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"Ein roter Stern, der nicht verglüht"!

Beitrag von Franz St. Parteder in der JW-Beilage zum 90. Jahrestag der Oktoberrevolution

Franz Stephan Parteder

Ein roter Stern, der nicht verglüht.
Die Oktoberrevolution und unsere Arbeit in der Steiermark

I
7. November 1975. 10 Uhr. Moskau. Ich stehe auf der Zuschauertribüne vor dem Kaufhaus GUM, direkt gegenüber dem Lenin-Mausoleum. Dort kann ich die Mitglieder des Politbüros der KPdSU als kleine Punkte mit Pelzmützen auf dem Kopf erkennen. Ein Marschall im offenen Wagen eröffnet die Parade. Hurra!
Vielleicht 20 Minuten lang ziehen Panzer, Raketen, Elitetruppen an uns vorbei, dann folgt eine stundenlange Demonstration von „Vertretern der Moskauer Werktätigen“ über den Roten Platz. Ich gehe hinunter und trinke einen Becher Glühwein um 1 Rubel.
Und schaue meine Eintrittskarte an. Sie ist schön gestaltet, färbig, sorgfältig gedruckt. Ich musste sie mehrmals vorweisen, um die Sperren zu überwinden und meinen Platz auf der Tribüne einzunehmen. Ohne diesen Propusk wäre ich abgewiesen worden.
Wie schon am Vorabend, als im Kongresspalast im Kreml die Festveranstaltung zum Jahrestag der Oktoberrevolution stattgefunden hat. Vor mehreren tausend Menschen, die auf das ausgesuchte Buffet danach warteten, hat ein Mitglied des Politbüros einen langweiligen Text verlesen, etwas für Kreml-Astrologen.
Wir haben Glück gehabt. Ganz in unserer Nähe hatte die vietnamesische Partei- und Staatsführung ihre Sitzplätze – ein halbes Jahr nach dem Sieg über die USA ist sie in die Sowjetunion gekommen. Und danach, im Foyer konnten wir Dolores Ibarruri sehen, die spanische Kommunistin, welche nach Jahrzehnten des Exils in der Sowjetunion bald in ihre Heimat zurückkehren würde.
Im Taganka-Theater wird die Revue „10 Tage, die die Welt erschütterten“ nach John Reed gespielt. Juri Ljubimow führt Regie. Auf der Bühne und im Zuschauerraum sind rote Matrosen, Arbeiter, revolutionäre Frauen, sie verteilen Flugblätter und Manifeste – Gestalten aus einer anderen Welt.

II
Das alles ist 32 Jahre her. Heute, am 15. Oktober 2007, arbeite ich als Klubsekretär der KPÖ im Grazer Rathaus. Wir bereiten die nächste Gemeinderatssitzung vor. Es geht um Bebauungspläne, die Kosten für die Pflege von Angehörigen, um unsere Forderung nach einem Sozialpass für Menschen mit niedrigem Einkommen oder um die Verteidigung des öffentlichen Eigentums.
Die Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ) ist am 3. November 1918 gegründet worden. Sie war ein Kind des Protestes von Sozialisten gegen den imperialistischen Weltkrieg und ein Kind der russischen Oktoberrevolution.
Das Ende der Sowjetunion hat auch unsere Partei in eine Existenzkrise gestürzt. Wir haben es seither zwar geschafft, auf lokaler und regionaler Ebene in der Steiermark relevante und sichtbare Positionen zu erkämpfen und ein Gegengewicht zur Politik der Herrschenden zu werden. Gibt es aber eine Verbindung zwischen unserer Arbeit im Jahr 2007 und dem Impuls, der 1917 vom Großen Oktober ausgegangen ist und der jahrzehntelang die Geschicke des revolutionären Flügels der Arbeiterbewegung bestimmt hat?
Mein Vater war Ofenmaurer bei den Veitscher Magnesitwerken; politisch interessiert, aber bei keiner Partei. Und er hat mir immer wieder gesagt. „Wenn es die Sowjetunion nicht gäbe, was wäre dann mit unseren Sozialleistungen?“
Die Oktoberrevolution hat (als Nebeneffekt) dazu geführt, dass im entwickelten Kapitalismus das eingeführt und ausgebaut wurde, was wir Sozialstaat nennen. Das Ende des aus der Oktoberrevolution hervorgegangenen Staates, hat den Generalangriff des Kapitals auf Löhne und Sozialleistungen gewaltig erleichtert. So unzufrieden man mit der Sowjetunion unter Stalin, Chruschtschow und Breschnew auch sein konnte, diese Funktion hat die UdSSR bis zuletzt ausgeübt – wie auch die Funktion der weltweiten Eindämmung imperialistischer Aggressionen. Allein der Halbsatz „Tass ist ermächtigt, zu erklären“ hatte damals den Effekt, den USA in einigen Weltregionen Grenzen zu setzen.

