„Unser Leben war schon vor Corona beschädigt“

Cengiz Kulaç über das „the show must go on“-Dogma, plötzlich entgrenzte Staatsschulden, die Befriedigung von Grundbedürfnissen und warum die Herrschenden, den Menschen nicht als gesellschaftliches Wesen begreifen.

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Es tut eigentlich relativ wenig zur Sache, woher das Virus stammt.* Ende Jänner wusste die Welt bereits, dass es sich um eine Pandemie handelt/handeln wird und auch wenn die medizinische Datenlage noch nicht so fortgeschritten war wie jetzt, war bekannt, dass das Virus erstens, wenn keine Schutzmaßnahmen getroffen werden, sehr infektiös ist und zweitens eine höhere Mortalität als vergleichbare virale Erkrankungen aufweist, wenn Risikogruppen nicht geschützt werden.

Mag sein, dass der breiten Bevölkerung selbiges noch nicht so bewusst war, aber Gesundheitsbehörden, internationale Organisationen, Katastrophenschutzorganisationen, Forschungseinrichtungen, militärische Seuchenabwehr und ähnliche Institutionen bereiten sich Jahre auf solche Situationen vor. Sie haben entwickelte Pläne, die genauso zum Tragen kommen sollten wie bei Großbränden. Sie sind geschult und haben an und für sich Mechanismen, die ausgelöst werden, wenn es zu einer Risikosituation kommt.

Mag auch sein, dass die Situation, in der wir sind, seit hundert Jahren, also seit der Spanischen Grippe, in dieser Form nicht mehr vorgekommen ist. Es gibt aber sehr wohl umfangreiches medizinisches und institutionelles Wissen zur Seuchenbekämpfung sowie vereinzelte Erfahrungen in den letzten Jahrzehnten auch abseits von Südostasien.


Die Arbeit mit Angst und Autorität

Die Laissez-faire-Haltung, mit der man grosso modo in der westlichen Welt (Europa, Nord- und Südamerika) damit umgegangen ist, ist daher schändlich. Sie speist sich aus dem Hochmut und der Arroganz angeblicher zivilisatorischer Überlegenheit (als wäre das ein „asiatisches“ Problem) und dem manischen Motto der herrschenden Wirtschaftsideologien: „the show must go on“ – ganz so als wäre es das Schlimmste, wenn es zu einer Unterbrechung unseres Alltages käme und als trüge eine Unterbrechung des Alltages und letztlich der kulturell, zivilisatorisch und biologisch nicht so notwendigen Produktionszweige die Gefahr in sich, dass den Menschen vor Augen geführt wird, dass es auch anders geht, dass eine andere Welt möglich ist. Umso weniger ist es verwunderlich, dass ausschließlich mit Angst und Autorität gearbeitet wird, als mit dem Optimismus, dass die Gesellschaft nach Corona eine bessere sein könnte. Angst zwingt uns zu funktionieren, obwohl unser Leben ohnehin davor schon beschädigt war und unser zivilisatorisches und utopisches Potential verkümmert ist.

In Österreich ist die erste Welle dieser Krise noch glimpflich verlaufen, aber angesichts Ischgls und Co. sollte man Bescheidenheit walten lassen, wenn es darum geht, dieses Land und seine Politik hochzuloben, zumal sie sich – auch von wissenschaftsgeleiteten Institutionen – als exemplarischer Ausdruck der Krise für die gesamte westliche Hemisphäre einordnet. Solange das „the show must go on“-Prinzip vorherrscht und eine kleine konservative Tiroler und sonstige Amigo-Gesellschaft mehr Macht über unsere Gesundheit hat, als Parlament, Bundesregierung und medizinische Behörden – ganz zu schweigen von Intellektuellen und ArbeiterInnen –, wird es mit den vielen Krisen, insbesondere der Klimakrise, auch in Zukunft nicht anders verlaufen.

Schuldige kann man finden. Aber es geht nicht darum, irgendwelche angeblichen Verschwörer aufzudecken und zur Rechenschaft zu ziehen, sondern einem ganzen Prinzip („the show must go on“) einen Riegel vorzuschieben. Dieses Prinzip ist auch gerade in der aktuellen Situation so gefährlich, weil es selbst einer kleinen Tourismus-Mafia halbbewusst mehr Macht über Gesundheit, Freiheit und sogar der sonst so mächtigen Industrie gibt. Da wird in Tälern eine sturköpfige anti-aufklärerische Haltung ausgebrütet, die trotz all ihres Hinterweltlertums genau in der Mitte der Gesellschaft ist. Die geistigen Fähigkeiten, über den eigenen Tellerrand zu denken, enden bei ihren Schneekanonen.

