Karl Marx als „Waffenstudent“

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„Marx, so heißt es, wurde wegen „nächtlichen Lärmens und Trunkenheit“ zu einer Karzerstrafe, also einem Einsitzen im universitätseigenen Gefängnis, verurteilt und schließlich wurde gegen ihn wegen des Tragens eines Säbels ermittelt, da dieses als streng verbotener Versuch einem Duell oder einer Mensur beizuwohnen, gewertet wurde“, erklärt Dieter A. Binder. Foto: Andrássy-Universität Budapest Andrássy Universität Budapest

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Der aus Trier stammende Karl Marx schloss sich – so eine durchaus begründete Vermutung – am Beginn seiner Bonner Studentenzeit 1835 der landsmannschaftlich geprägten Tischgesellschaft der Treveraner (Trier),[1] die sich 1838 zum Corps Palatia wandelte,[2] an. Eine studentische Landsmannschaft, die sich zum Corps wandelt, klingt heutzutage anrüchig. Aus der Zeit heraus wird dieser Schritt verständlich. Zum Studium in eine fremde Stadt gezogen, suchten Studenten zunächst vertraute soziale Kontakte. Diese pflegte man am Besten im Verkehr unter unmittelbaren Landsleuten vergleichbar jenen Emigranten, die sich in der neuen Welt landsmannschaftlich organisierten. Noch im späten 18. Jahrhundert war diese soziale Anbindung während des Studiums auf den jeweiligen Studienort beschränkt. Marx wechselte nach einem Jahr an die Berliner Universität. In Bonn, so scheint es, führte er ein typisches Studentenleben seiner Zeit. Über die damals modernen studentischen Kränzchen, die sich an der modischen Freimaurerei des 18. Jahrhunderts orientierten, kam die Idee der Lebensfreundschaft auf. Man wählte sich einen Freundeskreis und blieb diesem über den Studienabschluss hinaus verbunden. An die Stelle der gemeinsamen Herkunft aus einer Region begann nun jene Entwicklung, die den Freundesbund an sich hervorhob. Den alten Landsmannschaften traten nun die Corps gegenüber. Die Treveraner vollzogen diesen Wandel nach seinem Abgang. Marx, so heißt es, wurde wegen „nächtlichen Lärmens und Trunkenheit“ zu einer Karzerstrafe, also einem Einsitzen im universitätseigenen Gefängnis, verurteilt und schließlich wurde gegen ihn wegen des Tragens eines Säbels ermittelt, da dieses als streng verbotener Versuch einem Duell oder einer Mensur beizuwohnen, gewertet wurde. Man kann davon ausgehen, dass er am charakteristischen Studentenleben seiner Zeit lebhaft teilgenommen hat.

Studentenleben muss als Umwandlungsritus gelesen werden. Mit dem Studienbeginn an der Universität Göttingen setzte ein Erstsemestriger 1832 scheinbar bewusst diesen Schritt. „An einem schönen Sommermorgen stand ich mit mehreren Corpsbrüdern auf der Weenderstraße […], als vom Universitätsgebäude […] her eine sechs Fuß lange Gestalt, sehr schmal und dünn von Wuchs, in einen langen, hellen, enganliegenden Nankingrock ohne Taille gekleidet, auf unsere Gruppe zukam. Die hagere Figur sah in dem bis auf die Füße gehenden Rock so überaus komisch aus, dass wir in lautes Gelächter ausbrachen. Der Besitzer des seltsamen Kleidungsstückes wandte sich sofort um, trat rasch auf uns zu, nannte seinen Namen, ,von Bismarck‘, und sagte: ,Sie sind alle dumme Jungen!‘ Das war Tusch, kommentmäßiger Tusch […]. Die Sache nahm den üblichen Verlauf, doch war meinen Corpsbrüdern, die meist schon in höheren Semestern standen, die Kontrahage mit einem so krassen Fuchs nicht gerade angenehm […].“[3]