Am 90. Jahrestag der Oktoberrevolution ist es sehr nützlich, darauf hinzuweisen.
Wir wissen genau, wo wir herkommen. Die kommunistische Weltbewegung mit ihren Höhen und Tiefen war der bisher wichtigste Beitrag der internationalen ArbeiterInnenbewegung für eine positive und ausbeutungsfreie Entwicklung der Menschheit, gegen den Faschismus, für Demokratie und für sozialen Fortschritt. Das gilt 90 Jahre nach der Oktoberrevolution und 16 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion nach wie vor.
Der Realsozialismus gehört in Europa zwar zur Vergangenheit, zur Geschichte unserer Bewegung wie die Französische Revolution oder wie die Pariser Kommune. Er bleibt dabei positiver im Gedächtnis der Völker, als dies die Herrschenden geglaubt haben und der Öffentlichkeit durch ihre Kampagnen immer wieder glauben machen wollen.

III
Eine politische Partei wie die steirische KPÖ ist aber kein Kameradschaftsbund zur Aufrechterhaltung des Andenkens an die Oktoberrevolution. Wir sind auch kein Philologenverein, der die Terminologie der Komintern ins 21. Jahrhundert retten will. Wir sind eine politische Partei der Arbeiterbewegung, welche die Herrschaft des Kapitals stürzen und Schritte in Richtung Sozialismus gehen will. Unsere praktischen und theoretischen Anstrengungen haben das Ziel, gestützt auf das Erbe aller bisherigen Versuche, im 21. Jahrhundert eine ausbeutungs- und herrschaftsfreie Gesellschaft zu schaffen.
Wenn ich vom Erbe aller bisherigen Versuche spreche, so denke ich auch an den Faktor Zeit.

90 Jahre nach der Französischen Revolution war das Jahr 1879 – Kapitalismus im Übergang von der Phase des Konkurrenzkapitalismus zum Imperialismus mit einer Arbeiterbewegung, welche sich im Aufschwung befand.

90 Jahre nach der Pariser Commune war das Jahr 1961 – das Jahr der Schweinebucht und von Gagarin, im Zeichen der Systemkonkurrenz zwischen Kapitalismus und Sozialismus.

90 Jahre nach der Oktoberrevolution schreiben wir das Jahr 2007. Ist uns der Sturm auf das Winterpalais genau so fern, wie dies im Jahr 1879 der Sturm auf die Bastille und 1961 die Tage der Commune waren?

Natürlich ist die Bedeutung der Oktoberrevolution auch heute nach 90 Jahren noch größer als dies bei den anderen Beispielen war, weil die Geschichte des staatlichen Sozialismus in Europa mehrere Jahrzehnte lang gedauert hat, trotzdem leben wir in einer anderen Zeit.
Es stimmt aber, dass die grundlegenden gesellschaftlichen Probleme noch immer der Lösung harren, wobei die damaligen Lösungsansätze im Guten wie im Schlechten lehrreich sind.
Das dürfen wir nie vergessen. Gleichzeitig müssen wir darüber nachdenken, was anders geworden ist und wie wir hier und jetzt die Leute an das Bewusstsein einer grundlegenden gesellschaftlichen Umwälzung heranführen können.

