Marxistischer Humanismus

Walter Hollitscher zum Gedenken

2021 jährt sich der 110 Geburtstag des Philosophen Walter Hollitscher.

MARXISMUS UND HUMANISMUS

Essay aus dem Sammelband "Für und wider die Menschlichkeit", Globus Verlag Wien, 1977

 

Humanistisch ist eine Bildung, welche die Humanität fördert. Für die Humanität förderlich ist, was dem Verständnis und der Beherrschung von Naturgewalten wie Gesellschaftskräften dienlich ist. Solche Beherrschung steigert die Freiheit- und so sind Humanismus und Freiheit korrelative Begriffe, einander wechselseitig bestimmend.

In marxistischer Sicht sind Menschwerdung und Menschlicherwerdung vom gleichen Prinzip bestimmt – dem der Arbeit. Diese Wesensidentität von Hominisierung und Humanisierung verrät sich bei Befolgung des „historistischen“ Erklärungsgrundsatzes, demzufolge ein Gebilde oder Vorgang erst dann im Wesen erkannt ist, wenn verständlich gemacht wurde, wie sie entstanden und sich entwickelten. Auch der Mensch – was er ist wie was er werden kann – wird so erst durch die Aufklärung des Menschwerdungsprozesses erfaßbar. Offenbar waren naturgeschichtlich, beziehungsweise sind gegenwärtig, nur Wesen mit bestimmter biologischer Ausstattung zur Menschwerdung beziehungsweise weiteren Humanisierung befähigt.

Aufrechter Gang, Freisetzung der vorderen Extremitäten, Zurücktreten des Gesichts- und Aufwölbung des Gehirnschädels, Vergrößerung des Gehirnes, dadurch ermöglichtes Geschickter- und Gescheiterwerden, Übergang von gelegentlicher Verwendung naturgebildeter Behelfsmittel zum regelmäßig-gewohnheitsmäßigen Gebrauch selbstverfertigter Arbeitsmittel und dem Sich-Mitteilen von Erregungslauten zur Mitteilung von Sprachzeichen - sie stellen den Entwicklungsgang des gemeinsamen menschlichen Erbes und somit der Errungenschaften aller Individuen dar. Die vorbereitende biologische Evolution, welche von der einsetzenden gesellschaftlichen Entwicklung zuerst modifiziert, sodann aber „aufgehoben“ wurde, folgte den Gesetzen der Mutation, Selektion, Isolierung, Einmischung (Annidation), Kombination und Elimination.

Wolfgang Padberg konnte dabei plausibel dartun (W. Padberg, ,,Annidation und Hominisation“, Ethnogr.-Archäol. Z., Nr. 8, S. 7), dass sich unsere subhumanen und frühhumanen Vorfahren bei ihrem Übergang von Urwald zu Parksteppe und Savanne in jener „warmen Nische“ (der Ausdruck stammt von Julian Huxley) der Evolution festzusetzen vermochten, welche durch die Möglichkeit der Aasjägerei eröffnet wurde. Mahlzeitsreste von Raubkatzen -welche (bei der damals vorhandenen reichlichen Jagdbeute) die von ihnen geschlagenen und angerissenen Tiere nicht aufzuzehren pflegen -, verendendes oder verendetes Wild dienten ihnen wohl als Nahrung. In solch „passiver Jagd“ sammelten sie zuerst Fleisch, sie waren „meat collectors“ (K. P. Oakley). Im Laufe der Zeiten wurden sie immer aktiver.

 

Kontinuität und Diskontinuität

 

Bei der Herleitung des menschlichen Wesens sind sowohl die biologische Kontinuität wie auch die Diskontinuität zu beachten, die beim Auftreten jenes werkzeugvermittelten Arbeitens auftritt, welches schon Friedrich Engels als den entscheidenden „Anteil an der Menschwerdung des Affen“ 1876 beschrieben hatte. In ihrer dialektischen Verschränkung haben so in unserer frühen Herkunftsgeschichte biologische und gesellschaftliche Entwicklungsgesetzmäßigkeiten das Menschenwesen entstehen lassen.