In seinen Erinnerungen zeichnet der Provokateur diesen Weg nach. „Doch blieb mein deutsches Nationalgefühl so stark, daß ich im Anfang der Universitätszeit zunächst zu Burschenschaft in Beziehung geriet, welche die Pflege des nationalen Gefühls als ihren Zweck bezeichnete. Aber bei persönlicher Bekanntschaft mit ihren Mitgliedern mißfielen mir ihre Weigerung, Satisfaktion zu geben, und ihr Mangel an äußerlicher Erziehung und an Formen der guten Gesellschaft, bei näherer Bekanntschaft auch die Extravaganz ihrer politischen Auffassungen, die auf einen Mangel an Bildung […] beruhte: ich hatte den Eindruck einer Verbindung von Utopie und Mangel an Erziehung.“[4] Geprägt von seiner Herkunft sprang Bismarck schließlich in ein Corps ein, da ihm das Milieu der Burschenschaft zu wenig standesgemäß erschien.

Die Ur-Burschenschaft, hervorgegangen aus den Kämpfen gegen die französische Hegemonie, verstand sich seit ihrer Gründung in Jena am 12. Juni 1815 als Avantgarde der deutschen Nationalbewegung und als Kämpfer für eine Demokratisierung der Gesellschaft. Sie verstand sich als politischer Stoßtrupp. Indem man gegen die landsmannschaftliche Zersplitterung der Studentenschaft auftrat, erhob man den Anspruch auf die Repräsentation aller deutschen Studenten. Dem Snobismus der Corps stellte man den egalitären Gedanken einer einigen Studentenschaft gegenüber, innerhalb deren Reihen ständische Binnendifferenzierungen keinen Platz hatten. Als bürgerliche emanzipatorische Bewegung stand man im Widerspruch zu der absolutistisch geprägten Herrschaftsordnung der deutschen Kleinstaaterei. Am Wartburgfest 1817 positionierte man sich erstmals in der Öffentlichkeit als Dachverband aller deutschen Studenten. In einer „Mischung aus protestantischem Gottesdienst und politischer Kundgebung“[5] postulierte man ein Programm, in dem das nationale Einigungsbekenntnis mit ökonomischen Begründungen im Stile von (Daniel) Friedrich List an der Spitze stand, gleichsam als eine „Walhalla mit Exportabteilung“, um Karl Kraus zu zitieren. Das Bekenntnis zur Freiheit und Gleichheit implizierte die Forderung nach einer Konstitution, nach einer Verfassung, die vom Volk auszugehen hätte und an die der Fürst gebunden wäre. Symbolträchtig verbrannte man im Rahmen des Wartburgfestes die Makulaturen unterschiedlicher Schriften wie jenen der Theoretikern der Restauration und die Statuten der „Adelskette“, einer 1815 installierten Vereinigung zur Re-Etablierung alter aristokratischer Vorrechte, oder der „Germanomanie“ des jüdischen Aufklärers Saul Ascher, einer markanten Abrechnung der romantisierenden Deutschtümelei, einen hessischen Soldatenzopf, einen Schnürleib eines preußischen Ulanen und einen österreichischen Korporalsstock als Symbole sinnentleerten Drills und als Symbole reaktionärer Gesinnung. Dem Bild der alten fürstlichen Armeen, die im Kampf gegen Napoleon gescheitert waren, setzte man die deutsche levée en masse, den Landsturm und das Erinnern an die studentischen Freikorps entgegen.