Wer heute 18 Jahre alt ist, hat keine Erinnerung mehr an den Realsozialismus in Europa. Er kennt das alles nur aus Büchern und wundert sich vielleicht über den scholastischen Streit zwischen in Ehren ergrauten marxistischen Wissenschaftern über die Vergangenheit unserer Bewegung. Junge Leute von heute sehen etwas anderes: Den Aufschwung sozialistischer Ideen vor allem in Lateinamerika und die riesigen gesellschaftlichen Widersprüche des real existierenden Kapitalismus.
Wir haben in dieser Situation sehr viel zu sagen, weil wir wissen, wo wir hinwollen. Der Realsozialismus gehört in Europa zwar zur Vergangenheit, die Notwendigkeit der Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse ist aber eine Forderung der Gegenwart.

IV

Die Oktoberrevolution und auch der Realsozialismus in Osteuropa sind Geschichte. Sie haben nicht mehr die zentrale Bedeutung, welche sie von 1917 bis 1991 hatten. Wir müssen aus dieser Geschichte lernen. Wir können unsere Strategie aber nicht mehr allein auf die Oktoberrevolution stützen, wenn wir die Sache der Arbeiterklasse vorantreiben wollen.
Dabei halte ich für besonders wichtig, die Priorität der gesellschaftlichen Praxis auch für die Theoriebildung wieder ins Bewusstsein zu rücken. Meist geht man den umgekehrten Weg. Die Praxis soll einer scholastisch aufgefassten Theorie dienen.
Dabei fehlt „lediglich“ eine Sache: Wie kommt man in Bewegung, wie schafft man es, nicht in seinen Vorstellungen, sondern in der Realität, gemeinsam mit möglichst vielen arbeitenden Menschen ein Gegengewicht zu schaffen? Noch so korrekte marxistisch-leninistische Formulierungen helfen in diesem Zusammenhang nicht.
Ohne gesellschaftliche Praxis gibt es keine revolutionäre Theorie. Für mich ist das eine ganz wichtige Umkehrung gängiger Redensarten, die sich gegen den Kathedermarxismus richtet, der in der kommunistischen Bewegung schon genug Unheil angerichtet hat. Wir müssen mit dem eigenen Kopf denken und dürfen nie vergessen, dass wir auch in Österreich nicht die einzigen sind, für die der jetzige Weltzustand nicht das Ende der Geschichte ist. Das haben wir nämlich in jeder Etappe unseres Weges in der Steiermark ganz deutlich gesehen. Unsere Erfolge sind deshalb so groß geworden, weil uns immer wieder sehr viele Menschen aktiv oder mit ihrer Stimme bei Wahlen unterstützt haben, die sich das vielleicht sehr lange nicht einmal im Traum vorgestellt hätten, einmal Seite an Seite mit den Kommunisten zu stehen. Und auch wir haben in dieser Zeit viel gelernt. Prinzipienfestigkeit besteht nicht darin, immer wieder die in einem bestimmten politischen Code „richtigen“ Reizwörter zu wiederholen, sondern auch darin, in Entscheidungssituationen Vorschläge und Lösungsmöglichkeiten zu erarbeiten, die den Interessen der arbeitenden Menschen, unserer Wählerkoalition und unserer Grundorientierung entsprechen.
Auf diesem Weg müssen wir weiter gehen.

V
Wir sind kein Kameradschaftsbund zur Aufrechterhaltung des Andenkens an die Oktoberrevolution. Für mich war und ist der „Große Oktober“ 1917 aber ein roter Stern, der nicht verglüht. Jede grundlegende Umwälzung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung wird mit genau denselben Problemen konfrontiert werden, denen sich Lenin und die anderen Revolutionäre in Russland konfrontiert gesehen haben. Sie haben es gewagt, den Kampf aufzunehmen. Das wird im Gedächtnis der Menschheit bleiben.

6. November 2007