Mit dem Körperbau, der sich ~olcherart bildete, und seinen Körperfunktionen waren auch spezifisch-menschliche psychische Widerspiegelungsfunktionen - Funktionen der tätigbewußten (also nicht mehr bloß reaktiv-instinkthaften) ,,Aneignung“ der Wirklichkeit verbunden. Die Spezifik der Sinnesleistungen der Menschen wurde zur Voraussetzung auch ihrer anderen psychischen Aneignungsformen. Karl Marx nannte „Aug und Ohr, diese Organe, die den Menschen von seiner Individualität losreißen und ihn zum Spiegel und zum Echo des Universums machen ... „ (Karl Marx, ,,Debatte über die Pressefreiheit“, 19. Mai 1842, K. Marx, F. Engels, ,,Werke“, Dietz-Verlag, Bd. 1, S. 69)

Jedoch selbst die Leistungen der Sinne sind gesellschaftlich „erzogen“, gleichwie natürlich Gefühle, Gedanken, Wille und so fort erzogen und gebildet wurden und werden. Bewußtsein und Schärfe der Wahrnehmungen hängen zum Teil davon ab, wie bedeutsam ihr Gegenstand im Kontext des Lebens wurde.

Kooperation in der Güterherstellung verwandelt so die Herde in die Horde, die Horde in die Gesellschaft. Die Modifikation des Seins zum gesellschaftlichen Sein und Bewußtsein erfuhr und erfährt durch die fortschreitende Arbeitsteilung eine zunehmende Stratifizierung und Individualisierung. Sie sind historisch zu verfolgen - etwa die Individualisierung im Rahmen besonderer Berufstätigkeiten, aber auch die der Liebe, die im Romeo-und-Guilietta-Stoff Neuartiges und Höheres in die Beziehung von Frau und Mann brachte. So wurden die menschlichen Beziehungen und damit die menschlichen Individuen differenzierter, so trat aus den gesellschaflichen Charaktermasken das geprägte Antlitz menschlicher Individualitäten hervor. Indem die begriffliche Erfassung der Wirklichkeit Fortschritte machte, wuchsen Erfahrung und Erkenntnis, entstanden Wissenschaften und Weltanschauungen. So wurde die rationelle Technik möglich: die Beherrschung der Natur durch die Anwendung ihrer Gesetze.

 

Schöpfer seiner selbst

 

Als Schöpfer und ständiger Umgestalter seiner selbst macht der Mensch Geschichte. Da diese somit nicht als ein über den historischen Akteuren schwebendes Abstraktum zu ,,hypostasieren“ (zu unterstellen) ist, sondern das darstellt, was die Menschen im Rahmen vorgegebener Natur- und Gesellschaftsverhältnisse tatsächlich tun, so ist sie das zu verantwortende Werk eben dieser Menschen.

Dem Gesagten zufolge ist der humane Fortschritt letztinstanzlich dein Arbeitsfortschritt zu danken: dem Fortschreiten der Produktivkräfte der Menschen, vor allem ihrer sich durch die Weiterentwicklung der Arbeitsmittel steigernden Arbeitskraft mit ihrer wachsenden Produktions- wie Kooperationserfahrung und Arbeitsfertigkeit. Die Entfaltung und schließliche Entfesselung der materiellen wie der durch Gehirnarbeit dargestellten geistigen Produktivkräfte bestimmt primär die historische Veränderung der Produktionsverhältnisse, wie sie, sekundär, durch deren Rückwirkung auch von diesen beeinflußt wurden.

In logischer - nicht immer konkrethistorischer - Aufeinanderfolge waren diese von den Menschen im Produktions- prozeß zueinander eingegangene Verhältnisse die der ( den bei weitem längsten Teil der bisherigen Geschichte ausmachenden) noch kooperativen Urgesellschaft, darauf die der antagonistischen Formationen: der „asiatischen“ mit ihren isoliert- autarken, Despoten Tribut leistenden, Dorfgemeinschaften; der sklavenhaltenden; der zuerst protofeudalen, darauf feudal-ausgeformten; und der kapitalistischen, aus welcher in unseren Tagen als erste Stufe der antagonismusfreien kommunistischen die sozialistische Formation hervorging.

