Otto Bauer in der Kritik von links
Ein Beitrag zum "Austromarximus" von Peter Goller
0tto Bauers in den 1970er Jahren erfolgte "Renaissance" im Zug von "Drittem Weg" und "Eurokommunismus", der Versuch, seinen in den "westintegrierten" Sozialdemokratien nach 1945 erledigten "integralen Sozialismus" parallel zu Antonio Gramsci für einen diffus "linkssozialistischen Weg" zu reaktivieren, wurde nicht zuletzt von Theoretikern des revolutionären Sozialismus als ideologisches Scheinmanöver erkannt.Otto Bauer in der Kritik von links
„Austromarxismus-Wiederentdeckung" als "linkes Missverständnis"
von PETER GOLLER
0tto Bauers in den 1970er Jahren erfolgte "Renaissance" im Zug von "Drittem Weg" und "Eurokommunismus", der Versuch, seinen in den "westintegrierten" Sozialdemokratien nach 1945 erledigten "integralen Sozialismus" parallel zu Antonio Gramsci für einen diffus "linkssozialistischen Weg" zu reaktivieren, wurde nicht zuletzt von Theoretikern des revolutionären Sozialismus als ideologisches Scheinmanöver erkannt.
Von marxistischer Seite erhoben Hans Jörg Sandkühler und Rafael de la Vega mit ihrer Textsammlung ',Austromarxismus" 1970 früh Einspruch gegen den Rückgriff auf Otto Bauer oder Max Adler. Die Austromarxisten sind nur ein scheinbar linkes Theorieangebot, um in der Krise des Reformismus die Binnenstabilität der Sozialdemokratie zu erhöhen. Eine "Kritik in marxistischleninistischer Perspektive" ist notwendig, um das austromarxistische Angebot als ein revisionistisch antimaterialistisches kenntlich zu machen. Der Austromarxismus zählt nach Sandkühler und dc la Vega zum "das bürgerliche System stabilisierenden Reformismus". Der Sammelband legt den "philosophischen Revisionismus des 'ZurückzuKant" im Austromarxismus offen und erinnert an seine opportunistische Politik vor dem Februar 1934: "Der Austromarxismus scheint sich mit seinem Scheitern in den 30er Jahren sein Urteil gefällt zu haben. Er schien tot. (...) Der Austromarxismus hat, beobachtet man den Buchmarkt, seine Renaissance." Warum? Er ist keine Gefahr für die Sozialdemokratien Godesberger Zuschnitts, in den meisten Punkten ist er assimilierbar, er bindet wie das historische Vorbild potentielle Linksopposition und wirkt demoralisierend innerhalb der kommunistischen Konkurrenz."
im Jahr 1972 – die österreichische Sozialdemokratie nahm gerade unter der Ägide ehemaliger "Revolutionärer Sozialisten" wie Manfred Ackermann, Karl Czemetz oder Joseph T. Simon die neunbändige BauerWerkausgabe in Planung wurde in deutscher Übersetzung die aus Sicht eines jugoslawischen Rätesozialismus vorgetragene BauerKritik des Zagreber Philosophen Predrag Vranicki zugänglich. Für Vranicki trägt schon die"Nationalitätenfrage" des jungen Bauer von 1907 "keinen marxistischen Charakter", da sie die Nation (als ',Schicksalsgemeinschaft") nicht materialistisch, sondern in psychologischen Begriffen fasst. Politisch bewertet fährt dies wie im Fall Renners dazu, dass auf das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung als einer Losung der sozialen Revolution verzichtet wird. Bauer ist für Vranicki der Ideologe der "Schwierigkeiten", der "Hindernisse", der "notwendig intermedialen Stadien", sein "Zentrismus" ist real rechter Opportunismus. Bauer ist nach Vranicki im Einklang mit den Bernsteinschen Revisionisten auf die bürgerliche Idee der formalen Mehrheit, am parlamentarischen Weg fixiert, der nur im Fall der bürgerlichen Konterrevolution proletarische Gegengewalt defensiv in Aussicht stellt: "Die Rolle der Gewalt wird zu einer rein defensiven, was bedeutet, dass man die Taktik und den Kampf des Proletariats primär auf den demokratischen Parlamentarismus ausrichtet und auf Wahlsiege hofft. Es ist daher kein Wunder, dass in entscheidenden Augenblicken, wie sie zum Beispiel 1934 in Österreich eintraten, die sozialistische Arbeiterpartei trotz der Unterstützung durch die bewaffnete Organisation des Schutzbundes ohnmächtig bleiben musste."
