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"Volksabstimmung über neue EU-Verträge"

Interview mit Boris Lechthaler - Solidarwerkstatt Linz

„Eine solidarische Perspektive ist mit diesen Verträgen völlig ausgeschlossen!"
Die neuen EU-Verträge bzw. die sog. Schuldenbremse sollen den gewählten Parlamenten die Budgethoheit entziehen und in das bestehende Sozialsystem hineinhacken. Boris Lechthaler im Gespräch über die Strategie der Solidarwerkstatt gegen diese Budgetdiktate: "Die neuen Verträge müssen verhindert werden. Gelingen kann dies nur über eine Volksabstimmung, auch in Österreich."

Werkstatt-Blatt: Die Solidarwerkstatt ruft dazu auf, dass Befürworter eines EU-Austritts und Menschen, die an der Perspektive einer solidarischen und demokratischen EU festhalten, gemeinsam eine Volksabstimmung über die neuen Verträge zu einer Fiskalunion und die Verankerung einer Schuldenbremse in die Verfassung durchsetzen. Warum?

Boris: Weil es notwendig ist. Gerade die jüngsten Ereignisse im Gefolge der Herabstufung durch Standard&Poors zeigen, dass das politische Establishment dabei ist, den Kopf zu verlieren. S&P sagen klar, ein Grund für das Downgrading sei, dass die politischen Anstrengungen zur Lösung der Krise auf die Staatsschulden fokussieren, obwohl die auseinanderlaufende Entwicklung der Produktivität für die Eurokrise verantwortlich ist. In den öffentlichen Reaktionen ertönt jedoch eine Kakophonie von Sparvorschlägen. Als Held inszeniert sich, wer am beherztesten in bestehende Strukturen, das Sozialsystem, den öffentlichen Sektor hineinhacken will. Das Euro-Projekt war und ist der Versuch, allein über die Zentralisierung der Geldpolitik ein einheitliches Produktivitätsregime à la Hartz IV zu erzwingen. Dieser Versuch ist gescheitert, wesentlich aufgrund der fortdauernden Autonomie in der Budgetpolitik und der Tarifautonomie. Jetzt geht es den Machteliten darum, Durchgriffsrechte eben auf die Budget-, Sozial- und Tarifpolitik zu bekommen. Es geht um eine fundamentale Machtverschiebung zugunsten der Eliten der großen EU-Staaten, insbesondere Deutschlands. Die Solidarwerkstatt sieht die Gefahr, dass es dem Establishment gelingt, Teilen der Gesellschaft die Durchsetzung von Durchgriffsrechten als Schritt, der auch eine Solidarunion ermöglicht, zu verkaufen. Es werden ein paar Placebos in Richtung Finanztransaktionssteuern und vermögensbezogener Steuern abgesondert. Der machtpolitische Kern der bis jetzt vorliegenden Vertragsentwürfe ist jedoch die Unterwerfung des öffentlichen Sektors unter die Interessen der um Hegemonie im globalen Maßstab ringenden europäischen Exportindustrie. Darum geht es bei den Durchgriffsrechten. Wer das nicht wahrhaben will, belügt sich selbst und die Mitmenschen. Über eine Volksabstimmung können wir diesen Unterwerfungsakt verhindern. Wer an der Perspektive einer solidarischen und demokratischen EU festhält, muss jetzt beweisen, dass das keine leere Worthülse ist. Die neuen Verträge müssen verhindert werden. Gelingen kann dies nur über eine Volksabstimmung, auch in Österreich.

Werkstatt-Blatt: Manche meinen, aus der Fiskalunion könne sich dann ja eine Transferunion entwickeln?

Boris: Dazu zwei Überlegungen:

Erstens: Transfers würden im EU-Binnenmarktregime nur zu einer weiteren Unterordnung der Peripherie führen. Nationale wirtschaftliche Strukturen würden noch stärker unter die Räder kommen und Landstriche würden deindustrialisiert. Mit Transfers wie sie z. B. im Zusammenhang mit gemeinsamen Euro-Anleihen diskutiert werden, würde bloß die private Aneignung aussichtsreicher Projekte mit öffentlichen Mitteln, etwa über PPP-Modelle, gefördert.