 

Konsequenz der mit dem Ausgang der Urgesellschaft entstandenen Ausbeutungsverhältnisse sind Tendenzen zur Enthumanisierung der menschlichen Beziehungen und Wesenskräfte, welche besonders im Kapitalismus die Form der ,,Entfremdung“ der Produzenten nicht nur von den Produkten ihrer Arbeit, sondern auch von anderen Gesellschaftsmitgliedern sowie den eigenen Entwicklungspotentialitäten zur Folge hatten. In der Periode der Klassengesellschahen wurde so der Fortschritt der Produktivkräfteentwicklung durch den grundlegenden Widerspruch zwischen dem Privateigentum an Produktionsmitteln und dem gesellschaftlichen Charakter der Arbeit im Zauderrhythmus bestimmt.

 

Menschlicher Reichtum

 

Dies waren Bestimmungen und Bedingungen der Entfaltung und zugleich Deformierung der Humanität. Das Maß, an dem die Menschlichkeitsfortschritte zu messen sind, hat Marx in einer Schrift seiner vollendeten Reifeperiode angegeben (1857/58). Er notierte, dass der menschliche Reichtum nichts anderes sei „als die im universellen Austausch erzeugte Universalität der Bedürfnisse, Fähigkeiten, Genüsse, Produktivkräfte etc. der Individuen ... Die volle Entwicklung der menschlichen Herrschaft über die Naturkräfte, die der sogenannten Natur sowohl wie seiner eignen Natur ... Das absolute Herausarbeiten seiner schöpferischen Anlagen, ohne andre Voraussetzung als die vorhergegangene historische Entwicklung, die diese Totalität der Entwicklung, d.h. der Entwicklung aller menschlichen Kräfte als solcher, nicht gemessen an einem vorhergegebnen Maßstab, zum Selbstzweck macht... Wo er sich nicht reproduziert in einer Bestimmtheit, sondern seine Totalität produziert, .. Nicht irgend etwas Gewordnes zu bleiben sucht, sondern in der absoluten Bewegung des Werdens ist ... „ (K. Marx, ,,Grundrisse der Kritik der politischen Okonomie, Rohentwurf 1857/58“, Dietz-Verlag, S. 387.) Marx schildert also den Humanisierungsprozeß in seiner ökonomischen und politischen Bedingtheit als menschlichen Vervollkommnungsprozeß, wobei die Selbstvervollkommnung - entgegen der Marx-Interpretation z.B. des amerikanischen Neothomisten Mortimer Adler - nicht personal-subjektivistisch, sondern als persönliche Konsequenz der gesamt- gesellschaftlichen Vervollkommnung aufgefaßt wird. über das kommunistische Stadium dieses Prozesses sagen Marx und Engels (1845/46): ,,Innerhalb der kommunistischen Gesellschaft, der einzigen, worin die originelle und freie Entwicklung der Individuen keine Phrase ist, ist sie bedingt eben durch den Zusammenhang der Individuen, ein Zusammenhang, der teils in den ökonomischen Voraussetzungen besteht, teils in der notwendigen Solidarität der freien Entwicklung aller und endlich in der universellen Betätigungsweise der Individuen auf der Basis der vorhandenen Produktivkräfte.“ (K. Marx, F. Engels, ,,Die deutsche Ideologie“, ,,Werke“, Dietz-Verlag, Bd. 3, S. 424 f.)