Bauers von aller revolutionären Haltung abgewandtes Denken, sein Unverständnis gegenüber der von Marx und Engels an Hand der Pariser Kommune beschriebenen Diktatur des Proletariats, im Sommer 1917 von Lenin in "Staat und Revolution" erneuert, zeigt sich nach Vranicki an Bauers wenige Tage nach dem 12. Februar 1934 im "Aufstand der österreichischen Arbeiter" (Prag 1934) erhobener Klage, dass das Bürgertum das beschwichtigende Verhalten der Sozialdemokratie gegenüber den revolutionären Massen 1918/19 nicht dankt: "Ein revolutionärer Politiker der Avantgarde der Arbeiterklasse hätte keinerlei Illusionen darüber haben dürfen, wie die Besänftigung der Geister in einer revolutionären Situation und die Rettung der Bourgeoisie von dieser schließlich honoriert wird. Ihr Klasseninteresse war immer noch stark und entschlossen genug, den Klassenfeind mit zynischer Dezimierung und vulgärsten Insinuationen zu belohnen ."
Um 1980 diente in Kreisen der so genannten bundesdeutschen ,,Eurolinken", vor allem in ,,linkssozialistischen" Kreisen der SPD der Bauer' sche "demokratische Weg zum Sozialismus" als "Standortbestimmung für marxistische Sozialdemokraten". Ein BauerGegner wie Christoph Butterwegge erklärte hingegen: Bauer bietet keinen Ausweg aus der ideologischen Krise der SPD, da er ja Exponent des real reformistischen Austromarxismus war, da er die Grundbegriffe der marxistischen Staatstheorie im Sinn bürgerlicher Staatsrechtslehre verändert hat, den Staat also klassenneutral auffasste, der Diktatur des Proletariats klassenabstrakt den Begriff der "Demokratie" gegenüberstellte. Bauer hat sich in sämtlichen Konflikten bis zum Jahr 1934 unter dem Titel der "Parteinheit" gegen die jeweiligen linksoppositionellen Gruppen gestellt. Selbst die um Kurt Rosenfeld oder Max Seydewitz 1929 formierte Opposition gegen den "Tolerierungskurs" der SPD hat Bauer fallen gelassen. Ein Vergleich zwischen dem ,,zentristischen" Reformisten Bauer und dem Revolutionär Gramsci ist unzulässig. Wirkungsgeschichtlich verhindert Bauer'sches Denken den unabdingbaren Bruch mit der sich dem "Neoliberalismus" nähernden europäischen Sozialdemokratie der Gegenwart.'
Wichtige Argumente gegen Bauer als brauchbaren Protagonisten einer "neuen Eurolinken" lieferte Peter Kulemann 1979 mit "Am Beispiel des Austromarxismus": Otto Bauer hat die revolutionäre Theorie von Marx in ein Arsenal nachträglicher Legitimation des legalistischen Reformdenkens der österreichischen Sozialdemokratie seit 1907 verwandelt. Der Austromarxismus gilt Kulemann als ',Legitimationsideologie post festum", als Theorie von der "Unvermeidlichkeit des Reformismus", gleichgültig, ob man Renners ',Kriegsmarxismus" oder Bauers Thesen vom "Klassengleichgewicht", von der unausweichlich reformistischen Beendigung der "österreichischen Revolution" 1918/19 betrachtet. Bauer benützte Marx und Engels nur, um mit ihnen gelehrt den Rückzug der österreichischen Sozialdemokratie 1918, 1927 oder 1934 zu rechtfertigen.6
Nicht zuletzt in Reaktion auf verschiedene OttoBauer Tagungen österreichischer und deutscher Jungsozialisten' wurde die BauerKonjunktur in "Weg und Ziel" schon im Jänner 1980 im besten Fall als ideologische Krisenerscheinung der "symbiotisch mit dem Kapital" verwachsenen westeuropäischen Sozialdemokratien interpretiert, als Symptom, dass der seit der Wirtschaftskrise 1974/75 stagnierende "sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat" nicht mehr ausschließlich mit Rückgriffen auf Keynes oder auf Popper'schen "Kritischen Rationalismus" rechtfertigbar ist.
