Wider die Entkernung des Marxismus

Eine Rezension von Michael Wengraf

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Immer wieder ist das Kontinuum von Emanzipation und Befreiung, der ewige Kampf gegen Unterdrückung, auch von innen ausgehöhlt worden. Falsche Fährten wurden dabei gelegt, Irrwege vorangetrieben und das große Ziel im Dienst bestehender Ausbeutung verschleiert. Meist geschieht diese Destruktion unter dem Vorwand der Klärung; ein „wahrhaft progressiver“ Kern soll in die Analyse der Verhältnisse angeblich Bewegung bringen. In Wahrheit aber wird nur Sand ins Getriebe gestreut. Inkludiert in diesem Unterfangen ist ein Absolutheitsanspruch, das dreist behauptete Monopol an der Wahrheit. Eine Subversion, die auch und vor allem den Marxismus trifft, dem in Revisionismus und Relativierung ständige Begleiter erwuchsen. Ein großes Verdienst um die Aufdeckung solch eines Mechanismus der Zerstörung erwarb sich nun an zentraler Stelle der marxistische Soziologe und Philosoph Werner Seppmann. Der Punkt, an dem er das unternahm, hat einen Namen: Louis Althusser. An ihm expliziert Seppmann „Das Elend der Philosophie“. Ein prominenter Titel für ein Stück Theorie, dem der Autor aber auf bemerkenswerte Weise gerecht wird.

Sein Gegenstand mutet ebenso destruktiv wie erfolgreich an, denn: „seit über einem halben Jahrhundert ist Louis Althusser (1918–1990) eine einflussreiche Stimme innerhalb der internationalen Marxismus-Diskussion“ (S.11). Was nicht unterschätzt werden sollte – und Seppmann tut es nicht. Er seziert über fast 400 Seiten Althussers vielbeachtetes Denken und entblößt es als banalen Strukturalismus, in dem das tätige Subjekt – nebst aller sich darauf beziehender Dialektik – einfach verschwindet. Nach der Lektüre von „Das Elend der Philosophie“ stellt sich daher die dringliche Frage, warum Althusser von allzu Vielen immer noch als „marxistische Lichtgestalt“ und als „Garant einer Neufundierung marxistischen Denkens“ gesehen wird. Insbesondere nennt Werner Seppmann in diesem Zusammenhang den Kreis um Wolfgang Fritz Haug.

Im Zuge der Dekonstruktion dieses gefährlichen theoretischen Irrlichterns, die Seppmann Baustein für Baustein vornimmt, bedient er sich zuweilen durchaus auch deftiger, ja provokanter Ausdrücke. So ist auf Seite 67 die Rede von einer „kopflosen Althusser-Gemeinde“ und einer „intellektuellen Selbstdemontage“ des Meisters. Variantenreich kreist seine Kritik dabei immer wieder um das zentrale Moment des destruierten Subjekts. Er legt frei, dass Althusser und seine auch heute noch zahlreichen Jünger in Sichtweisen verhaftet sind, „die den Kapitalismus auf einen unüberschreitbaren Mechanismus der Selbstreproduktion reduzieren“ (S.95). Damit steht das Determinationsgefüge dem handelnden Akteur quasi als unüberwindliches Hindernis im Wege – nichts geht mehr! Aber nicht nur das: Ein Verständnis gesellschaftlicher Erscheinungen, hier ist vordergründig Kapital und Kapitalismus gemeint, als Folge gesellschaftlicher Beziehungen zwischen Menschen, wird ausgelöscht.

Das Ergebnis der von Althusser vollzogenen inneren Aushöhlung ist demnach, so schließt Seppmann, eine „Entkernung des Marxismus“. Daraus folgt die Demontage des praxistheoretischen Fundaments und damit die „Beschädigung seiner antikapitalistischen Artikulationsfähigkeit“ (S.11). Der Marxismus als Waffe wird somit stumpf. Das ist der speziell Althussersche Sand im Getriebe des Kontinuums von Emanzipation und Befreiung, an dessen evolutionärem Gipfel bis heute die unverfälschte Kapitalismus-Analyse von Marx und Engels steht. Genau diese Spitze aber zu brechen, ist – wie Seppmann verdeutlicht – die objektive, letztendlich entscheidende Folge des Denkens von Althusser. Um die Endkonsequenz eines solchen Ansatzes zu demonstrieren, bemüht der Autor ein in seiner zuspitzenden Transparenz unüberbietbares Wort des Kasseler Politikwissenschaftler Alexander Gallas: „Kapitalismuskritik wird damit so sinnvoll wie die Kritik am schlechten Wetter.“ (S. 96).

