Rosa Luxemburg oder was kann die Arbeiter:innenbewegung an der Frauenfrage lernen

Anne Rieger würdigt die Bedeutung Rosa Luxemburgs für die Arbeiter:innenbewegung als Vorkämpferin für Frauenrechte und revolutionäre Realpolitik

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1902 schrieb Rosa Luxemburg in der Auseinandersetzung um das Frauenwahlrecht den belgischen Genossen ins Stammbuch: „Im Gegenteil, von der Hineinbeziehung der proletarischen Frauen in das politische Leben muss jeder klar Denkende über kurz oder lang nur einen mächtigen Aufschwung der Arbeiterbewegung erwarten. Nicht nur eröffnet diese Perspektive ein enormes neues Feld für die agitatorische Arbeit der Sozialdemokratie. Auch in ihr politisches und geistiges Leben müsste mit der politischen Emanzipation der Frauen ein starker frischer Wind hinein wehen, der die Stickluft des jetzt philisterhaften Familienlebens vertreiben würde, das so unverkennbar auch auf unsere Parteimitglieder, Arbeiter wie Frauen, abfärbt“.

Die Stickluft des philisterhaften Familienleben zu vertreiben, diese Utopie der „Feministin“ Rosa Luxemburg haben wir auch heute, 120 Jahre danach, nicht aufgegeben. Dafür kämpfen und streiten Frauen an allen internationalen Klassenfronten. Damals wollte die belgische Arbeiterpartei in einer Allianz mit der Liberalen Partei - nach 15jährigem Kampf - nur noch das Allgemeine Wahlrecht für Männer fordern, erst in einem zweiten Schritt das Frauenwahlrecht. Auch in andern Sozialdemokratischen Parteien gab es das Zurückweichen vor den schon beschlossenen sozialistischen Forderungen zum Frauenwahlrecht.

Rosa Luxemburg ging energisch dagegen vor. Für uns Frauen hat sie einen enormen Beitrag zur Emanzipation geleistet. Nicht nur durch ihr energisches Eintreten fürs Frauenwahlrecht, sondern ebenso durch ihr entschiedenes Auftreten gegen politisch zurückweichende Genossen. Sie las ihnen die ökonomischen Leviten: „Beide Erscheinungen: das Instrument des Himmels (die Monarchie A.R.) als tonangebende Macht des politischen Lebens und die Frau, die züchtig am häuslichen Herde saß, unbekümmert um die Stürme des öffentlichen Lebens, um Politik und Klassenkampf: sie beide wurzeln in den vermorschten Verhältnissen der Vergangenheit, in den Zeiten der Leibeigenschaft auf dem Lande und der Zünfte in der Stadt. In diesen Zeiten waren sie begreiflich und notwendig“. Heute, schreibt sie weiter, sind sie zur „lächerlichen Karikatur“ gleichwohl aber zu „mächtigen Werkzeugen volksfeindlicher Interessen“ geworden3. Schon die Produktivkraftentwicklung erfordere: Frauen weg vom Herd. Da werden sich die Genossen doch nicht zum Büttel vermorschter volksfeindlicher Interessen machen wollen.

Wohl wissend, dass sie eine privilegierte Ausnahme war, hält sie im Kommentar zum Programm der Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauen fest: „In der heutigen Gesellschaft, die auf dem privatkapitalistischen Eigentum und der Herrschaft der Kapitalisten beruht, ist die Frau aller politischen Rechte beraubt und wird als ein zweitklassiges, dem Manne untergeordnetes Wesen angesehen.“ Und sie fährt fort: „Die Frau aus dieser Erniedrigung befreien, ihr die gleichen Rechte und ihre Menschenwürde zurückgeben, kann nur die sozialistische Gesellschaftsordnung, die die Herrschaft des Privateigentums und mit ihr jegliche Ungleichheit in der menschlichen Gesellschaft beseitigen wird“. Diese schon 1902 getroffene Einschätzung im Zusammenhang mit der Forderung nach dem Allgemeinen Frauenwahlrecht zeigt: für sie war die Gleichberechtigung der Frauen ein wichtiger Schritt zur weiblichen Emanzipation und zugleich zur Entwicklung und Stärkung des Kampfes der Arbeiterklasse gegen die Bourgeoisie auf dem Weg hin zum Sozialismus. Aber ohne eine sozialistische Gesellschaft, ist sie überzeugt, würde es keine tatsächliche Gleichberechtigung geben können.

