wird in freier demokratischer Entwicklung wieder zu einem Land werden, in dem es eine Lust sein wird, zu leben.

 

 

Sammelband: Das Jahr der Befreiung

Artikel aus "Neues Österreich", 1945 und 1946
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29. Juli 2022