Universale Befreiung, reale Befreiung

Michael Wengrad zur Neuauflage von Thomas Metschers „Pariser Meditationen“

Nun ist also eine Neuauflage erschienen. Der deutsche Mangroven Verlag nahm sich eines ebenso wichtigen wie interessanten Buches an, den „Pariser Meditationen“ von Thomas Metscher. Jenem Autor, der mit „Integrativer Marxismus“, vor allem aber mit „Logos und Wirklichkeit“, für bedeutende Neuansätze modernen marxistischen Denkens gesorgt hat. In Zeiten desaströser Niederlagen emanzipatorischer Bewegungen ist das ja nicht gerade wenig.

Einsatzpunkt der „Meditationen“ ist ein in Form des Tagebuchs gehaltener kulturkritischer Reisebericht. Metscher notierte  ihn anlässlich einer Paris-Visite zum Internationalen Kongress der Gesellschaft für dialektische Philosophie 1988. Hauptsächlich zwischen 1988 uns 1991 verfasst und 1992 erstmals im Wiener Verlag für Gesellschaftskritik veröffentlicht, stellen sie einen Versuch bzw. ein Experiment dar: Im Angesicht der Bruchlandung von Sozialismus und Befreiung das Thema Revolution und Emanzipation im Bereich der künstlerischen Ästhetik zu reflektieren. Metscher, als Philosoph und vor allem Philologe einer marxistischen Kunsttheorie zugewandt, bewegt sich dabei in einem von Peter Weiss und Ernst Bloch abgesteckten Spannungsfeld. Das heißt: Es geht um eine in Richtung Befreiung erweitere Ästhetik des Widerstands (Weiss) und damit um den Erhalt von positiver Utopie (Bloch). Kurz gesagt, Gegenstand ist eine Ästhetik der Befreiung, die im historischen Prozess kontinuierlich herausgebildet wurde und nun weiterentwickelt werden muss, verbunden mit dem „Prinzip Hoffnung“.

Eine Ästhetik der Befreiung (nach der des Widerstands) und die Utopie einer besseren Welt (wieder) auf den Begriff zu bringen ist, ich möchte sagen, zu einer Notdurft unserer Tage geworden. Der Versuch, dies zu leisten macht die „Pariser Meditationen“ hochaktuell und die Neuauflage zu einem Erfordernis der Zeit. Es scheint allerdings, dass in der momentanen Situation eine Ästhetik bzw. Methodik des „bescheidenen“ Widerstands dringlicher ansteht als die daraus folgende Konsequenz, der zweite, erweiternde Schritt, den Metscher eben Ästhetik der Befreiung nennt. Als reale Utopie bleibt letztere allerdings unausweichlich das, was den Kampf am Leben erhält.

Momentan flackert Widerstand, von Befreiung ganz zu Schweigen, im gesellschaftlichen Leben wie in Literatur und Kunst, nicht einmal fern am Horizont auf. Mit Recht beklagte der britische marxistische Literaturtheoretiker Terry Eagleton, damals Professor für Englische Literatur an der Manchester University, diese triste Gegenwart. Er meinte, dass “es zum ersten Mal in zwei Jahrhunderten keinen herausragenden britischen Dichter, Dramatiker oder Romancier gibt, der bereit ist, die Grundlagen des westlichen Lebensstils zu hinterfragen”. Das bedeutet: Keine künstlerische Reflexion spätbürgerlicher Verhältnisse mehr, keine geistige Vorwegnahme alternativer Zustände.

Trotz alledem dürfen wir nicht aufhören, Kunst und Literatur als Instrument der Erkenntnis von Welt und Gesellschaft, als Mittel des Widerstands und der Befreiung zu begreifen. Dazu aber ist Thomas Metschers Text eine unerlässliche Hilfe. Worüber meditiert der Autor darin? Unter anderem über Kunst als Vermittler des „historischen Sinns“, den unterdrückte und kämpfende Schichten als Voraussetzung ihrer Emanzipation entwickeln müssen. Es geht um den langwierigen und zähen Prozess, in dem sich die proletarischen Massen zu selbstbewussten Individuen und Schöpfern einer neuen, eigenen Kultur bilden.

Metscher zeichnet in seiner Sammlung recht eigenständiger – aber doch in engem Sinnzusammenhang stehender – Essays nach wie ein ähnliches Unterfangen, etwa im Zeitraum von 1760 bis 1830/48, unter sich verfestigenden bürgerlichen Verhältnissen verlief. Er reflektiert auf welche Art und Weise damals das Werden des „citoyen“ etwa in Musik (Beethoven) oder durch Literatur (Goethe) vor- und nachbereitet wurde. Nachvollzogen wird, wie Kunst und Philosophie in diesem Prozess von Aufklärung und Verbürgerlichung als unerlässliche Katalysatoren wirkten, wie sie korrigierend, analysierend und antizipierend eingriffen. Allerdings erfordern Metschers detailhaften, sehr subtilen Analysen einzelner Textbeispiele oft recht aufmerksames Lesen, sind aber, dank großer Klarheit im Duktus, doch sehr gut verständlich.

All die Bemühungen der „Pariser Meditationen“ münden letztlich konsequent in die Vorstellung von radikaler Veränderung, von Revolution. An diesem Punkt kommt die titelgebende Metropole des Bandes ins Spiel: Paris, die Stadt der Revolution. Sie hinterlässt als Auftrag, so Metscher, „die Verwirklichung der Menschenrechte, universale Befreiung, reale Befreiung“. Ihr Vermächtnis ist: „Aufhebung des mächtigen Drucks, der auf uns allen lastet.“ (Peter Weiss) Paris firmiert, durchaus textkonform, aber auch als Stadt der Pallas Athene und der Aphrodite, der Weisheit und der Liebe also. Jener Weisheit und Liebe zur Sache, der wir – vermittelt auch durch die Kunst – für die letztendliche Befreiung unbedingt bedürfen.

Thomas Metscher, Pariser Meditationen. Zu einer Ästhetik der Befreiung, Mangroven Verlag, Kassel 2019, Preis: 30 Euro.

 

 

5. September 2019