Ernst Wimmer erklärte die "Wiederentdeckung" Bauers damit, dass in verschiedenen sozialdemokratischen Gruppen und im "undogmatisch" kommunistischen Lager Italiens, Frankreichs oder Spaniens, in denen mit der Oktoberrevolution von 1917 auch die Kategorie "Diktatur des Proletariats" verpönt war, nach wenigstens zum Schein marxistischen Theorien der legal sozialistischen Machtergreifung gesucht wurde. Solche Theorien des "sanften, risikolosen Hinübergleitens in eine neue Ordnung über Sechzehntel, Achtel, Viertel der Macht konnte man in Bauers "Weg zum Sozialismus" (1919), in Bauers "Kampf um die Macht" (1924) oder in Bauers Erläuterungen zum Linzer Programm (1926) finden: "Wer wäre reicher an solchen Theorien als der Austromarxismus, der sich unter Bedingungen entwickelte, wo zuweilen die große Mehrheit der Sozialisten die Machtergreifung für das Vordringlichste hielt, ja die Sozialdemokratische Partei sogar im bürgerlichen Staat über einen bewaffneten Arm verfügte: den Republikanischen Schutzbund. Kaum eine Frage, welche auf dem Weg zur Macht auftauchen kann, die nicht im Austromarxismus theoretisch angerissen wurde, freilich meist nur, um zu 'beweisen', dass die Verhältnisse 'noch nicht reif' seien, dass ein 'Abwarten des Reifeprozesses', dass der Rückzug in Permanenz, die Flucht vor Entscheidungen das Ratsamste seien."
In der ideologischphilosophischen Neutralität des Bauer' schen Austromarxismus er verpflichtet nicht auf den dialektischen Materialismus, Bauer selbst sympathisierte etwa mit Ernst Machs Positivismus , in Bauers "gradualistisch" sozialistischer Transformation, in seinen in der "Gleichgewichtstheorie" verankerten Elementen eines klassenneutralen Staats, in Bauers steter Flucht zu den Notwendigkeiten der Geschichte sieht Wimmer den Grund, warum der Austromarxismus nach Jahrzehnten des Vergessenseins für eine "Eurolinke" wieder aktuell scheint: "So kann man bei seinem 'historischen Fatalismus' anknüpfen, bei der Vorstellung eines automatischen Zusammenbruchs, eines 'Weltgerichts', wo nicht die Arbeiterklasse mit dem Gegner abzurechnen habe, sondern zuvorkommend die Geschichte das höchst persönlich besorgen werde. (Etwa beim späten Viktor Adler) Ebensogut kann man andere Fäden herauszupfen: diverse Theorien des 'Gradualismus', des sanften Hineinwachsens in den Sozialismus ohne qualitativen Sprung, ohne erbitterten Klassenkampf bis zur Revolution; eine der zahllosen Spielarten, mit denen man das große Loch zu stopfen versuchte, welches durch das natürliche Ausbleiben des 'automatischen Zusammenbruchs' und die Ausklammerung der Arbeiterklasse als geschichtsgestaltende Kraft in der Theorie entstehen musste.'
Bruno Frei über den "integralen Sozialismus"
Bruno Frei bezeichnete ebenfalls Anfang 1980 in "Weg und Ziel" das Wiederanknüpfen an Bauer als linkssozialistische Illusion. Frei erinnerte daran, dass Bauer seinen "integralen Sozialismus" 1936 organisatorisch innerhalb der reformistisch sozialistischen internationale angesiedelt wissen wollte: "Es erweist sich also, dass der integrale Sozialismus nichts weiter ist, als die Liquidierung der kommunistischen Parteien und der revolutionären Internationale, das Aufgehen dieser Organisationen im Reformismus." Der "integrale Sozialismus" ist für Frei nur eine an die Bedingungen der faschistischen Periode, der illegalisierung angepasste Fortschreibung des Linzer Pro
gramms von 1926 mit seinem Konzept der "defensiven Gewalt", die Fortschreibung von Bauers Idee eines "neuen Hainfeld". Bauers "integraler Sozialismus" beruht vor allem auf der Verteidigung des Reformismus als einer notwendigen Entwicklungsstufe der Arbeiterbewegung: Die Kritik am Reformismus, am Opportunismus füllt bei Bauer auch 1936 deutlich nachsichtiger aus, als jene an der Demagogie" der Kommunisten.