Das heißt: ,,Erst in der Gemeinschaft mit anderen hat jedes Individuum die Mittel, seine Anlagen nach allen Seiten hin auszubilden; erst in der Gemeinschaft wird also die persönliche Freiheit möglich“, wobei Marx der „scheinbaren Gemeinschaft“ der auf Ausbeutung beruhenden Klassengesellschaften die „wirkliche Gemeinschaft“ gegenüberstellt, in welcher die „Individuen in und durch ihre Assoziation zugleich ihre Freiheit“ erlangen. (K. Marx, F. Engels, ,,Die deutsche Ideologie“, ,,Werke“, Bd. 3, S. 74)

Freiheits-Problem

Wie begreift der Marxismus die menschliche Freiheit in ihrer Determiniertheit, wie vereinigt er den Aufruf zur praktischen Initiative mit seinem Wissen um deren geschichtliche Bedingt- und Bestimmtheit? Was er unter Freiheit in ihrem positiven Sinne versteht, wurde bereits ausgeführt: es ist die Freiheit zur Herausarbeitung schöpferischer Kräfte, zur universellen Aneignung der Wirklichkeit, wozu Wissen und Können erheischt sind.

Dass die „leidende und denkende“ Menschheit - von der Marx in einem Brief an Arnold Ruge schreibt (K. Marx, F. Engels, ,,Werke“, Bd. 1, S. 343) - vornehmlich mit der negativen Seite der Freiheitsbestimmung präokkupiert war (mit dem „frei-wovon“ zum Unterschied vom positiven „frei-wozu“) nimmt nicht wunders. Angesichts der seit Jahrtausenden herrschenden ökonomischen, politischen und geistigen Unfreiheit ist diese kämpferische Wendung des Problems verständlich und nötig.

In derartigem Sinne kennzeichnete bereits Aristoteles den dem Menschen allein zukommenden Freiheitszustand wie sein Freiheitsstreben: ,,Als unfreiwillig gilt, ... was unter Zwang und auf Grund von Unwissenheit geschieht. Dementsprechend darf als freiwillig das gelten, dessen bewegendes Prinzip in dem Handelnden selbst liegt, wobei er ein volles Wissen von den Einzelumständen der Handlung hat. (Aristoteles, ,,Nikomachische Ethik“ [III, 3], Akademie-Verlag, s. 47) Davon nicht verschieden besteht die marxistische Freiheitsanalyse darauf, dass Freiheit „nicht in der geträumten Unabhängigkeit“ von den Gesetzen der Natur wie der Gesellschaft liegt, sondern in der „auf ihre Erkenntnis gegründeten Herrschaft über uns selbst und über die äußere Natur“, also in der „Fähigkeit, mit Sachkenntnis entscheiden zu können“. (F. Engels, ,,Anti-Dühring“, K. Marx, F. Engels, ,,Werke“, Bd. 20, S. 160). Wenngleich in unmittelbarem Bezug auf Hegel formuliert, ist diese Definition durchaus von aristotelischem Geist getragen.

Ein Gutteil der gegenwärtigen Freiheitskontroversen beruht auf wahrhaft dreistem Mißbrauch des Wortes „Freiheit“ von seiten der Ideologen der seit des Aristoteles‘ Zeiten noch immer bestehenden Ausbeutergesellschaften. Mit Freiheitsparolen wird das angemaßte Recht auf Weltgendarmfunktionen beansprucht. Eine sich auf „freie Unternehmer“-Rechte berufende nackte ökonomische Diktatur - wer wählte Unternehmer je in ihre Unternehmerfunktion! - nimmt selbstherrlich den einen die Arbeit und diktiert allen die Lohnbedingungen. Die etablierten Bildungsprivilegien berauben Millionen der Bildungsgüter, ihnen die Möglichkeit zur Entfaltung der Talente nehmend.

Die Beendigung der Klassenunterdrückung in den entwickelten wie unterentwickelten kapitalistischen Ländern ist offenbar fundamentale Voraussetzung für die Befreiung der Vielen, für die Freisetzung ihrer schöpferischen Anlagen. Die der französische Aufklärungsphilosoph Ch.A. Helvetius, dessen Wort aus „De !‘Esprit“ (1758) Marx beifällig zitierte: ,,Die Moral ist eine nur frivole Wissenschaft, wenn man sie nicht mit der Politik und Gesetzgebung vereint.“ (K. Marx, ,,Die heilige Familie“, K. Marx, F. Engels, ,,Werke“, Bd. 2, S. 140). Die Freiheit der Persönlichkeit muß also ökonomisch und politisch verankert werden, soll sie zur Entfaltung kommen.

