Wie weiter mit der EU?

Thüringen: das Ende der Sozialpartnerschaft?

Bild aus Mariahof, Steiermark, wikipedia.

Wir Österreicher teilen uns mit Thüringen das Hinterwäldlertum und die Prinzessin Elisabeth. Trotzdem gibt es genug Gründe sich mit den Vorgängen im Freistaat Thüringen auseinanderzusetzen.

„Hauptsache, die Sozialisten sind weg“1

Von Jörg Goldberg, André Leisewitz

 

Zeitschrift Marxistische Erneuerung

Nur 25 Stunden nach seiner Wahl zum Thüringer Ministerpräsidenten musste FDP-Mann Thomas Kemmerich den Rücktritt ankündigen. Am Abend des 6. Februar schien das Experiment einer AfD-gestützten Landesregierung erstmal gescheitert. Für die „bürgerliche Mitte“ ist eine Kooperation mit der AfD auf Landesebene vorerst keine Option. Vorerst: Denn Bruchlinien sind unübersehbar: Am deutlichsten war der Zuspruch für Kemmerich in der FDP; in der CDU-Führung wurde die Haltung der Thüringer „Parteifreunde“ zwar mehr oder weniger heftig kritisiert, von Sanktionen gegen diese oder gegen Mitglieder der ‚Werteunion‘, die die Kemmerich-Wahl – wie die Junge Union - begrüßt hatten, war keine Rede. Offensichtlich waren die Parteiführungen von CDU und FDP schon vor der Abstimmung in Erfurt über mögliche AfD-Kooperationen informiert, waren aber nicht willens bzw. in der Lage, die absehbare Entwicklung zu stoppen.

Auch wenn bei Abfassung dieses Kommentars unklar war, wie sich die Dinge vor Ort entwickeln würden, so ist doch festzuhalten, dass der „Tabubruch“ vom 5. Februar die politische Landschaft der Bundesrepublik verändert hat: Die Einbeziehung der AfD ist nun eine mögliche Machtoption. Sie wird nicht wieder verschwinden. Die Frage ist, warum Teile von FDP und CDU bereit waren, ein solches Experiment zuzulassen, obwohl die AfD mit ihrem völkisch-nationalen Diskurs quer zur Weltmarktorientierung des deutschen Kapitals liegt.

Dafür gibt es mehrere Gründe. Zunächst fällt die Unfähigkeit der Führungen im konservativen Lager ins Auge, konsistente Machtstrategien zu formulieren und durchzusetzen. Die Thüringer Ereignisse illustrieren drastisch den auf vielen Feldern konstatierten „Kontrollverlust“ (s. den Redaktionsartikel im gleichen Heft). Ein weiterer Grund dürfte sein, dass platter Antikommunismus und Antisozialismus etwas aus der Mode gekommen sind. Viele in CDU und FDP – siehe vor allem die Stellungnahme der ‚Werteunion‘ – halten dies für unverzichtbar und können nur schwer ertragen, wenn ein Linken-Ministerpräsident Friedrich Merz zufolge „bis in die Mitte hinein Sympathien genießt“. Dass in der CDU eine wenn auch nur punktuelle Kooperation mit einer von Ramelow geführten Landesregierung nicht ausgeschlossen wird, wurde von Einigen als eigentlicher „Dammbruch“ empfunden. Vieles spricht dafür, dass die in Thüringen einflussreiche CDU-Rechte, die schon lange auf Zusammengehen mit der AfD orientiert (dafür stehen u.a. die Namen Maaßen und Vera Lengsfeld) die Berliner Parteiführung, d.h. AKK und Merkel, desavouieren wollte. Thüringen ist der erste Versuch, zu einer politischen Neuformierung des rechten Blocks unter Einbeziehung der AfD zu kommen. Überraschend ist dabei nur das Tempo, die Missachtung historischer Faktoren (vor 90 Jahren wurde in Thüringen der erste NSDAP-Minister etabliert) und die Schamlosigkeit, dies zusammen mit dem erklärten Faschisten und Geschichtsrevisionisten Höcke umzusetzen.