Frei bestreitet 1980 mit Recht, dass sich die Ideologen des "Dritten Weges" auf das Erbe der Volksfront von 1935 berufen können: "Ist es richtig, die vom 7. Weltkongress der Komintern entworfene Strategie der Einheits und Volksfront mit dem 'Eurokommunismus' oder mit dem integralen Sozialismus gleichzusetzen?"
Bruno Frei, der nach Mitgliedschaft zur österreichischen Sozialdemokratie 1934 in die KPD aufgenommen wurde, stellt 1980 fest, dass jemand, der in den zwanziger Jahren Anhänger Bauers war, damals die Niederlage des Austromarxismus miterlebt hat, der gesehen hat, wie erledigt Bauer in der SPÖ nach 1945 war, über die Kurzlebigkeit der BauerKonjunktur vorab Bescheid weiß: "Für einen österreichischen Kommunisten, der die 'Zeit zwischen zwei Weltkriegen' tätig miterlebt hat, ist der Versuch einer Rehabilitierung des Austromarxismus nicht nachvollziehbar.'
In seiner 1972 veröffentlichten Autobiographie beschreibt Frei, dass er bis in die frühen dreißiger Jahre geglaubt hat, dass sich die österreichische Partei von der deutschen Sozialdemokratie unterscheidet: "Immer noch war ich überzeugt, in meiner Heimat sei es anders als in Deutschland, Otto Bauer sei nicht Hermann Müller, Renner nicht Ebert." Am Linzer Parteitag 1926 nahm Frei als begeisterter Anhänger von Otto Bauer teil, von dem er auch als "Fechter mit dem Wort dialektische Funken schlagend" spricht: "Soll der Erzähler den atemlos an den Lippen des Meisters hängenden Gefolgsmann beschreiben, der bereit war, in der berühmten Formel 'demokratisch solange wir können, Diktatur nur, wenn man uns zwingt und soweit man uns zwingt', ein Versprechen zu sehen, das die Schranken der bürgerlichen Demokratie sprengte? Soll er für das Herzklopfen des Jüngers Verständnis erbitten, das einen befiel, als die Botschaft von der unmittelbar bevorstehenden Eroberung der Macht in Österreich verkündet wurde?" Noch Ende 1933 habe er im persönlichen Gespräch Otto Bauers Versicherung, die österreichische Partei wird nicht das Jännerschicksal der SPD erleiden, zur Kenntnis genommen: "Das kann in Österreich nicht passieren; wir haben vorgesorgt.' [so Otto Bauer Anm.] (...) Wenige Wochen später, im Geschützfeuer auf den KarlMarxHof, hatten diese Worte keine Gültigkeit mehr.""
Möglicherweise waren Frei auch zeitgenössische Kritiken an Otto Bauer bekannt, wie jene von Karl Kraus, der Bauer 1930 in dem Gedicht ,Der Führer" vorwarf, die Handlungsunfähigkeit und Apathie der Sozialdemokratie hinter einem historischen Determinismus, hinter scheinradikalen Phrasen zu verbergen, jede politische Niederlage fast metaphysisch in einen Fortschritt umzuinterpretieren: "Wie wir haben in der Hand die Massen, 'ja da kann der Gegner sich verstecken: / blind gehorchen sie, wenn wir sie lassen / stracks und imposant die Waffen strecken."