 

Ein „Vexierproblem“

 

Was aber das alte Vexierproblem der Willensfreiheit, das heißt die undialektische Gegenüberstellung und Entgegensetzun~ von Determiniertheit und Freiheit der Willenshandlung betrifft, so soll an den - seiner subjektiv-idealistischen U~rankung entkleideten - rationellen Kern der Analyse erinnert werden, welche der englische Aufklärer, Philosoph, Ökonom und Historiker David Hume (1711-1776) von der wechselseitigen Bestimmtheit der Begriffe „Gesetzmäßigkeit“, ,,Freiheit“ und „ Verantwortlichkeit“ gibt, auf dass um so deutlicher hervortrete, wie historische Initiative und historische Bedingtheit miteinander verbunden sind.

Hume ging von der Determiniertheit aller psychischen Leistungen aus (auch der des Willens) und zeigte, ,,dass der Zusammenhang zwischen Beweggründen und Willenshandlungen so regelmäßig und gleichförmig verläuft wie der zwischen Ursache und Wirkung überall in der Natur“ und dass es ohne ihn „so gut“ wie unmöglich (wäre), sich auf ... Tätigkeit irgendwelcher Art einzulassen“ (D. Hume, ,,Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand“ [1748], Verlag F. Meiner, S. 96 ff., 8. Abschnitt, I. Teil) - sie zu begreifen oder vorauszusehen oder zu planen.

Freiheit ist nicht Gegenbegriff zur ,,Notwendigkeit“ - womit Hume die Natur- und Gesellschaftsgesetzlichkeit meint -, sondern zu dem der „Nötigung“, zum Zwang also, zum Handeln aus aufgezwungenen, nicht persönlichkeitseigenen Motiven: so, wie Aristoteles es verstand und definierte! Freiheit, sagt Hume, ist die „Macht zu handeln oder nicht zu handeln, je nach den Entschließungen des Willens“. Der Gegenbegriff zur „Gesetzmäßigkeit“ ist „Indeterminiertheit“, nicht „Freiheit“. Der Gegenbegriff zur „Freiheit“ ist ,,Zwang“.

 

Verantwortung

 

Wird dies anerkannt, so schien es manchen unter den undialektischen Idealisten wie Materialisten, dass die Anerkennung der Determiniertheit des menschlichen Willens und Handelns es widersinnig mache, jemanden für seine Handlungen zur Verantwortung zu ziehen. Die Verhältnisse liegen jedoch genau umgekehrt: nur bei Anerkennung der Determiniertheit des Handelns ist das Zurverantwortungziehen sinnund zweckvoll, besteht es doch in einer bestimmbaren und vorhersehbaren Motivänderung!

Aufdeckung der Handlungsmotive, Um-Motivierung durch Beeinflussung (sei es durch Vorhaltung, Strafe oder in Aussichtstellung von Anerkennung oder Belohnung) zielen, eben auf Grund der Einsicht in die kausale Motivlage, auf eine Veränderung jener „inneren Bedingungen“ hin, die eine Reaktionsveränderung bei Wiederholung der äußeren Situationslage determinieren. Eben darauf beruht die „Technik“ des Zurverantwortungziehens für auf Grund innerer Antriebe begangene Verfehlungen!

Diese Methode ist allerdings nur dann in ihrer klassischen Form angebracht, wo der zur Verantwortung Gezogene frei, aus ungestörtem eigenem Antrieb gehandelt hat. Wurde er von einem anderen gezwungen, so ist vor allem dieser zur Verantwortung zu ziehen -wenngleich es unter bestimmten Umständen auch nötig sein mag, die Fähigkeit eines Menschen zu kräftigen, äußerem Druck inneren Widerstand entgegenzusetzen, sich „nicht zwingen zu lassen“. Sehr häufig kommt es vor allem darauf an, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu ändern, unter denen die unerwünschte Motivlage entstand, den Menschen also eine humanere, eine menschlichere Umwelt zu sichern. Die Sicherheit, dass sie dadurch menschlicher werden, hat die Einsicht in die Determiniertheit menschlichen Handelns zur unabdingbaren Voraussetzung. Der Indeterminismus rettet also nicht die Moral - er schließt sie aus!