Bestandsaufnahme
Und ist es nicht so? Nach jahrzehntelangen Kämpfen und Streiten um gleiche Rechte, um tatsächliche Gleichstellung, um Gleichbehandlung gibt es Fortschritte, partiell aber eher Trippelschritte, und die Regierungsmaßnahmen zu Covid 19 schieben Erkämpftes teilweise wieder in die Mülltonne. Es ist zweifellos ein Fortschritt - auch wenn es100 Jahre gebraucht hat - dass alle von der internationalen Gemeinschaft anerkannten Nationen das Frauenwahlrecht eingeführt haben, 2011 endlich auch Saudi-Arabien. „Auch wenn es damit kein Land mehr gibt, in dem Frauen gesetzlich von politischen Wahlen ausgeschlossen werden, bedeutet das nicht, dass Frauen überall auf der Welt auch Gebrauch von ihrem Recht machen können“, relativiert die Hannoversche Allgemeine 2019 die erkämpfte „Pioniertat“ Saudi-Arabiens. Zumindest auf dem Papier gibt es politische Gleichberechtigung, ein relativer Fortschritt, mehr nicht.

Auch andere Zumutungen, die noch im Bürgerlichen Gesetzbuch 1900 festgeschrieben waren, konnten wir in Deutschland inzwischen auf den Müllhaufen der Geschichte werfen: Ohne die Zustimmung ihres Mannes durfte eine Verheiratete weder einem Broterwerb nachgehen noch über ihr Geld verfügen oder ihren Wohnort bestimmen. Sie hatte nicht einmal das Recht auf ihre Kinder. Das Einzige, was ihr als Hausfrau zustand, war die Schlüsselgewalt über die Speisekammer.

Wirtschaftliche Gleichberechtigung dagegen gibt es nur in Trippelschritten, ist oft auch wieder rückläufig, schauen wir auf den 12-Stunden-Tag für Pflegende in Niedersachsen. Wirtschaftliche Gleichstellung fehlt fast überall, schon gar um und am Arbeitsplatz. Gehen Frauen einer Lohnarbeit nach, verdienen sie in Deutschland im Schnitt 20 Prozent weniger als Männer, so das Statistische Bundesamt. Erschreckend gering ist ihr Zugang zum Arbeitsmarkt weltweit. Laut "Global Gender Gap Report 2020“ haben lediglich 55 Prozent der erwachsenen Frauen einen Job, bei den Männern sind es 78 Prozent. In Teilzeit arbeiten Frauen EU-weit zu rund 31 Prozent, obwohl viele es nicht wollen. In Deutschland sind es sogar 47 Prozent; Folgen sind geringe Renten.

Wie weit wir aber davon entfernt sind, „jegliche Ungleichheit in der menschlichen Gesellschaft zu beseitigen“, zeigen die von der ILO 2019 veröffentlichten Zahlen zur unbezahlten Arbeit. Weltweit leisten Frauen drei Viertel der insgesamt 16,4 Milliarden Stunden unbezahlter Arbeit pro Tag. Schon lange hat S. Federici, neben vielen anderen, auf die Bedeutung der unbezahlten Reproduktionsarbeit innerhalb des Prozesses der kapitalistischen Akkumulation hingewiesen, insbesondere der Reproduktion der Arbeitskraft, einer Arbeit, die überwiegend von Frauen geleistet und nicht entlohnt wird, aber im Kapitalismus zur Profitmaximierung notwendig ist um die Ausbeutung des Mannes vertiefen zu können. Neben der unbezahlten Arbeit der Sorge und Pflege sowie der Organisation des Haushalts gehören Vereins- und Wohltätigkeitsarbeit dazu. Die Systemrelevanz der Care-Arbeit lässt sich in Coronazeiten nicht mehr verschleiern, stellt Christine Braunersreuther heraus.