Möglicherweise kannten BauerKritiker wie Frei auch jenen Abschnitt aus Oskar Maria Grafs 1936 veröffentlichtem Zeitroman "Der Abgrund" mit jener Tage vor dem 12. Februar 1934 angesiedelten Szene, in der Wiener kampfbereite Wiener Genossen darüber verzweifeln, dass Otto Bauer im "Kampf' und in der ',Arbeiterzeitung" mit gelehrter Textphilologie marxistische Elemente aus der dem Austrofaschismus dienenden päpstlichen Enzyklika ,,Quadragesimo Anno" destillieren will. Graf stellt den Otto Bauer vom Ende 1933 als verzweifelten, bildungsbürgerlichen Grübler über dem 'Quadragesimo Anno'Text hin und stellt ihm den in Leipzig angeklagten Georg Dimitroff entgegen: "Otto Bauer dagegen grübelte darüber nach, wie die päpstliche Enzyklika 'Quadragesimo anno' nun eigentlich im Sinne des Klassenkampfes auszulegen sei. (...) Ihr Grundsatz war eine patriarchalische Wohltätergesinnung gegenüber der Arbeiterschaft. 'Wer Knecht ist, soll Knecht bleiben!', sagt das berühmt gewordene Wort eines Kölner Bischofs. Und die göttliche Vorsehung herrscht. (...) Der durch sein bürgerliches Verantwortungsbewusstsein gehemmte sozialdemokratische Führer Otto Bauer verabsäumte nicht, sein umfassendes Wissen aufzubieten, um den revolutionär erregten Arbeitern noch einmal nachzuweisen, wie sie sich auch in diesen Rahmen eingliedern und sich dennoch 'marxistisch' betätigen könnten. Der Kampf um die Auslegung der Enzyklika, meinte er, sei im Grunde genommen die gegebene Form des Klassenkampfes in der heutigen Situation. 'Jetzt weiß ich nimmer, solln wir jetzt Betbrüder werden oder Kommunisten?' sagte der Dicknasige [Vertrauensmann Anm.] aus dem 'KarlMarxHof' zu Peter und schüttelte verwirrt den Kopf. 'Ich glaub bald, die vom Parteivorstand gehn jeden Tag in die Kirch und lesen bloß noch heimlich den Marx."
Sogar Leopold Spira, Mitherausgeber des "Wiener Tagebuch", der Zeitschrift der ',KPÖDissidenten" des Jahres 1969 gestand 1992 widerwillig, dass nicht erst nach der Enttäuschung über die französische Linksregierung von 1981 der Rückgriff auf den Austromarxismus, damit auch die ganze "Otto BauerRenaissance" ein enttäuschendes Alibi für den zerfallenden ',Eurokomniunismus" war und schon gar keinen Platz in den sich schon abzeichnenden "neuen Sozialdemokratien" all der Vranitzky, Blair oder Schröder haben wird."
Die Kritik des jungen Ernst Fischer
Der historische Otto Bauer selbst war ein ständiger Gegner der innerparteilichen revolutionären Option. Über ein Vierteljahrhundert einsetzend nach den Wahlrechtskämpfen 1907 bis hin zur Februarniederlage 1934 nahm Bauer an allen Schnittstellen der Geschichte 1914, 1918, 1927 oder 1933 gegen jede sich innerhalb der SDAP im Ansatz formulierende Linksopposition Stellung. In der OttoBauerRezeption der 1970er Jahre blieb dies da störend unbeachtet und heute wird dies von den Ideologen einer "neuen europäischen Linken" übersehen, die auch alle Kritik am ,,Menschewisten" Bauer von Seite Lenins oder Trotzkis ignorieren, so wenn Lenin 1920 mit Spott auf Bauers Modell "sozialer Machtfaktoren", das den proletarischen Klassenkampf in eine bürgerlich empirische Soziologie auflöst, reagiert hat,` oder wenn Trotzki bis 1933 Bauer als Theoretiker "ohne politischen Willen" analysiert, der nur "in dem Kampfe gegen den revolutionären Flügel in der Anhäufung von Gründen und Tatsachen, sowie Zitaten gegen eine revolutionäre Aktion" auffällt.
Im Mai 1933 empfahl Trotzki der "Opposition in der SPÖ" den Bruch mit der Partei, nicht nur mit Otto Bauer, sondern auch nut der "Halbopposition" Max Adlers, von dem Trotzki schon im Zusammenhang mit der Kritik an der deutschen Parteiabspaltung "Sozialistische Arbeiterpartei (SAP)" gemeint hatte, dass ein "verzweifelter Sozialdemokrat" noch lange kein Revolutionär ist: "Die sozialdemokratischen Massen vor politischer Zersetzung, Verseuchung, Verfaulung retten ist unmöglich, ohne Bauer und Co. unversöhnlichen Kampf anzusagen. Dieser Kampf muss unvermeidlich zur Spaltung führen." Die Aufgabe der Linksopposition ist der Bruch mit der austromarxistischen Tradition. Gegenüber den in der Sozialdemokratie organisierten Arbeitermassen muss die Linksopposition "das Wort 'Verrat" aussprechen: "Man muss erklären, dass Bauer, Danneberg, Seitz und Co. (sie alle muss man beim Namen nennen) das österreichische Proletariat verraten haben wie Wels und Co. das Proletariat Deutschlands verraten haben."