 

Was tun?

 

Das brennendste Freiheitsproblem ist allerdings die Frage „Was tun?“ -was zu tun ist, um die Menschen in die Lage zu setzen, die Welt progressiv zu verändern, sie ihrem fortschrittszugetanen Willen botmäßig zu machen; sich also vom Zwang der Natur wie der gesellschaftlichen Unterdrückung zu befreien. Dazu ist „ein volles Wissen um die Einzelumstände“ (Aristoteles), ,,Einsicht in die Notwendigkeit“ (Hegel) vonnöten, auf Grund deren „mit Sachkenntnis entschieden“ (Engels) werden kann. Wer unfrei ist und frei werden will, muß also die Welt richtig interpretieren, um sie verändern zu können. Ohne solches Wissen ist jedes Freiheitsstreben blind, ohne Veränderungswillen ist es leer. (Umgekehrt gilt auch: Nur der, welcher die Welt progressiv zu verändern bereit ist, vermag sie richtig zu interpretieren!) Heute sind die Möglichkeiten sachkundiger Natur- und Gesellschaftsveränderung enorm -gewachsen, sind die Arbeitskräfte der Menschen für schöpferische Leistungen in nie zuvor gekanntem Maße in allen Dimensionen der Persönlichkeit freisetzbar: im listenreichen Produzieren, im Entdecken, Erfinden, im künstlerischen Schaffen und moralisch-politischen Entscheiden. Vor allem bei diesem letzteren geht es nicht bloß um ein Wissen darüber, wie etwas zu tun ist, sondern auch darum, was getan werden soll. Unter vorgefundenen Umständen ist hier den Menschen die freie Entscheidung in voller Verantwortung aufgegeben.

Diese viel-dimensionalen Persönlichkeitskräfte, vor allem die früher noch individualisierte Produktionserfahrung, werden als verallgemeinernde Wissenschaft zunehmend zur „unmittelbaren Produktivkraft“ der Gesellschaft, welche der modernen Maschinerie in die unbelebten Glieder fährt, wodurch die „von der menschlichen Hand geschaffenen Organe des menschlichen Hirns vergegenständlichte Wissenskraft“ werden. Die vor etwa 25 Jahren begonnene technisch-wissenschaftliche Revolution führt dazu, dass moderne Wissenschaft in breitem Strom die Produktion durchdringt, sich in den Köpfen der Produzierenden verkörpert und in ihren Produkten vergegenständlicht.

Marx hatte selbst dies vorhergesehen und das soeben Zitierte und Folgende geschrieben: ,,Die Arbeit erscheint nicht mehr so sehr als in den Produktionsprozeß eingeschlossen, als sich der Mensch vielmehr als Wächter und Regulator zum Produktionsprozeß selbst verhält ... Es ist nicht mehr der Arbeiter, der modifizierten Naturgegenstand als Mittelglied zwischen das Objekt und sich einschiebt; sondern den Naturprozeß, den er in einen industriellen umwandelt, schiebt er als Mittel zwischen sich und die unorganische Natur, deren er sich bemeistert. Er tritt neben den Produktionsprozeß, statt sein Hauptagent zu sein. In dieser Umwandlung ist es weder die unmittelbare Arbeit, die der Mensch selbst verrichtet, noch die Zeit, die er arbeitet, sondern die Aneignung seiner eigenen, allgemeinen Produktivkraft, sein Verständnis der Natur und Beherrschung derselben durch sein Dasein als Gesellschaftskörper - in einem Wort die Entwicklung des gesellschaftlichen°Individuums, die als der große Grundpfeiler der Produktion erscheint.“ (K. Marx, ,,Grundrisse ... „, a. a. 0., S. 592 f.)