Schließlich verstehen sich CDU, FDP und AfD als Eigentumsparteien – die Verteidigung des Privateigentums ist die DNA der „bürgerlichen Mitte“. Obwohl diese Grundlage des Kapitalismus gegenwärtig nirgendwo ernsthaft in Frage gestellt wird, gelten im „bürgerlichen“ Lager Debatten, die punktuelle Beschränkungen der Eigentumsrechte nicht ausschließen, als alarmierend, wobei schon die Deckelung von Renditen und progressive Steuern als Eingriff ins Privateigentum empfunden werden „Der Schutz des Eigentums ist ein hoher grundgesetzlicher Schutz – den dürfen wir nicht untergraben oder irgendwie in Frage stellen“ hatte Thomas L. Kemmerich am 9. April 2019 zur „aktuellen Enteignungsdebatte“ erklärt. Das meinte auch Friedrich Merz, als er am 22. September in der „Welt“ behauptete, die Klimabewegung sei der Versuch der „Zerstörung der marktwirtschaftlichen Ordnung“. Dass die FDP bei der Einbeziehung der AfD in den herrschenden Block voranprescht, kann nicht überraschen. Beide Parteien haben die gleichen Wurzeln. Die FDP stützt sich – wie die AfD – wahlpolitisch stark auf Selbständige und mittelständische Kapitalfraktionen, die am ehesten in Panik geraten, wenn sie das Privateigentum bedroht glauben. Kemmerich, als Eigner einer Friseurkette idealtypischer Repräsentant dieser Fraktion, machte im Gespräch mit Marietta Slomka am 6. Februar nochmal deutlich, dass es für ihn „auch gegen linke radikalistische Forderungen, Enteignungsfantasien …“ geht.

Für die linke Seite des politischen Spektrums, einschließlich SPD und Grüne, muss Thüringen ein Weckruf sein: Wenn sich die Möglichkeit bietet, werden die „bürgerlichen“ Parteien selbst gemäßigt reformistischen Konstellationen eine politische Blockbildung vorziehen, die die Garantie bietet, dass das Privateigentum nicht „irgendwie in Frage gestellt“ wird. Alle anderen strategischen Ziele des Kapitals sind nachrangig, wenn (nach Ansicht der „bürgerlichen Mitte“) das Eigentum zur Debatte gestellt wird. Der Linkspartei wurde demonstriert, dass die Hoffnung, durch historische ‚Kompromisse‘ („DDR-Unrechtsstaat“), ‚bürgerliches‘ Wohlverhalten und den Appell an den ‚demokratischen Konsens‘ CDU und FDP zu wenigstens korrektem Verhalten gegenüber linken Konstellationen zu bewegen, völlig illusionär ist. Und jetzt steht die Erfurter Koalition aus Linkspartei, SPD und Grünen vor dem Problem – wenn es nicht zu Neuwahlen kommt – sich von zwei Parteien „tolerieren“ zu lassen oder punktuell mit ihnen zusammenzuarbeiten, die eben noch mit der AfD gegen sie intrigierten. Schöne Aussichten …

Jörg Goldberg/André Leisewitz

1 Hans-Georg Maaßen zur Wahl von Kemmerich. (Dieser Kommentar wurde nach Red. Schluss am 7.2.20 verfasst.)

Warum Thüringen - schon wieder?

Coup der AfD weckt Erinnerungen

Aus "Die Presse", von Anneliese Rohrer

Erstaunlich, dass keiner der Freun­de oder Gäste aus Deutschland eine Antwort wusste: Vielleicht aus Desinteresse, vielleicht aus Unkenntnis der eigenen Geschichte. Seit der Sensa­tion im Bundesland Thüringen wird es jetzt wohl anders sein.

Die Fragen waren: Wisst ihr, dass Hit­lers Aufstieg in Thüringen begann, wo er als Beamter eingebürgert hätte werden sollen? Nein, nicht gewusst, nicht gehört. Das verwundert. Bereits im Februar 2000 hatte die Wochenzeitschrift „Die Zeit" ausführlich die Vorgänge in „Thüringen 1930 - Bürger Hitler" beschrieben; im Jänner 2018 widmete sich der Journalist Tom Fugmann bei „MDR Zeitreise" der „Machtergrei­fung in der Mitte Deutsch­lands" und dem „Mustergau Thüringen".

