Aufruf zur Feier

50 Jahre Marsch auf das Pentagon

Der gebürtige Österreicher Ivica  Ilić verfasste 1967 anläßlich eines Protests gegen den Vietnam Krieg  gemeinsam mit anderen einen Aufruf zur Feier - ein Aufruf zu einer radikal neuen Herangehensweise an gesellschaftliche Veränderungen.

Ivica  Ilić

Aufruf zur Feier 

 

Ich und viele andere, die mir bekannt sind oder auch nicht, rufen euch auf:

zur Feier unserer gemeinsamen Kräfte, damit alle Menschen die  Nahrung, Kleidung und Behausung erhalten, derer sie bedürfen, um sich des Lebens zu erfreuen; 

zu gemeinsamer Entdeckung dessen, was wir tun müssen, damit die unbegrenzte Macht der Menschheit dazu benutzt wird jedem von uns Menschlichkeit, Würde und Freude zu verschaffen;

zu verantwortlicher Bewusstheit unsere persönlichen Fähigkeit, unseren wahren Gefühlen Ausdruck zu verleihen und uns dabei zusammenzuschließen.

 

Wir können diese Veränderungen nur leben; wir können unseren Weg zur Menschlichkeit nicht denken. Jeder einzelne von uns und jede Gruppe, in der wir leben und arbeiten, muss zum Modell des Zeitalters werden, das wir zu schaffen begehren.  Die vielen Modelle, die dabei entstehen, müßten jedem von uns eine Umwelt bescheren, in der wir unser Vermögen feiern und den Weg in eine menschlichere Welt entdecken können.

 

Wir sind herausgefordert, die überholten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnungen aufzubrechen, die unsere Welt zwischen Überprivilegierte und Unterprivilegierte aufteilen.

 

Wir alle - ob Minister oder Protestler, Geschäftsmann oder Arbeiter, Professor oder Student - sind Mitschuldige. Wir haben es unterlassen herauszufinden, wie die notwendigen Veränderungen unserer Ideale und unserer gesellschaftlichen Strukturen herbeigeführt werden können. Daher verursachen wir alle durch unser Unvermögen und durch unsern Mangel an verantwortlichem Bewusstsein das Leiden ringsum in der Welt.

 

Wir sind alle verkrüppelt - manche körperlich, manche geistig, manche seelisch. Deshalb müssen wir gemeinsam daran arbeiten, die neue Welt zu schaffen. Es ist keine Zeit mehr für Zerstörung, für Haß, für Zorn. Wir müssen aufbauen: in Hoffnung, Freude und Feier. 

Lassen wir ab davon, die Strukturen des industriellen Zeitalters zu bekämpfen. Suchen wir lieber nach dem neuen Zeitalter des Überflusses mit selbstgewählter Arbeit und mit der Freiheit, der Trommel des eigenen Herzens zu folgen. Laßt uns erkennen, dass das Streben nach Selbstverwirklichung, nach Poesie und Spiel dem Menschen eigentümlich ist, sobald seine Bedürfnisse nach Nahrung, Kleidung und Behausung befriedigt sind, und lass uns diejenigen Tätigkeitsgebiete auswählen, die zu unserer eigenen Entwicklung beitragen und für unsere Gesellschaft etwas bedeuten.

 

Wir müssen aber auch erkennen, dass unser Vorstoß zur Selbstverwirklichung grundlegend behindert wird durch überholte Strukturen des industriellen Zeitalters. Gegenwärtig werden wir durch das Gewicht der ständig wachsenden Kräfte des Menschen zugleich eingeengt und angetrieben. 

Die bestehenden Ordnungen zwingen uns, jedes Waffensystem, das von der Technik ermöglicht wird, zu entwickeln und hinzunehmen. 

Unsere gegenwärtigen Ordnungen zwingen uns, jede Verbesserung von Maschinen, Ausrüstung, Material und Zufuhren zu entwickeln und hinzunehmen, welche die Produktion steigern und die Kosten senken. 

Unsere gegenwärtigen Ordnungen zwingen uns, die Werbung und die Verführung der Konsumenten zu fördern und hinzunehmen.

