Sich der historischen Wahrheit stellen – mit allem Plus und Minus

Vor 25 Jahren wurde die Sowjetunion aufgelöst

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„Unser Triumph im Kosmos ist die Hymne für unser Sowjetland“, hieß es auf einem Plakat. Doch aller Erfolge im All zum Trotz, geriet das sozialistische Lager ins Hintertreffen und implodierte schließlich – zu einem großen Teil auch selbstverschuldet.

Am 8. Dezember 1991 wurde mit dem Beloweschsker Abkommen das Ende Sowjetunion besiegelt. Für die kleine Kommunistische Partei Österreichs war das eine Zäsur, war sie doch aufgrund ihrer relativen Schwäche immer sehr eng an die sozialistischen Länder gebunden. „Wenn es in Moskau regnet, spannen sie am Höchstädtplatz den Schirm auf“, lautete ein gängiger Witz in den 1970er und 80er Jahren. (Im ›Globus-Haus‹ am Höchstädtplatz in Wien-Brigittenau befand sich der Sitz des Zentralkomitees der KPÖ, Anm.)

Auch wenn die engen Verbindungen der österreichischen KommunistInnen in die sozialistischen nicht nur Beiträge zur Entspannungspolitik im Kalten Krieg leisten konnten, sondern durch die Anbahnung von Ostexporten auch tausende Arbeitsplätze in der verstaatlichten Industrie sicherten, war der steirischen KPÖ die Schattenseiten nicht unter den Teppich zu kehren. In ihrem Programm arbeitet die KPÖ Steiermark diesen Aspekt ihrer Geschichte auf.
Darin heißt es:

Wer den Sozialismus will, muss die Geschichte des Realsozialismus bilanzieren, sich der historischen Wahrheit stellen, mit allen Plus und Minus. Die Geschichte des Sozialismus ist nicht nur eine Folge des eigenen Wollens und Handeln, des eigenen Vermögens und Unvermögens der herrschenden Kräfte. Eine vielseitige Analyse muss Wirkung und Gegenwirkung, die Wechselwirkung zwischen eigenem Wollen und die Einwirkung der mächtigen Gegenkräfte berücksichtigen.

Ein produktiver Streit setzt einen solchen über den Charakter des abgelaufenen Geschichtsprozesses voraus, indem nicht zuletzt Interessen hinterfragt werden, die die Prozesse determiniert haben. Die Politik des Realsozialismus war teils richtige, teils verfehlte, teils vereitelte Politik. Eine objektive Beurteilung des Realsozialismus erfordert eine Rückblendung auf den Ausgangspunkt. Die Geschichte der kommunistischen Bewegung ist beherrscht von einem grundlegenden Problem. Die sozialistische Revolution hat sich nicht dort vollzogen, wo die kapitalistische Entwicklung am weitesten gediehen war und wo Marx den Übergang zum Sozialismus am ehesten erwartet hatte. Das Russland der Zarenzeit war ein barbarischer, mittelalterlicher, schändlich rückständiger Staat, der aus hungernden Bauern Steuern herauspresste. Die Arbeiter schufteten unter dem Joch des Kapitals. In der Oktoberrevolution gelangten die Bolschewiki (also die Kommunist/innen) mit dem Willen und der Aktion der Massen zur Macht. Die Oktoberrevolution – sie war nicht allein auf die Machtergreifung der Arbeiter und Bauern in Russland orientiert, sondern sollte den Beginn der Revolutionen in einigen wichtigen europäischen Ländern einleiten, die in ökonomischer und kultureller Hinsicht viel reifer für den Aufbau des Sozialismus waren. Die russischen Revolutionäre warteten aber vergebens auf den Ausbruch der Revolution im Westen, auf eine weltrevolutionäre Kettenreaktion, die dem russischen Oktober Entlastung bringen und seine Zukunft sichern sollte. So blieb der junge Sowjetstaat isoliert.

Doch nun, was tun? Wenn man die sozialdemokratische Lösung verwarf, die politische Macht der Bourgeoisie oder, noch schlimmer, herrschenden Klassen halbfeudalen Typs anzuvertrauen bzw. zurückzugeben, konnte man den ausgebliebenen Revolutionen im Westen nur auf eine Weise begegnen: In Russland musste der Sozialismus errichtet werden, trotz der Zurückgebliebenheit des Landes und der ungünstigen internationalen Kräfteverhältnisse.