Die jetzige Aufregung um die Wahl eines Minister­präsidenten der liberalen FDP von Gnaden der Alter­native für Deutschland (AfD) und ihres Landesvorsitzenden Björn Höcke, den man straffrei als Faschisten bezeichnen darf, ist nur vor dem Hinter­grund der kollektiven Vergesslichkeit zu verstehen.

Nach der Landtagswahl in Thüringen 1929 war die NSDAP Zünglein an der Waage, erschien den bürgerlichen Partei­en eine Koalition mit einer rechtsextre­men Bewegung vorteilhafter als eine Zu­sammenarbeit mit den Sozialdemokra­ten. Auch damals hingen manche der Il­lusion an, man werde die radikale Partei schon für eine verantwortungsbewusste Mitarbeit gewinnen können - ihr die Ra­dikalität austreiben. Welch ein Irrtum! Kommt das bekannt vor?

Was aber ist dann der Unterschied zu heute? Der Thüringer CDU wurde von der Parteizentrale eine Zusammenarbeit mit den Linken untersagt. Nur, um jetzt in die Falle des rechtsextremen „Flügels" der AfD zu tappen. Hätte sich die CDU dem Veto der Bundespartei Richtung links widersetzt, hätte sie die CDU-Füh­rung zwar auch blamiert, aber nicht im gleichen Ausmaß wie jetzt. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer hat eben Erfurt auch mit erheblichem Gesichts­- und politischem Gewichtsverlust verlassen.

 

Wenn's nicht so abgedroschen wäre, müsste man jetzt an Bruno Kreisky erinnern: ,,Lernen Sie Geschichte ... " Es muss ja nicht so drastisch formuliert wer­den wie in der „MDR Zeitreise", aber man kann es auch nicht verdrängen:

„Vieles von dem, was nach der Machtergreifung 1933 in ganz Deutschland ge­schehen würde, war zuvor in Thüringen erdacht und erprobt worden;"

Man sollte es vor allem auch deshalb nicht verdrängen, weil Björn Höcke nach dem fulminanten Zugewinn bei der Landtagswahl im Oktober 2019 von 10,6 Prozent (2014) auf 23,4 Prozent als zweitstärkste Kraft ganz ähnliche Töne anschlug. Zuerst die Stärke der AfD im Osten Deutsch­lands, dann der Umbau der West-Landesparteien, mein­te er sinngemäß nach der Wahl 2019, wobei sich die anderen Parteien ganz ähn­lich hilflos und kraftlos ge­ben wie 1933.

 

Die zweite Frage lautete: Warum Thüringen - schon wieder? Immerhin brachte es die NSDAP dort bereits 1929 zur ersten Regierungsbeteiligung in Deutschland überhaupt und 1932 auf 42 Prozent der Stimmen.

Ganz selten und ganz beiläufig lie­ßen sich für die Landtagswahl im  Oktober und die „Sensation von Erfurt" jetzt einige Erklärungen finden unbefriedigend allesamt. Das Bundes­land sei immer schon national gesinnt gewesen, eine von der Geschichte her nicht besonders originelle Erklärung. Aus diesem Grund war Thüringen von der NSDAP ja als „Experimentierfeld" ausge­sucht worden.

Interessanter sind da schon andere Parallelen. Historiker begründen den Zu­lauf zu den Nationalsozialisten damals so: Kleinbürgerliche Wähler, eher links ge­stimmt, litten in Zeiten der Wirtschafts­krise unter starken Verlustängsten. Ein historischer Protestwille gegen die „Repu­blik" lässt sich auch vermuten. Es könnte helfen, an diese Zusammenhänge zu den­ken, damit aus dem Tabubruch in Erfurt nicht ein Super-GAU in Berlin wird.

 

Anneliese Rohrer ist Journalistin  in Wien.

diepresse.corn/rohrer

Interview mit Carlo Galli, Bologna

Interview aus dem Kleinen Zeitung vom Sonntag 9. Februar 2020

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Von Ste​fan Wink​ler aus der Kleinen Zeitung, 9.2.2020

Carlo Galli ist einer der bekanntesten Politologen Italiens. Er, Jahrgang 1950, lehrt politische Ideengeschichte an der Universität Bologna.