Zweitens: Eine solidarische Perspektive ist mit diesen Verträgen völlig ausgeschlossen. Die ganze Konstruktion ist ja nur scheinlegal. Einerseits wird die Kommission gestärkt. Sie soll die Einrichtungen schaffen und darüber verfügen, die Durchgriffsrechte etwa auf kommunale Budgets exekutieren zu können. Schlagend werden diese Rechte allerdings nur in einem Defizitverfahren. Das geht nur in eine Richtung. Ein Durchgriff z. B. wegen Säumnissen bei der Überwindung der Pflegemisere ist völlig ausgeschlossen. Rechtlich abstrus ist, dass die vertraglichen Grundlagen außerhalb der EU geschaffen werden sollen. Das heißt der Prozess der Verdoppelung von Recht schreitet weiter voran. Das schafft Interpretationsraum, der von jenen die faktisch Macht haben, gefüllt wird. Und faktisch wird das Gewicht der deutschen Eliten mit jedem Tag bedeutender. Gefüttert aus den Exportüberschüssen hat Deutschland ein Gewicht erlangt, mit dem es jedes Land in der EU rasch in die Knie zwingen kann. Manche meinen ja, die EU sei ein armes Opfer der Finanzmärkte, dem mit guten Ratschlägen beigestanden werden muss. Die EU schafft jedoch erst die Voraussetzungen, mit denen die Mitgliedsstaaten gegenüber den Machteliten im Spiel über die Bande Finanzmarkt erpressbar werden. Von diesen Eliten eine solidarische und demokratische Wende zu fordern, heißt in einer pubertären Haltung zu verharren. Man applaudiert der Stärkung der Machtmittel der Eliten in der stumpfsinnigen Hoffnung, diese würden sie zur Erfüllung der eigenen, so schönen Forderungen einsetzen. Wir stehen jedoch vor der Aufgabe, diesen Eliten die Macht zu nehmen, ihnen quasi ins Steuer zu greifen, bevor sie an die Wand fahren.

Werkstatt-Blatt: Wäre es da nicht sinnvoller, alle Kräfte auf den EU-Austritt zu konzentrieren?

Boris: Die Solidarwerkstatt ist überzeugt, dass auf dem Weg zur Errichtung eines Solidarstaats der EU-Austritt unvermeidlich ist. Wir wissen jedoch, dass dies ein schwieriger Weg ist, und wir haben deshalb Verständnis, wenn manche zögern, ihn einzuschlagen. Mit den neuen Verträgen wird nicht nur eine demokratische und solidarische Perspektive für die EU endgültig verbaut, sondern auch die Bedingungen für einen Austritt werden noch komplexer. Beide Strömungen haben höchstes Interesse daran, die neuen Verträge zu verhindern. Das heißt ja nicht, die Verhältnisse unter einen Glassturz zu stellen. Der Status quo kann nicht von Dauer sein. Dafür sorgt die Krisendynamik. D. h. Werden die neuen Austeritätsverträge verhindert, drängt eine solidarische Wende in welcher Form auch immer unvermittelt auf die Tagesordnung.

Werkstatt-Blatt: Und wenn diese Verträge nicht verhindert werden können?

Boris: Wir werden beweisen, dass diese Verträge ohne Volksabstimmung keine Rechtskraft entfalten können. Das muss möglichst vielen Menschen bewusst werden. Das wird für die weiteren Auseinandersetzungen entscheidend sein.

Werkstatt-Blatt: In den Vertragsentwürfen ist vorgesehen, dass die Verträge rechtskräftig werden, sobald sie in zwölf Staaten ratifiziert sind.

Boris: Das zeigt die Entschlossenheit, insbesondere der deutschen Eliten, das durchzuziehen. In allen Ländern, in denen sich die Bevölkerung querlegt, wird enormer Druck entstehen. Viele meinen ja, mit EU-phorismus würden sie einen Kontrapunkt zur Politik der FPÖ setzen. Mit diesen Verträgen nimmt die EU genau jene Form an, die auch die FPÖ anstrebt: eine deutsch geführte kerneuropäische Hartwährungszone mit einer völlig abhängigen Peripherie.

Werkstatt-Blatt: Welche Schritte sind geplant?

Boris: Am Samstag, 3. März 2012, wollen wir bei einem österreichweiten Plenum in Wien über die Aktionsorientierung beraten. Ziel ist eine große Protestaktion vor Ratifikation des Vertrags im Parlament.

„Die neuen Verträge müssen verhindert werden. Gelingen kann dies nur über eine Volksabstimmung, auch in Österreich.“

28. Januar 2012