Nun begeben wir uns in eine Phase der ersten Öffnung. Doch auch diese Öffnung gleicht dem obigen Prinzip. Es geht um Profit. Und alles, was nicht unmittelbar auf den Profit und den Zwang zur Arbeit schließen lässt, ist von Entscheidungskonformität im im Leben jenseits der Arbeit durchzogen. Das Erste an Freiheit ist darin nicht, unsere FreundInnen zu umarmen, sondern sich frei zwischen Hornbach und Obi, McDo und BurgerKaiser zu entscheiden.


Schulden und ihre Widerspiegelung im Einzelnen

Die Sorge über die ökonomische Krise ist als Einwand berechtigt. Es sind fast 600.000 arbeitslos. Mitsamt den Kurzarbeitenden ist knapp ein Drittel der Gesamtarbeitskraft ausgesetzt. Aber auch die so geschaffene Unsicherheit müsste nicht sein. Krisen sind auch Brüche im Denken. Während vor Corona ein biederes Geldregime mit calvinistischer Ethik galt, wächst nun tatsächlich das Geld auf Bäumen. Woher kommt das Geld? Natürlich wird man uns in Folge erklären, wir hätten nun wieder den Gürtel enger zu schnallen. Doch jenseits von sehr engen logischen Zirkelschlüssen der herrschenden Politik, bleibt die Frage, woher das Geld (abseits seiner Basis im Warentausch) kommt. – Vom Staat. Und so ist es nicht verwunderlich, dass bei einer weltweiten Krise, bei gleichzeitiger nationaler Bewältigung der Konsens gefunden wurde, das Geld beim Staat locker zu machen. In der gegenwärtigen Situation ist die bisherige Vorstellung von Budgetschulden faktisch weltweit aufgehoben. Sie gelten nur mehr formal. Sie sind aber entgrenzt. Man kann sie unendlich in die Höhe treiben.

Die ökonomische Seite der Schulden widerspiegelt sich auch in unserer Psyche. Die ökonomische Schuld generiert in uns die Vorstellung, wir würden eine individuelle Schuld in uns tragen, Arbeit zu schulden, ökonomische Selbsteinschränkung zu schulden. Gerade darin liegt für die herrschende Politik die größte Gefahr: Arbeitsunterbrechung – ob bewusst als Streik oder unbewusst in der gegenwärtigen Ausgangssituation.

Menschen könnten sogar erkennen, dass man den Zustand fortsetzen könnte, wenn man die Öffnung an den Bedürfnissen orientiert und nicht an den Profit-Interessen, wie sie etwa im Druck der deutschen Industrie mit ihrem Ultimatum an Angela Merkel zeigen. Bedürfnisse lassen sich zwar nicht festschreiben. Aber geht man zuerst von den Grundbedürfnissen aus, kann man feststellen, dass beim gegenwärtigen wirtschaftlichen Entwicklungstand für Essen, sauberes Trinkwasser, Kleidung und Wohnung gesorgt werden könnte – und zwar für alle. Darüber hinaus gibt es kulturelle Angebote, Sportmöglichkeiten und andere Gemeinschaftsaktivitäten, die uns zur Verfügung stünden.

Nun braucht man sich nicht in Naivität ergießen. Es geht hier schlicht darum, festzustellen, dass es theoretisch und praktisch auch anders ginge. Auch unsere materiell weit entwickelte Gesellschaft – ob sie es nun unter Arbeits- und Profitzwang oder an den Bedürfnissen orientiert tut – kann nicht ewig eine „Pause“ einlegen. Auch die Befriedigung der Grundbedürfnisse muss gesichert werden. Der Mensch als gesellschaftliches Wesen orientiert sich nicht ewig am Minimum, und auch nicht-essentielle Arbeitsbereiche können auf lange Sicht essentielle für die Versorgung werden.

Ginge es primär um Bedürfnisse, könnte man neben den essentiellen Bereichen genauso gut Kultur-und Sportbetrieb, Gemeinschaftstätigkeiten (zuerst teilweise) wieder öffnen. Doch vorerst werden Konsumtempel geöffnet. Deren Verächtlichmachung wird uns aber nicht dabei helfen, die Maschine zu übernehmen und ihre unnötigsten Teile abzustellen (aber das ist eine andere Debatte).
 

* Woher das Virus stammt, ist eine Debatte, die man führen kann und muss, wenn diese Krise überstanden ist, ebenso wie man diskutieren muss, wie man verhindert, dass ähnliches wieder passiert.

6. Mai 2020