„Vor dem Euro waren wir alle sehr europäisch“

 

IN​TER​VIEW. Zer​ris​se​ne Ge​sell​schaf​ten, eine ka​put​te In​fra​struk​tur und eine ge​fähr​lich ge​-schwäch​te De​mo​kra​tie: Der ita​lie​ni​sche Po​li​to​lo​ge und frü​he​re Links​po​li​ti​ker Carlo Galli zeich​net ein düs​te​res Bild von Eu​ro​pa.

Herr Galli, ein Lin​ker, der im vom Brex​it ge​beu​tel​ten ver​ein​ten Eu​ro​pa das Ban​ner der Sou​ve​rä​ni​tät hoch​hält, das hat etwas. Das riecht nach Hä​re​sie. Sehen Sie sich selbst als Ket​zer?

CARLO GALLI: Ich warte auf das Ur​teil der Hei​li​gen In​qui​si​ti​on. Aber Spaß bei​sei​te! Tat​säch​lich scheint es unter den po​li​tisch kor​rekt ge​bürs​te​ten Main​stream-Eli​ten einen Im​pe​ra​tiv zu geben: Ver​ach​tet die Sou​ve​rä​ni​tät, ver​spot​tet sie! Wer po​si​ti​ven Ge​brauch von dem macht, was jahr​hun​der​te​lang das Herz der Staats​leh​re war, gilt heute als Höhlen​be​woh​ner. Man be​denkt ihn mit einem mit​lei​di​gen Lä​cheln wie je​man​den, der mit einem Münz​te​le​fon te​le​fo​niert, oder dä​mo​ni​siert ihn als Fa​schis​ten. Sou​ve​rä​ni​tät wird als Tri​ba​lis​mus ab​ge​tan, als Nost​al​gie und Ras​sis​mus. Nach ihr zu stre​ben, gilt als böse!

 

Was hal​ten Sie dem ent​ge​gen?

Die Sou​ve​rä​ni​tät ist eines der fun​da​men​ta​len po​li​ti​schen Kon​zep​te, auf denen un​se​re mo​der​nen Staa​ten grün​den, und ist bis heute in vie​len Ver​fas​sun​gen in Eu​ro​pa ver​ankert. Wer das nicht be​greift, ver​steht gar nichts! Die Sou​ve​rä​ni​tät ist als Idee sehr alt. In ihrer heu​ti​gen, de​mo​kra​ti​schen Form ist sie aber ein Kind des neu​zeit​li​chen Ratio​na​lis​mus und der Fran​zö​si​schen Re​vo​lu​ti​on, die sie dem König ge​nom​men und dem Volk ge​ge​ben hat. Hob​bes, Hume, Rous​seau spra​chen von ihr. Sou​ve​rä​ni​tät ist das Faktum, dass ein Volk po​li​ti​sches Sub​jekt sein will in der Ge​schich​te, dass es selber über sich ent​schei​den, sich eine Ord​nung geben will. „We the peop​le“ lau​tet der be​rühm​te An​fang der ame​ri​ka​ni​schen Ver​fas​sung von 1787.

 

Da​ge​gen ist schwer etwas ein​zu​wen​den. Warum ist Sou​ve​rä​ni​tät in Eu​ro​pa so ver​ru​fen?

Weil sie be​stimm​ten In​ter​es​sen zu​wi​der​läuft. Die wah​ren Fein​de der Sou​ve​rä​ni​tät sind seit jeher uni​ver​sa​lis​ti​sche Mäch​te, allen voran die Wirt​schaft. Die Be​ru​fung des Ka​pi​talis​mus ist glo​bal. Sie ist das, was wir Glo​ba​li​sie​rung nen​nen. Wenn ein Welt​kon​zern sich vor etwas fürch​tet, so ist das eine po​li​ti​sche Macht, die ihn hin​dert, zu tun, was er will. Und dann steht die Sou​ve​rä​ni​tät na​tür​lich auch dem Be​stre​ben ent​ge​gen, in Eu​ropa ein su​pra​na​tio​na​les, po​li​ti​sches Sys​tem zu er​rich​ten. Viele glau​ben ja, dass die Sou​ve​rä​ni​tät zu​guns​ten der EU über​wun​den wer​den müsse. Aber die EU ist halt kein sou​ve​rä​nes Sub​jekt.