Wenn überdies noch die Stunden im bezahlten Job hinzugerechnet werden, sind Frauen deutlich stärker belastet als Männer: Sie arbeiten im Schnitt 55 Stunden pro Woche, Männer 49. Da lässt es sich leicht schlussfolgern, dass „eine Aufhebung dieser kapitalistischen Produktionsweise ohne eine grundsätzlich andere Stellung der unbezahlten Reproduktionsarbeit (vor allem) von Frauen überhaupt nicht möglich ist.
Auch der Arbeitsalltag an der Lohnarbeitsfront zeigt die „Erniedrigung“ der Frau. Die „Zeit“ dokumentierte 2019 - ohne Anspruch auf Repräsentativität - einen Blick auf den Arbeitsalltag von Frauen in Deutschland. „Im Jahr 2019 werden Frauen im Job reihenweise diskriminiert, diffamiert und sexuell belästigt: Das dokumentieren fast 1.500 persönliche Erfahrungsberichte, die als Reaktion auf eine umfangreiche Recherche zur Situation von Frauen in der Arbeitswelt seit März bei ZEIT ONLINE und der ZEIT eingegangen sind. Die Frauen, die angaben, dass sie benachteiligt sind, nannten diese Art der Diskriminierung: ungleicher Lohn für gleichwertige Tätigkeit 40 Prozent, Diskriminierung wegen Schwangerschaft oder Elternzeit 37 Prozent, sexuelle Belästigung 31 Prozent, bei Beförderung übergangen, 26 Prozent, Diskriminierung bei Bewerbungsverfahren 19 Prozent, andere Art der Benachteiligung 21 Prozent. … Die Schilderungen (kommen aus) allen Branchen, auf allen Positionen. Die betroffenen Frauen arbeiten in Anwaltskanzleien und Touristikunternehmen, in Handwerksbetrieben genau wie in Automobilkonzernen. Viele sind exzellent ausgebildet. Sie sind Professorinnen, Ingenieurinnen, Erzieherinnen oder Ärztinnen. Manche sind noch in der Ausbildung, andere arbeiten jahrelang im Beruf oder sind Führungskräfte“. Was hier ein Ausschnitt aus der Arbeitswelt ist, lässt sich leider auf nahezu alle gesellschaftliche Bereiche übertragen. Im Schnitt greift in Deutschland alle 45 Minuten ein Mann seine Partnerin an. Sexistische Straftaten sind bisher nicht einmal statistisch erhoben worden.

System: Kapitalistisches Patriarchat
Betrachten wir nur die wenigen exemplarischen Ausschnitte aus der Lebenswirklichkeit der Frauen, wird vollkommen klar, es wird keine Eroberung der politischen Macht zur sozialistischen Umwälzung geben, ohne entschiedene Einbeziehung feministischer Kräfte, ihrer Theorien und Forderungen, um diese Schlechterstellungen und Erniedrigungen ins öffentliche Bewusstsein zu rufen, organisiert zu bekämpfen und abzuschaffen. Nun ist das kapitalistische Patriarchat eine Männerherrschaft, die verbunden mit der Wirtschaftsweise, erfolgreich die Frauenunterdrückung reproduziert. Sie noch im Kapitalismus abzuschaffen, ist daher schwer denkbar. Das gesamte System muss aufgebrochen und überwunden werden. „Ein Netz kultureller Selbstverständlichkeiten erhält die Produktions-/Geschlechterverhältnisse als Herrschaftsverhältnisse mit ihren überlieferten Über- und Unterordnungen. Frauenunterdrückung ist ein Feld der Politik, der Ökonomie, der Moral, der Kultur; sie wird in allen Bereichen von allen beteiligten Personen getragen“, so Frigga Haug. Also auch von Frauen. Aber, so Haug, „sie ist auch nur durch sie veränderbar. Und umgekehrt: In keinem der genannten Bereiche sind Freiheit, Selbstbestimmung, Demokratie, individuelle Entwicklung und Entfaltung, ja das Überleben von Welt und Menschen denkbar, ohne daß das weibliche Geschlecht volle Menschlichkeit erstritten hat“.