Sowjetrussland löste das Versprechen der Oktoberrevolution ein: Beendigung des Krieges, Sowjet-(Räte)-Macht, Aufteilung des Großgrundbesitzes an die landlose Bauernschaft. Die Soldaten, die städtischen Unterschichten und die Bauern unterstützten deshalb enthusiastisch das Sowjetregime. Ein der jungen Sowjetmacht aufgezwungener Bürgerkrieg und eine konterrevolutionäre Intervention der kapitalistischen Hauptmächte warfen das Land weit hinter den Stand von 1913 zurück. Noch Anfang der 30er-Jahre herrschte unter dem Eindruck einer Technikfaszination im Kontext mit der Industrialisierung Aufbruchstimmung, die nach dem Sieg im „Vaterländischen Krieg” einem neuen Höhepunkt zustrebte. In den ersten Jahrzehnten spielte die Staatsmaschinerie vorwiegend eine schöpferische Rolle, sie hat wirtschaftlich organisiert und kulturell erzogen. Während des 2. Weltkrieges erlitt die Sowjetunion unermessliche materielle Verluste. Zur Zeit des Todes Stalins (1953) hatte die sowjetische Wirtschaft erst die enormen materiellen Kriegsverluste aufgeholt, in der zweiten Hälfte der 50er-Jahre, symbolisiert im ersten bemannten Raumflug Juri Gagarins wuchs die Volkswirtschaft beträchtlich. Die Sowjetunion wurde zum Kern eines Bundes sozialistischer Staaten. In einem labilen, immer von neuem stabilisierungsbedürftigen Gleichgewicht von Koexistenz und Abschreckung standen sich nun auf der Erde Imperialismus und Sozialismus gegenüber. Die friedliche Koexistenz, die der widersprüchlichen Einheit und dem instabilen Gleichgewicht während einer langen

Zeit Rechnung getragen hatte und die verhindern half, dass sich die Konfrontation der antagonistischen Blöcke in einen heißen Weltkrieg verwandelte. Abrüstung, friedliche Koexistenz, Abschaffung aller Atomwaffen, Anerkennung der Grenzen in Europa, Schluss mit dem Krieg gegen Vietnam, das war ein wichtiger Teil des außenpolitischen Konsens, auf dem unsere Solidarität mit den Ländern des realen Sozialismus beruhte. Die Rüstung sprengte alle ökonomischen Verhältnisse und alle politische Vernunft. Zugleich wurde die internationale und interkontinentale gegenseitige Abhängigkeit zu einem bestimmten Zug der Gegenwart – auch aus Gründen der ökonomischen Verflechtungen und der Informations- und Kommunikationstechnik. In einer mehr als ein halbes Jahrhundert dauernden geschichtlichen Phase gelang es den sowjetischen Kommunist/innen, die maßgebenden Epochentendenzen in eine relativ stabile Form der politischen gesellschaftlichen Verwirklichung zu überführen.

Spätestens in den 1970er-Jahren wurde aber deutlich, dass die sowjetische Planwirtschaft die Grenzen ihrer Funktionstüchtigkeit erreicht hatte. Grundlegende Defizite machten deutlich: der Realsozialismus war kein „reifer”, „entwickelter” Sozialismus, wie die KPdSU und alle kommunistischen Parteien behaupteten, sondern eine Frühform einer Gesellschaft, in der wesentliche Grundlagen des Sozialismus – allerdings durch schwerwiegende Deformationen beeinträchtigt – errichtet wurden. Spätestens seit der Mitte der 80er-Jahre geriet das ganze Gesellschaftssystem in eine existenzielle Krise. In der sich extrem verschärfenden kritischen Entscheidungslage hätte es einer klugen, prinzipienfesten Führung in der KPdSU und in anderen sozialistischen Ländern bedurft. Der Sozialismus hätte auch in dem Teil der Erde, in dem er zuerst gesiegt hatte, verteidigt und entwickelt werden können.

