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Corona-Interview: Sind Grazer und Grazerinnen besonders gefährdet, Herr Dr. Meister?

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Es braucht Verbesserungen in der Versorgung, aber auch Verbesserungen für die Beschäftigten im Bereich Gesundheit und Pflege, sagt Allgemeinmediziner Dr. Hans Peter Meister. (Das Foto wurde im September 2019 aufgenommen)

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Wie sieht der Alltag in Ihrer Praxis in der Volksgartenstraße derzeit aus? Wie schützen Sie sich selbst?

Meister: Der Zugang ist streng limitiert. Der Eingangsbereich ist zugänglich, aber nur einzeln und mittels Plexiglas und Kunststofffolie vollständig vom Mitarbeiterbereich getrennt.

In die Untersuchungsräume gelangen Patienten und Patientinnen ebenfalls nur einzeln nach Fiebermessung. Die Türen werden jedes Mal versperrt. Telefonische Voranmeldung ist erforderlich. Was sich telefonisch erledigen lässt, wird telefonisch erledigt. Ich versuche, beim Gespräch Abstand zu halten, konsequent die Händedesinfektion durchzuführen und Patienten mit Infektzeichen nur mit Maske zu untersuchen. Die Mitarbeiterinnen sollen überhaupt keinen direkten Kontakt mit den PatientInnen haben.
 

Wie ist der aktuelle Stand betreffend Schutzausrüstung für niedergelassene Ärzte?

Meister: Nach Schulnotensystem: Nichtgenügend.
Schutzausrüstung ist derzeit auf dem Markt nicht käuflich zu erwerben, die jetzt eintreffenden Lieferungen aus China gehen offensichtlich an stationäre Einrichtungen und nach Südtirol.

Wir werden wieder ein paar FFP2-Masken von der Ärztekammer erhalten und eventuell sogar zwei Schutzmäntel (wobei ich nicht weiß, ob das Einmalprodukte sind). Das Problem ist, dass es zum eigenen Schutz FFP3-Masken braucht und dass jeder Patient von uns eine chirurgische Schutzmaske erhalten sollte, wenn er den Untersuchungsbereich betritt.

Weil die Schutzausrüstung alle schützen soll, wäre es logisch, dass auch diese Ausrüstung in ausreichendem Maß zur Verfügung gestellt wird. Als ich erst vor einem Jahr die Qualitätsprüfung durchlaufen habe, war von Schutzkleidung nicht die Rede. Dies wäre auch unsinnig, da sie im Normalbetrieb nicht gebraucht wird. Derzeit würden alle Kollegen und Kolleginnen den freien Markt feiern, falls er auf die Nachfrage mit einem entsprechenden Angebot reagieren könnte. Tut er aber nicht.
 

Was tun im akuten Krankheitsfall, wenn es sich nicht gerade um einen Corona-Verdacht handelt? – Wo kann man überhaupt noch hingehen?

Meister: Sinnvoll ist es, zuerst den Hausarzt anzurufen und die Beschwerden zu schildern. Dann können gemeinsam Lösungen für das weitere Vorgehen besprochen werden. Das Aufsuchen der Praxis bzw. auch Hausbesuche sind zwar möglich – aber derzeit zum Schutz der Patienten und Patientinnen streng ritualisiert.
 

Warum ist es in der Lombardei so viel schlimmer als anderswo?

Meister: Ich glaube in Spanien, Frankreich und den USA wird es ebenso schlimm werden. Wie die Entwicklung bei uns sein wird, können wir eigentlich auch erst in zwei bis drei Wochen sagen.

Wir sind hintennach. Nach meinen Informationen waren in der Lombardei sehr viele Menschen mit der Diagnose Grippe hospitalisiert, die bereits mit Covid 19 infiziert waren. Die Infektionskette begann bei einem jungen Mann, der einen aus China zurückgekehrten Freund getroffen hat. Er erkrankte und wurde vom Spital als Grippe fehldiagnostiziert und bei der zweiten Vorstellung ohne Isolierung stationär aufgenommen. Vermutlich hat sich die Infektion also über die Spitäler verbreitet, in denen bereits sehr viele kranke und betagte Menschen gelegen sind und ist sehr lange unerkannt geblieben. Das heißt fiebernde Menschen wurden mit der Diagnose Grippe nachhause geschickt und von ihren ungeschützten Angehörigen gepflegt. So konnte sich das Virus rasch verbreiten. Das italienische Gesundheitssystem ist außerdem durch jahrzehntelange Sparprogramme ausgedünnt. Die Zahl der Intensivbetten pro Einwohner ist viel geringer als in Österreich.
 