Wir erleben, dass Frauen einerseits dieses Herrschaftssystem mittragen, es reproduzieren, häufig darin resignieren, sich aber gleichzeitig gegen Unterdrückung und Unzumutbarkeiten wenden. Immer lauter wird Unzufriedenheit geäußert, zuvörderst - im Massenbewusstsein - gegen die kapitalistischen AusbeuterInnen bzw. deren PolitikerInnen, eben auch gegen den Partner, den Arbeitskollegen, den Nachbarn, die diese ihnen im System zugestandenen „Privilegien“ nutzen. Mit zunehmender Zuspitzung der Widersprüche wenden sie sich auf vielfältige Weise gegen Regierungen des kapitalistischen Systems. Die Abschaffung des Systems aber steht nicht auf ihrer Tagesordnung.

Allgemeiner und zugleich besonderer Teil der ArbeiterInnenbewegung
Rosa Luxemburg waren die auch damals bestehenden Erniedrigungen der Frauen nicht nebensächlich. Ihr wird angekreidet, dass sie die Forderung nach dem Frauenwahlrecht allein unter dem Aspekt des Klassenkampfes betrachtete und nicht als eigenständige emanzipatorische Forderung. Sie habe das Geschlechterverhältnis vernachlässigt. Schauen wir genau hin: Ins Berliner Frauengefängnis brachte ihr Clara Zetkin die Fahnenkorrektur zum Referat „Zur Frage des Frauenwahlrechts“ für die internationale Frauenkonferenz in Stuttgart 1907. „Die ganze Arbeit ist, wie gesagt, herzerfrischend und war mir ein Labsal. Auch eine Fundgrube, denn ich hatte keine Ahnung von dieser ganzen Fülle von Tatsachen aus der Weiberwelt“. Nur eine Woche nach ihrer Haftentlassung eilte sie nach Stuttgart, um dort gemeinsam mit anderen Sozialistinnen, den ersten Versuch zu wagen, die sozialistische Frauenbewegung aller Länder zusammenfassen und dort, sowie auf dem anschließenden Sozialistenkongress, die Resolution zur Forderung nach dem allgemeinen Frauenwahlrecht durchzusetzen. Eine gewaltige Herausforderung. Clara Zetkin konstatierte im Anschluss in der „Gleichheit“, es sei ein schwerer Versuch gewesen, weil die sozialistische Frauenbewegung „ein Teil der allgemeinen Arbeiterbewegung, zugleich aber doch ein besonderer Teil derselben“ sei. Sie habe „bestimmte Sonderaufgaben zu erfüllen und bedarf daher ihrer eigenen Organe“. Denn die Frau sei „Fabrik- und Haussklavin“. Es ging zwar um das Frauenwahlrecht, um die Stärkung der Arbeiterbewegung durch die Frauen, aber sehr klar war den Akteurinnen, dass sie noch tiefe Gräben innerhalb der Klasse zu überwinden hatten. Die Resolution zur Forderung des  Frauenwahlrechts wurde beschlossen, sowie ein sozialistisches Frauenbüro in Stuttgart mit Clara Zetkin als Frauensekretärin.

Die Autorin Raya Dunayevskaya schreibt zu Recht, dass die völlige Vernachlässigung der feministischen Dimension von Rosa Luxemburg durch Marxisten wie Nicht-Marxisten nach einer Korrektur verlange. Die Frauenbefreiungsbewegung solle Luxemburgs revolutionäre Dimension aufnehmen, nicht nur aus historischen Gründen, sondern für ihre aktuellen Forderungen, einschließlich der nach Autonomie. Und sie hält fest, dass Rosa Luxemburg zwar den männlichen Chauvinismus wahrgenommen hat, es aber ihr Grundsatz war, ihn zu ignorieren. Vermutlich ging der Chauvinismus Luxemburg einfach auf die Nerven. Auf Schritt und Tritt begegnete er ihr hautnah. Zwei Beispiele: 1898 wurde ihr die Redaktion der Sächsischen Zeitung angetragen. „Was denn! Unterrockpolitik“ lauteten Proteste. Und 1905 hatte Edmund Fischer in den sozialistischen Monatsheften geschrieben: „Der alte Emanzipationsstandpunkt, der immer noch in vielen Köpfen spukt, lässt sich meiner Ansicht nach heute nicht mehr aufrechterhalten. … Die sogenannte Frauenemanzipation widerstrebt der weiblichen und der menschlichen Natur überhaupt, ist Unnatur und daher undurchführbar.“ Rosa Luxemburgs hatte vermutlich gehofft, der Chauvinismus würde mit der Abschaffung des Kapitalismus verschwinden. Aber die strukturelle patriarchale Gewalt ließ sich im Versuch des Systemwechsels nicht einfach abschaffen.