Folgerichtig sieht Seppmann in Althussers Ansatz ein prägendes theoretisches Paradoxon. Eines, in dem das Verständnis von Menschen „als Handlungssubjekte, die einerseits zwar von den sozio-ökonomischen Umständen geprägt sind, aber gleichzeitig auch als Schöpfer dieser Verhältnisse begriffen werden müssen“ verloren geht. Bei Althusser ist gerade eine solche Dialektik von Subjekt und Objekt ausgeschlossen, wird das Subjekt zum bloß Unterworfenen erniedrigt. Seppmann belegt das unter anderem mit dem Diktum Althussers, dass „die Produktionsverhältnisse (und die politischen und ideologischen Verhältnisse einer Gesellschaft) […] die wahren Subjekte seien.“ (S.177) Damit ist die Gesellschaft gegenüber dem Individuum wieder als Abstraktion fixiert. Das Bewusstsein aber degeneriert dadurch auch zum „völlig passiven Zuschauer einer gesetzmäßigen Bewegung der Dinge, in die es unter keinen Umständen eingreifen kann“ (Georg Lukács). Daher geht auch die Kategorie der Totalität bei Althusser unwiederbringlich in Verlust: Eine substantielle Homogenität von Objekt und Subjekt verschwindet zwangsläufig.

Werner Seppmann zeigt auch ein ums andere Mal, dass Althusser immer wieder auf groteske Weise das Gegenteil von dem postuliert, was seine „Neue Marx-Lektüre“ inhaltlich tatsächlich leistet. Sieht man, wie er es unternimmt, zum Beispiel „die Produktionsverhältnisse“ als die wahren Subjekte in der menschlichen Welt, mutet seine zuweilen arg ins Praktizistische abgleitende Auffassung grotesk an. Auf ebenso hierarchische wie mechanistische Weise spricht Althusser nämlich von einem Primat der Praxis vor der Theorie. Im „Elend der Philosophie heißt es dazu nur lapidar: Das „entspricht nicht der Marxschen Vorstellungswelt, sondern entstammt dem Arsenal des ‚Lehrbuch-Marxismus‘ (Seite145)“. Eines äußerst schädlichen Lehrbuch-Marxismus, voll von falsch verstandener Orthodoxie, ist man verleitet zu ergänzen.

Seppmanns „Das Elend der Philosophie“ zu lesen erscheint, möchte ich sagen, unerlässlich, um im modernen Marx-Diskurs die Orientierung zu behalten. Vor allem, weil er schlüssig entlarvt, dass Althusser weder eine Weiterentwicklung bzw. Erneuerung marxschen Denkens noch einen Weg zu dessen wahrer Intention darstellt, sondern eben eine bloße Verunreinigung. Diese äußert sich auch, wie der Autor detailgenau herausarbeitet, in einer konstruierten Differenzierung zwischen „dem Marx der frühen Phasen und dem Meister der Kapital-Studien“ (S. 65). Ein Unterfangen Althussers, das aus dessen Perspektive durchaus Sinn und Zweck besitzt, denn: Nur auf solch einer Basis lässt sich dann (auch noch unbelegt) eine, wie ich meine, ungeheuerliche Behauptung aufstellen: Nämlich jene von Althusser vertretene, dass Marx sich „von seinem humanistischen Menschenbild und letztlich auch von seinem historisch-materialistischen Methodenverständnis“ (S.65) späterhin einfach verabschiedet habe. Der eigentlich befreiende Impetus seines Denkens verkommt hier also zur bloßen Jugendsünde.

Wichtig an Seppmanns Werk erscheint aber nicht nur diese Negation falschen Denkens. Vielmehr ist es im Besonderen der gleichzeitige Verweis darauf, an welchen Punkten die aktuelle Marx-Debatte positiv anknüpfen muss, um wieder gesellschaftliche Relevanz zu erlangen. Das sind Praxisorientierung sowie die Dialektik von tätigem Subjekt und dessen vorgegebenem Handlungsrahmen. In dessen Grenzen ist der Mensch frei, seine Welt zu gestalten. Genau das herauszuarbeiten, wird von Werner Seppmann in der Auseinandersetzung mit einem mechanistischen Strukturalismus auf vorbildliche Art geleistet.

Dabei platziert er allerdings Althusser und den östlichen, realsozialistischen Marxismus immer wieder – nicht ganz zu Unrecht – im selben Boot. Das bedeutet aber, meiner Ansicht nach dennoch, Ungleiches als gleich zu sehen. Immerhin handelte es sich im Osten nicht um eine intellektualistische Marotte, sondern wenigstens um den Versuch, Sozialismus in der Praxis zu etablieren. Ein Versuch, der eben auch an bleiern mechanistisch-strukturalistischem Denken scheiterte. Deshalb ist er nun ja Geschichte. Aber, im Gegensatz zu Althusser, ist dies ein Teil unserer Geschichte, nämlich der Geschichte der Arbeiterbewegung!

Michael Wengraf


Werner Seppmann, Das Elend der Philosophie. Über Louis Althusser, Mangroven Verlag, Kassel 2019, ISBN: 978-394694-614, 27 Euro.

15. April 2021