Vergessen ist neben der von Rosa Luxemburg oder Georg Lukács geübten Abrechnung mit den opportunistischen Tendenzen des ,,Proudhonisten" Otto Bauer` auch da nicht in Legenden passend die Kritik des jungen Ernst Fischer an Otto Bauers "integralem Sozialismus", einem Modell, dem nicht erst von "linken Erneuerern" der Gegenwart vergeblich Leben einzuhauchen versucht wurde. Mitte 1936 bringt Ernst Fischer in "Weg und Ziel" Bauers Verbindung von reformistischem und revolutionärem Sozialismus im Zeichen der Volksfrontlosung des VII. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale Verständnis entgegen. Fischer sieht in Bauers "integralem Sozialismus" aber doch nur modifizierten Austromarxismus, zumal die Spaltung der Arbeiterbewegung im organisatorischen Rahmen der sozialdemokratischen Internationale überwunden werden soll.
Über Bauers vor siebzig Jahren im Februar 1936 in Druck gegebenes Werk "Zwischen zwei Weltkriegen?" heißt es bei Fischer, dass es ideologischer Ausdruck der "tiefen Krise der II. Internationale" ist: "Otto Bauer rechtfertigt nicht nur den Reformismus, verkündet nicht nur die fatalistische Auffassung 'Alles musste so kommen, wie es kam, es gab keine andre Möglichkeit!', verschleiert nicht nur die Notwendigkeit der klaren Wahl zwischen revolutionärem und reformistischem Sozialismus er vermeidet es auch, den sozialdemokratischen Arbeitern zu sagen, was zu tun ist, um die Einheitsfront auszubauen und die Einigung der Arbeiterklasse herbeizuführen, er gibt ihnen nur den Rat, innerhalb der 11. Internationale eine 'Synthese zwischen Reformismus und revolutionärem Sozialismus' zu propagieren und der geschichtlichen Entwicklung zu vertrauen." Fischer wirft Bauer vor, das alte zentristische ,,Einerseitsandererseits"Zaudern nicht überwinden zu können. Otto Bauer wird nicht klar, dass es kein Zurück zur Ideologie des ,,Linzer Programms" von 1926 gibt. Mit seinem "integralen Sozialismus" will Bauer aus der Sicht des 1934 zur KPÖ übergegangenen Redakteurs der "Arbeiterzeitung" Fischer primär verhindern, dass die illegalen Kader der Revolutionären Sozialisten den Weg zum MarxismusLeninismus nehmen. Besonders scharf weist Fischer deshalb Bauers Formulierung: "Der integrale Sozialismus kann sich heute nur innerhalb der Sozialistischen ArbeiterInternationale entwickeln"" zurück: "Der 'integrale Sozialismus' war schon einmal vorhanden in der österreichischen Sozialdemokratie; er ist in einer neuen Situation der alte Austromarxismus." Bauer will eigentlich die alte ',Parteieinheit" retten, wäre es nach ihm gegangen, wären selbst eine Rosa Luxemburg, ein Karl Liebknecht in der Partei Gustav Noskes geblieben. Nach Fischer gibt es keine akademisch abstrakte Synthese von Reformismus und Bolschewismus, es gibt nur den offenen Weg zum Marxismus Leninismus. Den "integralen Sozialismus" lehnt Fischer ab: "Es gibt keine Synthese zwischen Reformismus und Kommunismus, wohl aber gibt es eine Verständigung, eine Vereinigung auf revolutionärer Grundlage."
Fischer gesteht Bauer zu, in Fragen der Volksfront, der Verteidigung der bürgerlichen Demokratie einem Dimitroff nahe zu kommen. Außerdem zählt Bauer zu jenen wenigen Theoretikern der Sozialdemokratie, die den sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion anerkennen. Allerdings verkennt auch der späte Bauer nach Fischer die konterrevolutionären Gefahren in der Sowjetunion, vor allem hält es Fischer für unakzeptabel, dass Bauer weitgehend auf eine totalitarismustheoretische Einschätzung zurückfällt. Fischer wirft Bauer eine "gewaltsame und unaufrichtige Gleichsetzung der fascistischen und der proletarischen Diktatur" vor: "Gleichzeitig denunziert [Otto Bauer] die Diktatur des Proletariats als 'Diktatur einer allmächtigen Parteibürokratie".