Bis vor kurzem waren alle Parteien – mit Ausnahme der KPÖ – in unterschiedlicher Ausprägung für Bettenreduktionen, manche sogar für Spitalsschließungen. Denken Sie, dass jetzt bei allen ein Umdenken einsetzt?

Meister: In den Medien wird das Sparen im Gesundheitssystem jetzt schon in Frage gestellt. Aber ich befürchte, wenn die Angelegenheit den Politikern und Politikerinnen überlassen wird, könnte sich nach dem Ende der Erkrankungswelle das Sprichwort „Aus den Augen, aus dem Sinn“ bestätigen. Um sich dieser Entwicklung entgegen zu stellen, braucht es in erster Linie ein breites gesellschaftliches Engagement zur Verteidigung und zur Aufwertung des in öffentlicher Hand befindlichen Spitalsystems.
Nötig ist aber auch eine breite gesellschaftliche Diskussion über Verbesserungen und Veränderungen im Gesundheitssystem – sowohl hinsichtlich Verbesserungen und Lückenschluss in der Versorgung, als auch Verbesserungen für die Beschäftigten im Bereich Gesundheit und Pflege. Das wird nicht ohne Konflikte gehen. Und diese müssen kreativ und engagiert angegangen werden. Die großen Player werden das nicht für uns richten.
 

Sind die Maßnahmen der Bundesregierung richtig? Länder wie Schweden oder die Niederlande haben ja noch keine Ausgangsrestriktionen verhängt.

Meister: Wenn man, wie ich, die Naturwissenschaften und mathematische Methoden sehr schätzt, dann kommt man schon zur Überzeugung, dass die Maßnahmen der Bundesregierung wirklich Sinn machen. Die Einschränkung zwischenmenschlicher Kontakte ist das einzige Mittel, das wir augenblicklich in der Hand haben. Es gibt kein Medikament, keine Impfung, unser Immunsystem kennt das Virus nicht – das heißt: es fehlt die Teilimmunität, die es bei Grippe gibt. Was also können wir anderes tun als den Kontakt untereinander zu minimieren?
 

Erreichen die Maßnahmen alle Menschen?

Meister: Vor allem Menschen mit einer nichtdeutschen Muttersprache wurden anfangs in der Information ignoriert. Der Zugang zu schriftlichem Infomaterial war auf Türkisch, BKS und Englisch beschränkt. Wir haben uns Infos in anderen Sprachen aus dem Internet heruntergeladen und gedruckt. Der ORF ist leider in dieser Hinsicht ignorant. Zumindest die Einschaltungen der Bundesregierung sollten in möglichst vielen Muttersprachen der in Österreich lebenden Menschen verbreitet werden.
Die von der Stadt Graz initiierte Telefonkette gegen COVID-19 ist da eine erfreuliche Bereicherung.
 

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Der Slogan „Wir lassen niemanden zurück“ darf nicht nur für Wirtschaftstreibende gelten. Es braucht auch dringend soziale Soforthilfe, betont Dr. Hans Peter Meister.

Nationalratspräsident Sobotka hat gesagt, die Leute sollen jetzt „in den Garten“ raus gehen. Die Reaktion darauf im Netz war vielfach: „Wenn sie kein Brot haben, sollen sie doch Kuchen essen“. Wieviel schwerer haben es wirtschaftlich Schwache in dieser Krise als Wohlhabende?

Meister: Wer einen Garten hat, sollte sich glücklich schätzen. Die Mehrzahl der Menschen in der Stadt hat keinen. Das Zusammenleben auf engem Raum, ohne raus zu können, ist eine Stresssituation, die umso problematischer wird, je länger sie andauert. Dazu kommen viele, die den Arbeitsplatz verlieren oder in Angst davor leben oder mit Ängsten, die die Wohnung, das Einkommen, die wirtschaftliche Zukunft im Allgemeinen betreffen. Diese Menschen brauchen Unterstützung, die vorerst auch im Anhören der Sorgen bestehen kann, aber die Organisationen, die diese Menschen vertreten, sollten sehr darauf achten, wie das Unterstützungsprogramm der Bundesregierung konkret aussieht und wer vor allem davon profitiert.
Der Slogan „Wir lassen niemanden zurück“ darf nicht nur für Wirtschaftstreibende gelten. Es braucht auch dringend soziale Soforthilfe! Wobei ich natürlich schon sehe, dass die Existenzbedrohung bei Ein-Personen-Unternehmen, Kulturschaffenden, Leuten in Gesundheitsberufen usw. ebenfalls sehr real ist.
 

Die ehemalige Gesundheitsministerin Rendi-Wagner fordert flächendeckende Corona Tests. Damit hätte man Gewissheit, wie viele Menschen tatsächlich erkrankt sind und schafft auch eine solide Datenbasis. So könnte man die Infektionskette unterbrechen. Wieso verfolgt Österreich eine andere Strategie? Gibt es tatsächlich so wenig Kapazität, um Testungen durchzuführen, oder sind die Tests einfach zu teuer?