Warum das für das Kommunist/innen Unvorstellbare, die Auflösung der Sowjetunion und des Sozialismus in Europa, dennoch eintrat und wie die Katastrophe verhindert hätte werden können, darüber gehen die Meinungen von MarxistInnen auseinander. Eine objektive Beurteilung muss berücksichtigen, dass der frühe Sozialismus notgedrungen vielfach eine Verwaltung des Mangels war. Der Sozialismus muss aber die Eroberung des Wohlstands für alle sein. Die Möglichkeit zur Verbesserung der Lebensqualität ist eine große Leistung des Kapitalismus. Im Sozialismus steht die Frage, wie kann dieser Reichtum von einem Privileg Weniger zum Glück für alle gemacht werden? Im Realsozialismus gelang es dennoch, grundlegende soziale Errungenschaften durchzusetzen, die es in keinem kapitalistischen Land gab. Positiv waren u.a. der rechtlich gesicherte Zugang zu existenzsichernder Arbeit; die Möglichkeit der freien Aneignung von Bildung und Kultur als Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben; soziale Sicherheit als ein zentrales Gut menschlichen Lebens. Dazu zählten Wohnen, Gesundheitsfragen, Schutz vor Kriminalität. Die Ergebnisse der gesellschaftlichen Produktion wurden prinzipiell gerechter verteilt. Und der Realsozialismus war friedfertig. Er vermochte der Epoche zeitweilig einen fortschrittlichen Stempel aufzudrücken (Sieg über den Faschismus, Zerfall des Kolonialsystems, internationale Friedenssicherung). Berücksichtigt man, dass der Realsozialismus der ärmere Teil Europas war, verkörperte er gegenüber den heutigen vom Kapitalverhältnis geprägten Zuständen gesellschaftlichen Fortschritt. Die Existenz des Sozialismus und seine Errungenschaften verbesserten die Bedingungen für den Kampf um soziale und demokratische Reformen in den entwickelten kapitalistischen Ländern wesentlich. Die Bourgeoisie und ihre Regierungen waren zu bedeutenden Zugeständnissen gezwungen.

Die Betonung der Vorzüge darf aber nicht zur Leugnung oder Vertuschung der dunklen Seiten des Realsozialismus, seiner Mängel und Deformationen führen. Entscheidend für das Scheitern des Realsozialismus waren letztlich die eigenen Fehler, Mängel und Deformationen; die praktische und theoretische Aufarbeitung ist dringlich. Der Realsozialismus ist an der ungenügenden schöpferischen Anwendung und Weiterentwicklung des Marxismus, im Abgehen von den marxistischen Grundsätzen durch die Führung der Partei und des Staates gescheitert.

Die unkontrollierte Konzentration der Macht im Führungszentrum der regierenden Kommunistischen Partei und ein überdimensionierter bürokratisch-zentralistischer Staatsapparat ersetzten das marxistische Konzept der Selbstregierung des werktätigen Volkes, das Herrschaft durch Rücknahme des Staates abbauen will, das den politischen Entscheidungsprozess als Sache der assoziierten Produzenten versteht und ein neues Verhältnis von Vertretungsdemokratie und unmittelbarer Demokratie enthält. Anstatt die Prinzipien der Demokratie und der Kollektivität zu entwickeln, breiteten sich Administrieren, Diktat, Willkür und zeitweise gegen Unschuldige ausgeübter Terror aus. Die Sowjets mutierten zu einer von den Massen entrückten Herrschaftsstruktur.

Die unvermeidliche Zentralisation ökonomischer, politischer und ideologischer Macht wurde nicht zu allseitig demokratischen Verhältnissen weitergeführt und dadurch aufgehoben: die ökonomischen und politischen Strukturen entfremdeten sich der Masse der Gesellschaft und entwickelten eine Eigenlogik, den Vollzug der Eigeninteressen einer exklusiven, der demokratischen Kontrolle entzogenen bürokratischen Schicht. Auf diese Weise wurden die schöpferischen Kräfte in Wirtschaft, Politik und Geistesleben untergraben und weitgehend zerstört. Kommandosystem und das Administrieren machten die Menschen – die wichtigste Produktivkraft – weitgehend zu mechanischen Vollstreckern der Verwaltungen. In der Praxis bedeutete dies das Ignorieren der Schöpferrolle der arbeitenden Menschen. Schließlich verloren Staat und Partei, die mehr und mehr zu einem bürokratisch-administrativen Apparat verschmolzen, die Fähigkeit, die Wirklichkeit zu erfassen und den Knäuel von Widersprüchen zu entwirren. […]

Aus: Landesprogramm. Analysen und Programmatische Vorschläge der KPÖ Steiermark, S. 25ff. Lesen sie hier weiter.

8. Dezember 2016