Unverändert sieht Fischer bei Bauer 1936 auch dessen lebenslange Verwandlung des historischen Materialismus in ein System schicksalhaft objektiver Gesetzmäßigkeiten beibehalten, so wenn Bauer die reformistische Periode der Arbeiterbewegung als notwendig geschichtliche Stufe legitimiert. Bauer verwandelt nach Fischer die materialistische Geschichtsauffassung in einen apologetischen "historischen Fatalismus", der ein revolutionäres Handeln in Lenins Sinn unmöglich macht. Bei Otto Bauer ist der Weg von der Analyse des Reformismus zu seiner Anerkennung und sogar Verteidigung ein sehr kurzer:" "Dieser historische Fatalismus ist die tiefe, die tödliche Schwäche aller geschichtlichen und politischen Konzeptionen Otto Bauers; stets geneigt, die objektiven Schwierigkeiten und damit den Gegner zu überschätzen, die Kraft der Arbeiterklasse, die Bedeutung führender Parteien und führender Männer zu unterschätzen, übersieht Otto Bauer, dass in entscheidenden geschichtlichen Situationen die Entwicklungsmöglichkeiten durchaus nicht eindeutig vorausbestimmt sind, dass das Ergebnis solcher Situationen nicht nur von historischen 'Naturgesetzen', sondern in hohem Maße von dem Scharfblick, der Entschlossenheit, der Aktivität der handelnden Kräfte abhängt."
Wenn Otto Bauer das Scheitern der deutschen Novemberrevolution als historisch unausweichlich darlegt, so dient das nach Fischer nur dazu, die subjektive Rolle der rechtssozialdemokratischen Kreise um Ebert, Scheidemann oder Noske übersehen zu können. Fischer fällt an Bauer vor allem die "passive Form der Darstellung" auf, so Wendungen wie "der Streik, der Aufstand ... wurde niedergeworfen". Bauer stellt sich zu selten die Frage, wer niedergeworfen hat, so etwa im Fall des "KappPutsches" 1920:' "Wer hat die gewaltigen revolutionären Energien, die der KappPutsch entfesselte, wieder abgewürgt? Die sozialdemokratische Parteiführung. Der Geschichtsschreiber mag die Beweggründe der Sozialdemokratie erklären, aber er darf die Schuld der Sozialdemokratie nicht einfach verschweigen, er darf nicht so tun, als sei die Revolution nichts anderes als ein Naturprozess, in dem etwas geschieht, gleichgültig, durch wen es geschieht."
In den 1969 veröffentlichten Erinnerungen zitiert Fischer seinen Angriff auf Otto Bauer in der Zeitschrift "Kommunistische Internationale" aus dem Jahr 1934. Fischer schildert Bauer dort als einen Theoretiker der Arbeiterklasse, der sich nie aus dem "Netz seiner enormen bürgerlichen Bildung" lösen konnte und deshalb einerseits die Welt des Kapitalismus als "riesengroß", die Kräfte des Proletariats als unterlegen einschätzte.` Der nun ,,undogmatische" Ernst Fischer ist Ende der 1960er Jahre aber nicht zufällig bemüht, die seit 1933 zerstörte Harmonie mit Bauer im Zeichen des heranreifenden so genannten ,,Eurokommunismus" wieder herzustellen.
Anmerkungen:
1/Vgl. Stichwort ,,Austromarxismus", in: Marxistischleninistisches Wörterbuch der Philosophie 1, hrg. von Georg Klaus und Manfred Buhr, Reinbek 1972,179181,
2/ Vgl. etwa Detlev Albers: Versuch über Otto Bauer und Antonio Gramsci, Berlin 1983.
3/Vgl. HansJörg Sandkühler und Rafael de la Vega: Einleitung, in: Austromarxismus. Texte zu "Ideologie und Klassenkampf" von Otto Bauer, Max Adler, Karl Renner, etc., Frankfurt 1970, 647.
4/ Vgl. Predrag Vranicki: Geschichte des Marxismus I, Frankfurt 1972, 372384.
5/Vgl. Einleitung zu Christoph Butterwegge: Austromarxismus und Staat. Politiktheorie und Praxis der österreichischen Sozialdemokratie zwischen den beiden Weltkriegen, Marburg 1991.
6/ Vgl. Peter Kulemann: Am Beispiel des Austromarxismus. Sozialdemokratische Arbeiterbewegung in Österreich von Hainfeld bis zur DollfußDiktatur, zweite Auflage, Hamburg 1982, 3138,231237,
7/ Vgl. Otto Bauer und der "dritte" Weg. Die Wiederentdeckung des Austromarxismus durch Linkssozialismus und Eurokommunismus, hrg. von Detlev Albers, Josef Hindels und Lucio Lombardo Radice, Frankfurt 1979.