 

Was ist sie dann?

Nichts, die EU ist po​li​tisch ein Nichts. Das be​kom​men wir täg​lich vor Augen ge​führt, in Li​by​en, in Sy​-ri​en. Eu​ro​pa ist auf der in​ter​na​tio​na​len Bühne hand​lungs​un​fä​hig, weil es gar kein ei​gen​stän​di​ger sou​ve​rä​ner Ak​teur sein will. Die wahre Macht in der EU geht von den Mit​glied​staa​ten aus, von denen zwar ei​ni​ge für den Euro auf ihre Wäh​rungs​hoheit ver​zich​tet, aber sich alle an​de​ren zen​tra​len sou​ve​rä​nen Rech​te be​wahrt haben. All das Ge​re​de von einem su​pra​na​tio​na​len Eu​ro​pa ist Lüge. Tat​säch​lich gibt es einen Tisch, an dem die Ver​tre​ter der ein​zel​nen Staa​ten sit​zen und ver​han​deln. Und der Stärks​-te ge​winnt.

Wol​len Sie damit sagen, die Eu​ro​pä​er gau​keln sich etwas vor?

Kanz​le​rin Mer​kel macht sich keine Il​lu​sio​nen über eine eu​ro​päi​sche Sou​ve​rä​ni​tät. Sie weiß genau, dass Deutsch​land ein sou​ve​rä​ner Staat ist, und han​delt auch so. Auch das Bun​des​ver​fas​sungs​ge​richt in Karls​ru​he ver​tritt die Auf​fas​sung, dass das Bau​prin​zip der EU die Sub​si​dia​ri​tät ist unter Be​rück​sich​ti​-gung der deut​schen Ver​fas​sung. Das heißt im Klar​text, die eu​ro​päi​schen In​sti​tu​tio​nen sind in Ber​lin so​lan​ge will​kom​men, wie sie Deutsch​land zu​ge​ste​hen, die Dinge am bes​ten zu er​le​di​gen. So​bald sie aber Deutsch​land daran hin​dern, sei​nen Pflich​ten ge​gen​über sich selbst nach​zu​kom​men, gel​ten sie nichts. Das​sel​be gilt für Frank​reich. Wenn Frank​reich an Eu​ro​pa denkt, denkt es an eine Union, an deren Schlüs​sel​stel​len Fran​zo​sen sit​zen.

Al​lein kann selbst Frank​reich in der Welt von heute kaum be​ste​hen. Spricht das nicht dafür, die na​tio​na​len Sou​ve​rä​ni​tä​ten in einer eu​ro​päi​schen auf​ge​hen zu las​sen?

Um das zu rea​li​sie​ren, müss​ten Ma​cron und Mer​kel zu​stim​men, dass Deutsch​land und Frank​reich auf einer Stufe mit Texas und Il​li​nois ran​gie​ren. Tat​säch​lich bräuch​te es dafür eine Re​vo​lu​ti​on. Aber ich gebe Ihnen recht. Ein Staat mitt​le​rer Größe wird es schwer al​lein mit Ama​zon auf​neh​men kön​nen.

 

Also braucht es die EU ja doch!

Ich könn​te mir auch gut ein nur unter dem Ban​ner ge​gen​sei​ti​ger Wirt​schafts​hil​fe ge​eintes Eu​ro​pa vor​stel​len. Ich meine, wir alle waren vor dem Euro doch sehr eu​ro​pä​isch ge​sinnt. Si​cher, es gab sol​che, die mehr ver​dien​ten und an​de​re, die we​ni​ger hat​ten. Aber die Eu​ro​päi​sche Wirt​schafts​ge​mein​schaft hat funk​tio​niert und war nütz​lich. Das wahre Pro​blem kam erst mit dem Euro, mit dem Eu​ro​pa eine neue öko​no​mi​sche Ordnung er​hal​ten hat, den deut​schen Ordo​li​be​ra​lis​mus. Die​ser hat die In​fla​ti​on zum Haupt​feind mit der Folge, dass, weil man das Geld nicht mehr ab​wer​ten kann, die Arbeit ent​wer​tet und recht​lich aus​ge​höhlt wird. Zudem lässt die​ses Wirt​schafts​mo​dell die so​zia​len Un​gleich​hei​ten wach​sen. Das führt in den Eu​ro​län​dern dazu, dass Massen Be​nach​tei​lig​ter den Staat um Schutz bit​ten. Doch statt in der Krise die​sen Schutz zu geben, hat die EU mit Aus​te​ri​tät ge​ant​wor​tet.