Das Verbot der Burschenschaft in den Karlsbader Beschlüssen – sie waren die Antwort auf das politisch motivierte Attentat Karl Sands auf den Schriftsteller und russischen Generalkonsul August von Kotzebue, bzw. auf die antisemitischen Hep-Hep-Krawalle in vielen Städten des Deutschen Bundes 1819 – konnte die Weitergabe der Forderung nach nationaler Einheit und nach einer modernen Verfassung nicht unterbinden. Die vagierenden Studenten gaben diese an die nachwachsende Generation ebenso weiter wie an jene Kreise, in denen sie nach Abschluss ihres Studiums verkehrten. Die Mobilisierung zur Nation lief über Press-, Turn-, Gesangs- und Frauenvereine, über die Universitäten und deren Absolventen, die im höheren Schuldienst wiederum jene Lehrerschaft ausbildeten, die diese Gedanken in den Grundschulen implementierten. Diese Ideenwelt erreichte das aufstrebende Bürgertum, dem der wirtschaftliche Nutzen eines Großstaates nicht weiter erklärt werden musste. Die Melange aus der Forderung nach einem Gesamtstaat und einer Verfassung evozierte im Hambacher Fest 1832 den Schulterschluss zwischen dem liberalen Bürgertum und der Studentenschaft, zwischen bäuerlichen Kreisen und der bedrängten Unterschicht. Gleichzeitig demonstrierte die Teilnahme englischer, polnischer und französischer Delegationen den sich mehrenden Widerstand gegen das System der Heiligen Allianz und mündete letztlich im europäischen Revolutionsjahr 1848.

Der März 1848 begann als ein Aufstand aller sozialer Schichten gegen das feudale System. Die Bauern revoltierten ebenso wie das städtische Proletariat, das Bürgertum forderte ebenso Rechte ein wie die Handwerker. Ernst Bruckmüller zeichnet diese Situation am Wiener Beispiel. „Die Organisation des 13. März übernahmen die Studenten – über die Aula liefen die Verbindungslinien in die Vorstädte, wo es galt die Handwerker und die Arbeiter zu mobilisieren“.[6] Für kurze Zeit wurde im Kampf um die Verfassung die Einheitsfront aller sozialen Schichten im Widerstand gegen das feudale System sichtbar. Doch als der Aufstand zum Maschinensturm wurde, als Fabriken brannten und nicht nur Ämter, sondern auch Schlösser und Bürgerhäuser geplündert wurden, zerbrach diese Koalition schrittweise. Die Nationalgarde, in der sich das Bürger- und Kleinbürgertum einen bewaffneten Arm schufen, und die Akademische Legion, „also die bewaffnete Studentenschaft“,[7] waren janusköpfig. Einerseits suchte man die Errungenschaften der Revolution zu sichern, die Verfassungsgebung voran zu treiben, andererseits partizipierte man mit Zustimmung der bedrängten Obrigkeit am staatlichen Gewaltmonopol und trat als militarisierte Ordnungsmacht auf. Wolfgang J. Mommsen zeichnet diese Verschiebung der Interessenslage präzise: „Nur wenige Wochen zuvor war das allgemeine und gleiche Wahlrecht vielerorts noch als Inkarnation der Anarchie angesehen worden; jetzt war es das Mittel, um alle Deutschen unterschiedlichen Standes […] auf ein gemeinsames Ziel zu einigen, nämlich die Einigung der Deutschen in einer freiheitlichen Staatsordnung konstitutionellen Zuschnitt.“[8] Das Bildungsbürgertum und die aus deren Reihen rekrutierte Studentenschaft setzten ihre Hoffnungen auf die Nationalversammlung und prägten die Paulskirche. Dieser Befund gilt für die deutschen Staaten ebenso wie für das habsburgische Territorium. Der Angriff auf das Kapital und das Privateigentum ließ das Wirtschaftsbürgertum rasch auf Distanz gehen und perforierte es für die Kollaboration mit den ultrakonservativen Regierungen, die die Revolution ab dem Herbst 1848 systematisch zurückzudrängen vermochten. Außerhalb des Kaisertum Österreichs kehrte man zwar nicht zum status quo ante zurück, doch unterminierte man in den deutschen Landen durch Zensur und Repression die konstitutionellen Verfassungsordnungen. Der österreichische Neoabsolutismus und die ultrakonservativen deutschen Regierungen köderten das Wirtschaftsbürgertum mit liberalen Tendenzen in den wirtschaftspolitischen Maßnahmen. Ab den frühen 1860er Jahren machte man überdies den Weg schrittweise frei, um nun unter obrigkeitsstaatlicher Kontrolle an politische Strukturen von 1848/49 anzuknüpfen. Im habsburgischen Territorium bediente man sich dabei trotz der bürgerlichen Freiheiten und Rechte im Staatsgrundgesetz bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts des Kurienwahlrechts, das bis zum Ende der Doppelmonarchie im Königreich Ungarn erhalten blieb. Diese Maßnahmen forcierten die Ausprägung einer stark konturierten Klassengesellschaft und den weitgehenden Ausgleich des Bürgertums mit der Monarchie. Und die Studentenschaft war ein integraler Bestandteil des Bürgertums.

