Kommunismus fehlt

Alain Badiou über politische Perspektiven

Der französiche Kommunist Alain Badiou schrieb die Streitschrift „Wider den globalen Kapitalismus” (dt. bei Ullstein Verlag) anläßlich der Terroranschläge in Frankreich. Seine hier zitierten Schlussfolgerungen sind heute wichtiger denn je.

 

 

 

Wie wir zu einer vom Schema der heutigen Welt abgekoppelten, emanzipatorischen Politik zurückkehren können

 

Nun komme ich auf die Prämissen für meine Schlussfolgerung zu sprechen. Wie sieht unter den gegebenen Bedingungen der Versuch aus, ein anderes Denken zu konstruieren? Wie können wir uns dem Ganzen verweigern? Damit meine ich, uns der Propaganda entziehen, die immer mit einer Kriegserklärung verbunden ist, selbst wenn dieser »Krieg« fiktiv oder verfälscht ist. Es gibt eine lange Tradition der Kriegserklärungen, der nationalistischen Großtuerei, der ganz und gar fiktiven Propaganda. Sehen Sie sich nur an, was 1914 über die »Boches« geschrieben wurde. Alles Ungeheuer! Alles Mörder! In Wirklichkeit unterschieden sich die Deutschen im Jahr 1914 kaum von den Franzosen.

Aber wie sollen wir vorgehen? Ich denke, dass der Raum, der sich als »Frankreich« und die gespenstischen Franzosen definiert, gedanklich und praktisch ersetzt werden muss durch einen internationalen Raum. Durch eine internationale, ja sogar transnationale Denkweise, die der kapitalistischen Globalisierung gewachsen ist. Denn die Kapitalisten haben schon lange aufgehört, Franzosen zu sein. Sie sind uns einen Schritt voraus. Sie sind in Shanghai zu Hause, in San Francisco, in Marokko, im Kongo, in São Paulo. Während wir, die kleinen Franzosen der Mittelschicht, uns gemütlich in ihrem Frankreich verkriechen. Da sind wir weit ins Hintertreffen geraten. Ja, wir verschlimmern diesen Rückstand noch dadurch, dass wir nicht einmal fähig sind, anzuerkennen, dass die anderen, die da sind, unter uns, mit uns und bei uns leben. Unter dem lächerlichen Vorwand, sie seien Muslime oder kämen aus dem tiefsten afrikanischen Busch oder, noch schlimmer, sie würden sich so und so kleiden und frisieren und nicht anders und zudem seltsam geschlachtetes Fleisch essen! Das läuft darauf hinaus, dass auch wir – genau so, wie das Kapital es tut – die anderen, die hier leben, zu Nichtzählenden erklären, ja als Feinde betrachten! Dass wir unfähig sind, mit diesen anderen zu sprechen und zu handeln, wo wir doch gerade in dieser Situation mit ihnen zusammen eine Öffnung herbeiführen, einen neuen politischen Weg einschlagen, einen bejahenden, kreativen Ausweg aus dem verdüsterten Westen finden müssten …

Man muss leider feststellen, dass die Zerschlagung des Erbes der Revolution schon so weit gediehen ist, dass wir nicht einmal mehr gedanklich in der Lage sind, uns ein globalisiertes Bild der Probleme zu machen. Dieses haben unsere unmittelbaren Gegner schon längst besetzt, und zwar zu Lasten der Schutzmaßnahmen des Staates. Deshalb müssen auch wir die Kraft haben, unser Interesse am Staat, jedenfalls am Staat, so wie er ist, zu reduzieren. Wir sollten nicht mehr wählen gehen! Wir sollten den verlogenen, leeren Erklärungen der Regierenden keine Beachtung schenken! Wir sollten uns an die Orte zurückziehen, wo der Volkswille zu Hause ist, oft versteckt zwar, aber wirklich da. Denn der Staat rückt nach, wo »Frankreich« nicht mehr viel bedeutet. Und dann bestellt er uns ein, so wie jetzt. Wir aber wissen, im Zeitalter der Globalisierung ist der Staat alles in allem nur ein Agent des Kapitals.