 

Eine Stren​ge, die in Spa​ni​en, Ir​land und sogar Grie​chen​land in​zwi​schen po​si​ti​ve Früch​te trägt.

Das sagt man. Aber was ist der Preis dafür? Die Ge​sell​schaf​ten die​ser Län​der sind zer​ris​sen. In Ita​li​en stür​zen die Brü​cken ein und die De​mo​kra​tie ist ge​schwächt. In Frank​reich gibt es jeden Sams​tag Bür​ger​krieg, und über​all in Eu​ro​pa schie​ßen die Pro​test​par​tei​en empor.

 

Der Euro als Wur​zel allen Übels. Ist das bei dem Schul​den​berg, auf dem Ita​li​en sitzt, nicht wohl​feil?

Es stimmt, dass nicht alle Pro​ble​me Ita​li​ens auf den Euro zu​rück​ge​hen. Aber der Euro ak​zen​tu​iert sie und spal​tet das Land. Ita​li​ens Schul​den zäh​len da wenig. Der ent​schei​den​de Punkt ist, dass der Staat nicht genug Mit​tel für die not​wen​di​gen In​vesti​tio​nen hat und jedes Jahr noch tie​fer schnei​den muss. Das er​zeugt Dy​na​mi​ken, und eine Dy​na​mik könn​te sein, dass Ita​lien eines Tages Groß​bri​tan​ni​en folgt und die EU ver​lässt, auch wenn heute keine po​li​ti​sche Kraft im Land den Aus​stieg aus der Eu​ro​zo​ne will.

 

Par​don, Sie reden wie Sal​vi​ni.

Sal​vi​ni ist ein rech​ter Po​pu​list. Aber der Sou​ve​rä​nis​mus, auf des​sen Boden er agiert, ist Aus​druck einer tie​fen Un​zu​frie​denheit, eines von vie​len Ängs​ten ge​speis​ten Un​muts, der eine böse Wen​dung neh​men kann. Nur das zählt. Wenn man daher gegen Sal​vi​ni Po​li​tik ma​chen will, was ist bes​ser? Dass man ihn und seine Wäh​ler Fa​schis​ten heißt, oder dass man zu be​grei​fen sucht, was da ge​schieht?

 

Wäre ein Aus​tritt Ita​li​ens das Ende der Eu​ro​päi​schen Union?

Eu​ro​pa würde end​gül​tig zum deutsch-fran​zö​si​schen Pro​jekt. Das heißt, Deutsch​land hat in Wahr​heit das Kom​man​do. Es hat ka​piert, dass es Frank​reich nicht be​krie​gen, son​dern nur gut be​han​deln muss. Es ver​langt ihm nicht die Opfer ab, die es von Ita​li​en for​dert, das wie ein Fisch am Haken zap​pelt. Eng​land ist dem ent​kom​men, und euch Ös​ter​rei​chern wird es in die​ser EU nicht schlecht gehen. Schließ​lich seid ihr voll in die deut​sche Wirt​schaft in​te​griert. Aber euch muss klar sein, dass so ein Eu​ro​pa kein sou​ve​rä​nes Ge​bil​de wäre, son​dern ein Macht​sys​tem, das – ob​schon fried​fer​tig – von Ber​lin be​herrscht wird. Aber auch Deutsch​land glei​tet in eine Wirt​schafts​kri​se, was Pro​gno​sen über die Zu​kunft der EU schwie​rig macht.

 

Veröffentlicht: 11. Februar 2020