Verfangen in einem Umwandlungsritus interpretierte die Mehrheit der Studentenschaft ihre partielle Teilhabe an den Ereignissen von 1848/49 nicht als eine Wegmarke im Scheitern der Demokratisierung der Gesellschaft, sondern als eine Bestätigung ihres Anspruches, Avantgarde der bürgerlichen Gesellschaft zu sein. Die obrigkeitsstaatlichen Reformschritte ab den 1860er Jahren las man als Erfolg der eigenen Anstrengungen, man implizierte damit eine weitgehende Übereinstimmung mit den Intentionen der politischen Elite.

Wieso wandte sich Marx nicht der Burschenschaft zu? Wieso blieb er, wie ein tatsächlich wohl begründeter Verdacht erzählt, seinem Corps ein Leben lang verbunden? Die Burschenschaft, bzw. die Burschenschaften forderten ein normiertes politisches Verhalten ein. Die Corps aber mischten sich nicht in die politische Haltung ihrer Mitglieder ein. So, wie in der Freimaurerei, Streitgespräche über Religion und Politik unzulässig waren, fokussierten auch diese auf den „Bund der Freundschaft“. Dass sie dann letztlich im späten 19. Jahrhundert dem lärmenden Charme der wilhelminischen Bourgeoisie wie die Burschenschaften erlagen, traf den Dr. Karl Marx im englischen Exil nicht mehr.
 

Univ-Prof. Dr. Dieter A. Binder ist Historiker an der Karl-Franzens-Universität Graz und der Andrássy-Universität Budapest. Aus terminlichen Gründen konnte er nicht am Karl-Marx-Kongress teilnehmen und stellte uns seinen Beitrag schriftlich zur Verfügung. Wir danken herzlich.

 

[1] Manfred Schöncke, „Ein fröhliches Jahr in Bonn“? Was wir über Karl Marx‘ erstes Studienjahr wissen, in: Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge 1994, Hamburg 1994, S. 239–255.; Ingrid Bodsch (Hg.), Dr. Karl Marx. Vom Studium zur Promotion – Bonn, Berlin, Jena, Bonn 2013.

[2] Klara van Eyll, 150 Jahre Corps Palatia Bonn 1838-1988, Bonn 1988.

[3] C[histian] W[ilhelm] Allers, Hans Kraemer, Unser Bismarck, Stuttgart/Berlin/Leipzig [1895], S. 144f.

[4] Otto von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen, Stuttgart/Berlin 1898, 39f.

[5] Etienne François, Die Wartuburg, in: Etienne François, Hagen Schulze (Eds.), Deutsche Erinnerungsorte, München 2009, Bd. 2, S. 157.

[6] Ernst Bruckmüller, Sozialgeschichte Österreichs, Wien/München 1985, S. 348.

[7] Bruckmüller, Sozialgeschichte, S. 349.

[8] Wolfgang J. Mommsen, Die Paulskirche, in: François, Schulze, Erinnerungsort, Bd. 2, S. 48.

 

10. Juli 2018