Zwar existiert ein Widerspruch zwischen der faschistischen und kriminellen Bestimmung der Frustration einerseits und der globalen Entwicklung des Kapitalismus mit der Mittelschicht als dessen massive Stütze andererseits – ein mörderischer Widerspruch, wie sich gezeigt hat. Dieser Widerspruch ist jedoch ein subjektiver, dem Kapitalismus inhärenter Widerspruch. Kein Widerspruch zwischen Gut und Böse. Kein Widerspruch zwischen den Werten der Zivilisation und der Barbarei. Er ist vergleichbar mit einer inneren Stauchung, die dazu führt, dass sich im Westen Teile seiner Ohnmacht gegen ihn selbst richten. Seine Ohnmacht, wenn es darum geht, einen subjektiven, bewohnbaren Raum für die Jugend in der Welt zu schaffen.

Das entschuldigt nichts, kein Verbrechen. Der Faschismus ist abscheulich, egal in welcher Form. Aber wir müssen begreifen, dass wir nicht zulassen dürfen, dass uns dieser Widerspruch zwischen dem mörderischen Nihilismus der Faschisten und der imperialen, zerstörerischen und leeren Entfaltung des Kapitalismus zu seinen Agenten macht. Wir dürfen uns von diesem Widerspruch nicht leiten lassen, in keiner unserer wesentlichen Bestimmungen.

Wir leiden unter dem weltweiten Fehlen einer Politik, die dem Kapitalismus nicht inhärent, sondern von ihm abgekoppelt ist. Dieses weltweite Fehlen einer solchen Politik ist der Grund dafür, dass eine faschistische Jugend in Erscheinung tritt und sich formiert. Nicht die faschistische Jugend, das Gangstertum und die Religion sind der Grund für das Fehlen einer emanzipatorischen Politik, die fähig ist, eine eigene Vision zu entwerfen und eigene Handlungsmodi zu bestimmen. Vielmehr schafft das Fehlen dieser Politik die Möglichkeit für Faschismus, Gangstertum und religiösen Wahn.

Das lässt mich an die Tragödie Phädra von Racine denken, an die Szene, in der Phädra ihre Liebe gestehen muss, die in ihren Augen verbrecherisch ist, und sagt: »Schon früher fing mein Unglück an.«*

Auch wir können sagen, dass unser Unglück schon früher angefangen hat, vor der Einwanderung, vor dem Islam, vor dem verwüsteten Nahen Osten, vor dem Raubbau in Afrika … Unser Unglück fing mit der historischen Niederlage des Kommunismus an. Lange ist es her, in der Tat.

»Kommunismus« ist für mich weiter nichts als die Bezeichnung, die historische Bezeichnung für eine strategische Idee, die von der hegemonialen kapitalistischen Struktur abgekoppelt ist. Ihre Niederlage war vermutlich ab Mitte der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts besiegelt. Deshalb beginnt die hier vorgeschlagene Zeitrechnung in den achtziger Jahren, als die ersten gefährlichen Auswirkungen der Niederlage an der neugewonnenen Energie des Kapitalismus spürbar wurden.

Wo stehen wir heute? Im Kleinen wurden bereits Versuche unternommen, es gibt durchaus Überzeugungen; ich sage nicht, dass es nichts gibt. Wir haben eine ganze Reihe von Ansätzen, die ein neues Denken erst befruchten müsste. Wir haben ein klares Bild von den verfügbaren Kräften. Wir haben ein Wanderproletariat aus den meistverwüsteten Zonen. Dieses Wanderproletariat ist bereits heute und überall auf der Welt stark internationalisiert. Viele Arbeiter in Südkorea sind Nepalesen oder Bangladescher, unzählige Arbeiter hier in Frankreich sind aus Marokko und Mali gekommen. Dieses riesige Wanderproletariat bildet die virtuelle Avantgarde der gigantischen Masse von Menschen, deren Leben in der Welt, wie sie heute ist, nichts zählt.