8/ Ernst Wimmer: Rückgriffe auf den Austromarxismus, in: Weg und Ziel 1980, 7174.
9/ Bruno Frei: Eine OttoBauerRenaissance?, in: Weg und Ziel 1980, 79 Ähnliche Ablehnung einer Bauer"Neuentdeckung" deutete neben Arnold Reisberg (,'Februar 1934", Wien 1974) auch Leopold Hornik an. Vgl. etwa Leopold Hornik: Otto Bauer über die Ursachen und Lehren des Februar 1934, in: Arbeiterbewegung und Faschismus. Internationale Tagung der Historiker der Arbeiterbewegung Linz, 10. bis 14. September 1974. (=ITHTagungsberichte 9), Wien 1976, 346352.
10/ Bruno Frei: Der Papiersäbel. Autobiographie, Frankfurt 1972, 83, 106109.
11/ Vgl. u.a. Karl Kraus: Die Dritte Walpurgisnacht (1933), München 1967, 212223.
12/ Oskar Maria Graf: Der Abgrund. Ein Zeitroman (1936), München 1994, 419f.
13/ Vgl. Leopold Spira: Kommunismus adieu. Eine ideologische Biographie, WienZürich 1992,132134,
14/ WI. Lenin: Referat über die internationale Lage der Kommunistischen Internationale (II. Kongress der Kommunistischen Internationale, 19. Juli 1920), in: ders.: Werke 31, Berlin 1959, 203222.
15/ Leo Trotzki: Terrorismus und Kommunismus. AntiKautsky (1920), Berlin 1990, 163, 165 oder u.a. Leo Trotzki: Was muss die Opposition in der SPÖ tun? Antwort an die österreichischen Linken Sozialdemokraten, Prinkipo 3, Mai 1933, in: ders.: Schriften über Deutschland II, Frankfurt 1971, 531534.
16/ Vgl. Rosa Luxemburg: Die Akkumulation des Kapitals oder was die Epigonen aus der Marxschen Theorie gemacht haben. Eine Antikritik (Leipzig 1921), in: dies.: Gesammelte Werke 5, Berlin 1990, 413523 oder Georg Lukäcs: Rosa Luxemburg als Marxist (Januar 1921), in: derselbe: Geschichte und Klassenbewußtsein [1923]. (=LukäcsWerke 2), NeuwiedBerlin 1968,199217.
17/ Otto Bauer: Zwischen zwei Weltkriegen?, Bratislava 1936, 335.
18/ Fischer bezieht sich hier auf Otto Bauer, ebenda 1936, 258f., also auf Formulierungen in Bauers "Zwischen zwei Weltkriegen?" wie: "Der Reformismus war keine bloße Verirrung. Er war nicht, wie Lenin (in Was tun?' Anm.) sagte, 'die ideologische Versklavung der Arbeiter durch die Bourgeoisie'. Er war die Taktik und Ideologie der Arbeiterklasse selbst in einer historischen Situation, in der einerseits eine proletarische Revolution aussichtslos erschien, in der andererseits dem Proletariat eine breite Möglichkeit gegeben war, seine Interessen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft mit gesetzlichen Mitteln erfolgreich zu vertreten. Die geschichtliche Leistung der reformistischen Praxis des Klassenkampfes war gewaltig. (...) Er war und ist eine unvermeidliche und eine fruchtbare Entwicklungsphase zwischen dem revolutionären Sozialismus des Zeitalters der bürgerlichen Revolution der Vergangenheit und dem revolutionären Sozialismus des Zeitalters der proletarischen Revolution der Zukunft."
19/ Fischer bezieht sich hier auf Otto Bauer, ebenda 1936, 290.
20/ Vgl. Ernst Fischer: Kommunismus oder "Integraler Sozialismus"?, in: Weg und Ziel 1936 [DÖW Wien].
21/ Ernst Fischer: Erinnerungen und Reflexionen, Reinbek 1969, 314f., 340349. Auch Ernst Fischer: Ein Gespräch mit Otto Bauer. Zum 30. Todestag Otto Bauers, in: Weg und Ziel (1968), 374378.
Ein pdf des Originaltextes gibt es hier