Auch Söder’s „Ich bin für die Frauenquote“ und Merz’ Zugeständnis einer Quote in der CDU, sind keine Indizien für strukturelle Änderungen im Kapitalismus. Jedoch deutet sich eine Änderung in der Rekrutierungsstrategie der Herrschenden an. Nun ist das Ziel „30 Prozent weibliche Führungskräfte in DAX-Vorständen“ (gegenüber bisher nur zehn Prozent) kein Maßstab für die wirtschaftliche Gleichstellung der Frauen. Vielmehr zeigen den Aktien-Profiteuren vermehrt Studien, dass Frauen bessere Führungskräfte sind, und dass gemischt geschlechtlich geführte Unternehmen wirtschaftlich erfolgreicher sind. Frauen sind flexibel, umsichtig, teamfähig, neugieriger, pflichtbewußt, offen für neue Erfahrungen, bessere Konfliktmanagerinnen, sind eher in der Lage, Ziele zu setzen und deren Umsetzung zu kontrollieren. Sie kommunizieren klarer, ergreifen eher die Initiative und stoßen eher Innovationen an, unterstützen und beziehen Mitarbeiter mehr ein und gehen methodisch vor. Frauen mit solchen Kompetenzen, werden zunehmend als Führungskräfte gesucht. So wiesen US-Forscher nach, dass Geschlechter-Mix sogar wichtiger ist als die Intelligenz der Mitglieder. Mehr noch: Je mehr Frauen im Team sind, desto besser wird es.

Fast könnte frau zu einem vergleichbaren Schluss wie Luxemburg kommen, die Produktivkraftentwicklung erfordere fürs Kapital mehr Arbeitskräfte, die - kurz gesagt - teamfähiger sind, und das sind eben Frauen, denn sie managen Haushalt, Familie und Beruf. Deswegen werden von der Recruitingbüros nicht nur weibliche Führungskräfte, sondern zunehmend auch weibliche Fachkräfte gesucht, die geeignet bzw. ausreichend qualifiziert für den Arbeitsmarkt sind.

Nun steht aber die Mehrheit der Frauen an völlig anderer Stelle, wie wir oben gezeigt haben. Zum Teil stehen sie sogar „als postkoloniale Erweiterung der Care-Kette“, die polnische Putzfrau, die rumänische 24-Stunden-Betreuung, die für geringes Entgelt die Sorge-Arbeit weiblicher Führungskräfte übernehmen. Sie werden damit eingereiht in den Niedriglohnbereich, der überproportional Frauen betrifft.

Sind deswegen die Kämpfe der Feministinnen um gleichberechtigte weibliche Führungskräfte in Unternehmen umsonst im Kapitalismus? Nutzen sie nur den „Damen“, wie es damals beim Frauenwahlrecht hieß?“

Das zu behaupten, käme einem Abschied vom täglichen Klassenkampf gleich! Drei Beispiele sollen benannt werden: Mit den Aktionen gegen den Abtreibungsparagraphen 218 „Wir haben abgetrieben“ (1971), initiiert von prominenten, wohlhabenden Frauen in Frankreich und Deutschland, wurden Fortschritte erreicht zur Humanisierung der Umstände unvermeidbarer Abtreibungen. Das volle Selbstbestimmungsrecht der Frauen konnte nicht durchgesetzt werden, aber Abtreibung und Sexualität wurden aus der Tabuzone geholt, und es gelang einige legale Abtreibungsmöglichkeiten durchzusetzen. Freilich, heute müssen die Polinnen wieder darum kämpfen. Belästigt, begrapscht, vergewaltigt, die #MeToo-Bewegung hat das Schweigen über sexuelle Übergriffe in von Männern dominierten Machtstrukturen aufgebrochen. Frauen reden offen darüber, wehren sich öffentlich, erhalten mediale Unterstützung. Initiiert wurde auch sie von prominenten Frauen. Frauenverbände fordern bessere Gleichstellungspolitik. Zur Bundestagswahl 2017 forderte ein Bündnis von 16 Frauenverbänden mit der „Berliner Erklärung“ die Parteien und Unternehmen auf, mehr für Gleichberechtigung zu tun. Neben einer Frauenquote von mindestens 30 Prozent in Führungsgremien und Aufsichtsräten inklusive wirksamer Sanktionen, waren das Forderungen, die allem Frauen nutzen: z.B. Ausbau von Kitas und Ganztagsschulen, Lohngerechtigkeit, Alleinerziehende stärken, Altersarmut mindern.