Wir haben auch Intellektuelle, Menschen aus der Mittelschicht, auch der westlichen, die bereit sind für dieses neue Denken, die es mittragen oder es versuchen. Das Problem ist nur, sie müssten sich mit dem Wanderproletariat verbünden, sie müssten zu ihm gehen, es anhören, mit ihm reden. Ein neues politisches Denken kann nur in unvorhergesehenen, unwahrscheinlichen Allianzen entstehen, in Begegnungen auf Augenhöhe.

Und dann haben wir die Jugend. Eine Jugend, die, wenn sie aus den oben beschriebenen Gründen am Rand der Welt landet, sich fragt, was diese Welt ihr zu bieten hat. Vielleicht hat sie keine Lust, in eine der drei typischen subjektiven Figuren zu schlüpfen. Keine Lust, das Lied zum Ruhm des Westens zu singen; keine Lust, von der Sehnsucht nach diesem Ruhm beseelt zu sein und ihre Zukunft darauf aufzubauen; und auch keine Lust, sich den  mörderischen Nihilismus zu eigen zu machen. Solange ihr aber kein anderer strategischer Vorschlag unterbreitet wird, so lange wird sie in ihrer essenziellen Verunsicherung verbleiben. Der Kapitalismus ist eine Maschine, die das Subjekt verunsichert. Das trifft alle, die sich damit zufriedengeben, sich in der Leere des Binoms Konsument/Erwerbstätiger häuslich einzurichten.

Erst dieser andere strategische Vorschlag, erst die Befruchtung durch ein neues Denken wird dem heutigen Faschismus ein Ende bereiten können. Nicht die widerwärtigen Kriege des Staates, die nichts Gutes versprechen. Die Fähigkeit, die schleichende Faschisierung zu absorbieren und zunichtezumachen, wird daher rühren, dass etwas anderes unterbreitet wird. Wir werden eine vierte typische subjektive Figur erschaffen, die die Herrschaft des globalisierten Kapitalismus hinter sich lassen will, ohne sich im Nihilismus einzurichten, dem mörderischen Avatar der Sehnsucht nach dem Westen. Das ist das Wesentliche. Dafür bedarf es besonderer Allianzen, und wir müssen in einem anderen Maßstab denken. Dafür müssen sich die Intellektuellen und die verschiedenen Teile der Jugend organisch verbinden, zunächst im Kleinen, dann auch übergreifend, es gibt viele Möglichkeiten … Und ja, sie müssen sich einen Ruck geben und einen Schritt auf das Wanderproletariat zugehen.

Es besteht Handlungsbedarf, und zwar ein strategischer Handlungsbedarf, der alle angeht. Das bedeutet Arbeit, eine Arbeit für uns alle. Aber es ist nicht nur Denkarbeit, sondern auch eine Wegstrecke: hingehen und sehen, wer dieser andere ist, über den gesprochen wird, wer er wirklich ist. Sein Denken, seine Ideen, seine Sicht der Dinge zusammentragen, um uns dann gemeinsam, der andere und ich, einer strategischen Vision der Zukunft der Menschheit zu verschreiben, die den Gang der Menschheit in eine andere Richtung zu lenken versucht und sie dem undurchschaubaren Unglück entreißt, in das sie gerade versinkt.

Ich habe einen unerschütterlichen Optimismus – nicht wahr? –, also denke ich, dass genau das getan werden wird. Doch die Zeit drängt, sie drängt immer mehr …

Alain Badiou, Wider den globalen Kapitalismus. Für ein neues Denken in der Politik nach den Morden von Paris. Ullstein Streitschrift 2017

 

* Jean Racine, Phädra, übertragen von Friedrich Schiller. In: Schillers Sämtliche Werke, Stuttgart 1879, 1. Akt, Ende 3. Szene

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4. November 2021