 

Neue Probleme

Es kann ein Entwicklungszustand der Gesellschaft vorausgesehen werden, in welchem auf dem angedeuteten Wege die bisherigen Wesensunterschiede zwischen körperlicher und geistiger, industrieller und agrikultureller Arbeit, städtischem und ländlichem Leben aufgehoben werden. Die Entfesselung solch enormer Produktivkräfte setzt allerdings das Zerbrechen aller Fesseln der Produzierenden voraus, die Beseitigung jeglichen Klassenprivilegs durch die revolutionäre Aufhebung aller Klassenantagonismen und schließlich selbst aller Klassen. Dies wird die humane Selbstverwirklichung des Menschen sein!

Im Laufe der Emanzipationskämpfe der Gegenwart erheben sich dabei neuartige Probleme: In der vergangenen industriellen Revolution, die sich zum Beispiel in Großbritannien zwischen 1760 und 1830, in Deutschland zwischen 1800 und 1870 vollzog, wurden „die Industrien massenweise durch Wasser, Dampf und Maschinerie“ revolutioniert (K. Marx, ,Das Kapital“ (1. Bd. ], K. Marx, F. Engels, ,Werke“,

Was sich ausbreitet und weltweit auszubreiten vermag, ist nicht ein sozusagen über den Wassern schwebender „Geist der Vernunft“, sondern ist die unter verschiedenen gesellschaftlichen Bedingungen erfolgende Tätigkeit der Menschen, ihre Aneignung der Wirklichkeit. Wird der gesellschaftliche Antagonismus der kapitalistischen Profitwirtschaft revolutionär überwunden, so ist der moderne Zivilisationsprozeß, welcher die wissenschaftlich-technische Revolution ermöglicht, bei vernünftiger Leitung zunehmend harmonisierbar. Technische Anlagen, beruhend auf anorganischen wie biologischen Verfahren, werden die Biosphäre in eine sich nach neuartigen Gesetzen entwickelnde „Anthroposphäre“ verwandeln. Diese Entwicklung hat mit dem Zusammenschluß der Menschen zu immer größer werdenden geographisch- ökonomischen Einheiten längst begonnen; es gilt nun, die weiteren Tendenzen vorauszusehen. Prognostizierbar ist, so meine ich, die Umwandlung der Erde in eine einheitliche, rationell-genützte und gesund wie schön gestaltete Kulturlandschaft, geplant durch die Mittel der universell angewandten Wissenschaften, welche „die Mühseligkeiten der menschlichen Existenz zu erleichtern“ gestatten (Brecht) und Lebenslust zur Geistes- und Gemütsverfassung der meisten werden lassen.

Schließlich wird es möglich sein, zentral und regional gesteuerte künstliche Stoff- und Energiekreisläufe der Natur künstlich zu initiieren und sie automatisch zu regeln und zu steuern.

In gewissem Sinne wird eine solche Anthroposphäre in der Tat eine Art von Superorganisation der einmütig Denkenden, Fühlenden, Handelnden sein. Dabei werden ihre Einzelwesen nichts an Individualität eingebü.t, sondern durch ihr Zusammenwirken nur daran gewonnen haben. - In der Ausmalung der angeblichen Gefahr, dass solcherart die Menschheit zu einer Art von „Ameisenstaat“ degenerieren könne, verrät sich zugleich elementare biologische und gesellschaftshistorische Unwissenheit. Im Grunde kommt in solchen Befürchtungen nur die Zukunftsangst der bürgerlichen Ideologen zum Ausdruck. Denn die Rolle des Individuums wird in der Zukunft in dem Maße wachsen, in dem es zur weiteren Emanzipation der Menschheit beiträgt.

Dies ist, so meine ich, in groben Zügen das Grundkonzept des marxistischen Humanismus.

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Walter und Violetta Hollitscher

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18. Mai 2021