Revolutionäre Realpolitik
Solche organisierten Vorstöße sowie demokratische und soziale Forderungen dürfen wir nicht geringschätzen. Sie bringen Aufmerksamkeit und machen Mut, ermöglichen Teilerfolge. Aber abgeschafft werden die patriarchalen Machtstrukturen im Kapitalismus dadurch nicht.

Auch organisierte Massenkämpfe und Streiks, vornehmlich von Frauen, wie z.B. der Kampf der Frauen gegen die Schließung des Krupp-Hüttenwerks in Duisburg-Rheinhausen, Frauenstreiks in der Schweiz oder die Streiks und Kämpfe bei ver.di um soziale Fortschritte im Betreuung, Pflege- und Gesundheitsbereich, bringen Kampf- und Streiterfahrung, auch wenn sie nach 1989 teilweise zu Abwehrkämpfen gegen die neoliberalen Zumutungen des Kapitalismus wurden. Demokratische und soziale Forderungen aber, für die wir im Kapitalismus kämpfen, aber nicht durchsetzen können, helfen auf dem Weg zu einer sozialistischen Gesellschaft. Teilweise sind reale Fortschritte auch im Kapitalismus vermutlich nicht mehr zurück zu drehen, denken wir ans Frauenwahlrecht. Und in Industrieländern werden sich Forderungen nach dem Recht auf Arbeit für Frauen, Selbstbestimmmung über eigenes Geld und den Arbeitswunsch, aber auch jahrzehntelange Tagesforderungen nach guten Kitaplätzen und Ganztagsschulen, damit Frauen Erwerbsarbeit nachgehen können, nicht mehr aus den Köpfen verdrängen lassen.
Was anderes ist der Kampf darum als revolutionäre Realpolitik, radikale Realpolitik oder revolutionäre Politik in nichtrevolutionären Zeiten. Alle Forderungen, die den Prozess der Gleichstellung voranbringen - nicht die, die von ihm ablenken - sind hilfreich, egal ob sie aus der Arbeiterklasse kommen, oder von prominenten „Damen“. Entscheidend ist ihre Wirksamkeit und ob wir sie aufgreifen und sie mit unserer revolutionären Zielstellung verbinden. Wir dürfen sie nicht abwerten. Vor allem aber dürfen wir uns nicht zurück- lehnen, wenn wir etwas durchgesetzt haben. Der Klassengegner, die Klassengegnerin lassen sich nicht aufhalten, um Erreichtes wieder zurückzudrehen, was wir an der gegenwärtigen Auseinandersetzung um das Abtreibungsverbot vorrangig in Polen sehen müssen oder die Arbeitszeitverlängerungen und Schleifung von Teilen des Arbeitsschutzgesetzes während der Corona-Maßnahmen.

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Rosa Luxemburg bietet uns Marxisten, Marxistinnen und marxistischen Feministinnen noch heute eine überzeugende Handlungsorientierung: „Für die Sozialdemokratie bildet der alltägliche praktische Kampf um soziale Reformen, um die Besserung der Lage des arbeitenden Volkes noch auf dem Boden des Bestehenden, um die demokratischen Einrichtungen vielmehr den einzigen Weg, den proletarischen Klassenkampf zu leiten und auf das Endziel, auf die Ergreifung der politischen Macht und Aufhebung des Lohnsystems hinzuarbeiten.

"Rosa & Karl 1871 - 2021" Heft Nr. 1/2021 der Marxistischen Blätter kann hier bestellt werden.

 

 

22. Februar 2021