 

Um den Bürger davon zu überzeugen, dass er über sein Schicksal bestimmt, dass das Sittengesetz die Entscheidungen lenkt und dass die Technik eher Diener als Antreiber ist, muss man heute die Informationen verzerren. Das Ideal, die Öffentlichkeit zu unterrichten, ist dem Versuch gewichen, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass erzwungene Aktionen tatsächlich wünschenswerte Aktionen seien.

 

Fehlrechnungen bei diesen immer komplizierter werdenden Rechtfertigungen und die daraus folgenden Skandale liefern die Erklärung dafür, dass die Ehrlichkeit derer, die im privaten und öffentlichen Leben Entscheidungen treffen, immer häufiger in Frage gestellt wird. Daher liegt es nahe, diejenigen anzugreifen, die als politische Führer, Beamte, Manager, Verwalter, Geschäftsführer, Professoren, Studenten oder Eltern eine Rolle spielen. Solche Angriffe auf einzelne verhüllen jedoch häufig die wahre Natur der Krise, mit der wir es zu tun haben: die dämonische Natur der gegenwärtigen Ordnungen, welche den Menschen zwingen, seiner immer tiefer gehenden Selbstzerstörung zuzustimmen.

 

Wir können diesen entmenschlichenden Ordnungen entrinnen. Den Ausweg werden diejenigen finden, die nicht bereit sind, sich von den scheinbar alles bestimmenden Kräften und Strukturen des industriellen Zeitalters einengen zu lassen. Unsere Freiheit und unsere Macht hängen von unserer Bereitschaft ab, Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen.

Die Zukunft ist ja bereits in die Gegenwart eingebrochen. Jeder von uns lebt in vielen Zeiten. Die Gegenwart des einen ist die Vergangenheit des andern und die Zukunft wieder eines andern. Wir sind zu einem Leben aufgerufen, in dem wir wissen und zeigen, dass es die Zukunft gibt und dass jeder von uns, wenn wir so wollen, die Zukunft in Anspruch nehmen kann, um sie gegen die Vergangenheit aufzuwiegen.

 

In der Zukunft müssen wir der Anwendung von Zwang und Autorität ein Ende machen, also der Fähigkeit, aufgrund der eigenen hierarchischen Stellung zu verlangen, dass etwas getan werde. Wenn man das Wesen des neuen Zeitalters überhaupt in eine Formel fassen kann, so lautet diese: das Ende von Privileg und Bevorzugung. Autorität sollte erwachsen aus der besonderen Fähigkeit, ein bestimmtes gemeinsames Vorhaben zu fördern.

 

Wir müssen von dem Versuch ablassen, unsere Probleme dadurch zu lösen, dass wir Machtverhältnisse verschieben oder versuchen, leistungsfähigere bürokratische Apparate zu schaffen.

Wir rufen euch auf, teilzunehmen am Wettlauf des Menschen um Reife und mit uns zusammenzuarbeiten an der Erfindung der Zukunft. Wir glauben, dass ein großes Abenteuer der Menschheit eben anhebt: dass die Menschheit bisher daran gehindert wurde, ihre erneuernden und schöpferischen Kräfte zu entwickeln, weil sie von Mühsal überwältigt war. Jetzt steht es uns frei, so menschlich zu sein, wie wir wollen.

 

Feiern wir des Menschen Menschlichkeit, indem wir uns zusammen finden in der heilenden Gestaltung unserer Beziehungen zu andern und indem wir mehr und mehr ja sagen zu unserer eigenen Natur und ihren Bedürfnissen, dann kommt es offensichtlich zu größeren Konfrontationen mit den vorhandenen Wertbegriffen und Ordnungen. Die Ausweitung der Würde jedes Menschen und jeder menschlichen Beziehung muss notwendigerweise vorhandene Ordnungen herausfordern.

Es geht darum, die Zukunft zu leben. Schließen wir uns freudig zusammen, um unsere Bewusstheit zu feiern, dass wir unserm heutigen Leben die Gestalt der morgigen Zukunft geben können.

 

Nach Beck: Klarstellungen: Pamphlete und Polemiken/Ivan Illich:

24. Februar 2017