Meister: Lassen Sie mich dazu ein bisschen ausholen.
Ein Musterbeispiel einer erfolgreichen Strategie mittels ausgedehnter Tests, wie Sie sie hier ansprechen, ist Taiwan, was bei uns selten wahrgenommen wird, da es nicht Mitglied der meisten internationalen Organisationen wie der WHO sein kann. Dort hat man sehr wenig Infizierte, und das trotz der Nähe zur Volksrepublik China und einem regelmäßigen Transfer von Menschen in beide Richtungen. Der Grund liegt darin, dass Taiwan vor Jahren von der SARS-Epidemie schwer getroffen wurde und danach Präventionsstrategien entwickelte, die jetzt umgesetzt wurden.

Der Unterschied zu den andern Staaten: Einer jener Wissenschaftler, die an der Entwicklung dieser Strategien führend beteiligt waren, ist derzeit Vizepräsident des Staates und hat sich vom ersten Moment an intensiv für die Umsetzung des Epidemieplans eingesetzt.

So sind nach Bekanntwerden des Auftretens atypischer Lungenentzündungen in der Provinz Hebei die Passagiere aller aus der Volksrepublik eintreffenden Flugzeuge noch vor dem Verlassen der Maschinen von speziellen Sanitätsteams untersucht, registriert und in Quarantäne geschickt worden. Verwendung hat auch ein PCR-Test auf SARS gefunden, weil dieses Virus nah mit Covid-19 verwandt ist. Dadurch ist es gelungen, die Verbreitung des Virus effektiv einzuhegen.

Infolge dieser Maßnahmen hat Taiwan heute die geringste Erkrankungsrate weltweit. Natürlich hat es eine Insel leichter, aber wesentlich für diesen Erfolg war sicher die gute Organisation und die Verfügbarkeit einer ausreichenden Anzahl an Tests.
In Südkorea verfolgt man nach Anfangsschwierigkeiten eine ähnliche Strategie.
 

In Österreich und in der EU fehlen allerdings bis jetzt die Mittel und die Strukturen für ein derartiges Vorgehen…

Meister: Es gibt zu wenige Testkits, zu wenige Labors, die Tests durchführen, zu wenig ausgebildetes Personal. Erst jetzt – nach nahezu zwei Wochen im „Ausnahmezustand“ – scheint es ein wenig besser zu werden.

Was fast niemand weiß: auch die EU hat nach SARS einen Pandemieplan ausgearbeitet, dessen Umsetzung nie in Angriff genommen wurde. Mit Sicherheit hat der eklatante Mangel an Schutzkleidung, Masken etc. auch damit zu tun, dass für den Tag X, den wir heute erleben, nur auf dem Papier Vorsorge getroffen worden ist. Ein Schelm, wer behauptet, das habe mit unserer Spielart des kapitalistischen Wirtschaftssystem zu tun.


Sind Massentests zu teuer?

Meister: Der Preis der Massentestung sollte meiner Meinung nach keine Rolle spielen, wenn die Kosten der Krankenbehandlungen dadurch gesenkt werden können.

Angesichts dessen, was zum Zeitpunkt der ersten Infektionen alles nicht verfügbar war, war die Strategie der Bundesregierung wirklich die einzig mögliche Option. Aber um wieder aus dieser rauszukommen bedarf es anderer Wege, wie sie auch die WHO empfohlen hat.
 

Das Virus greift vor allem die Lunge stark an und trifft „Vorerkrankte“ und Ältere besonders. Graz hat ja seit vielen Jahren ein massives Feinstaubproblem. Sind die Grazer und Grazerinnen besonders gefährdet?

Meister: Auf diese Frage mit einem klaren „Ja“ zu antworten, wäre unredlich. Die Fein- und Staubbelastung wird eine Rolle spielen, aber in welchem Maß das auch hinsichtlich des Verlaufs einer Covid-19-Erkrankung zutrifft, kann ich nicht sagen. Jedenfalls spielt sie nicht die Hauptrolle – Typ I Diabetiker, Raucher, Hochdruck-Patienten etc. haben ein höheres Risiko für einen schweren Verlauf.
 

Abschlussfrage: Was lesen und schauen Sie derzeit? Was können Sie den Lesern und Leserinnen empfehlen?

Meister: Ich lese Bücher und schau mir alte DVDs an, höre Ö1 und CDs.

 

Dr. med.-univ. Hans Peter Meister ist seit 1989 praktischer Arzt in Graz-Lend und seit Jänner KPÖ-Gemeinderat in Graz.

Veröffentlicht: 7. April 2020

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