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ERFAHRUNGSBERICHT EINER PFLEGEASSISTENTIN, DIE SEIT ÜBER 20 JAHREN IN EINEM PFLEGEWOHNHEIM ARBEITET

"Pflegekräfte leisten jeden Tag großartige Arbeit. Sie brauchen dafür endlich bessere Rahmenbedingungen. Ihre Forderungen sind berechtigt und sollten so schnell wie möglich umgesetzt werden! Meine Solidarität ist allen, die in der Pflege tätig sind sicher", unterstützt Claudia Klimt-Weithaler die verantwortungsvolle aber äußert anstrengende Arbeit der Pflegekräfte.

Der Bericht ist er­schie­nen in der Zei­tung 'Pf­le­ge in Be­we­gung' des Ar­beits­k­rei­ses Ge­sund­heit & Pf­le­ge der KPÖ Stei­er­mark': 
Der langersehnte Urlaub neigt sich dem Ende zu. Noch ein Tag und der Alltag beginnt wieder. Die letzte Nacht vor dem Dienstbeginn ist immer am Schlimmsten. Man dreht sich hin und her, schaut stündlich auf die Uhr aus Angst, zu 
verschlafen. Wenn der Wecker dann endlich klingelt, ist man so richtig müde. Aber es hilft nichts – raus aus den Federn, die Arbeit wartet.

Dienstbeginn um 6 Uhr. Die erste Hiobsbotschaft des Tages wird vom Nachtdienst verkündet: Eine Kollegin hat sich krankgemeldet. Nach Ersatz wird gesucht, aber es wird schwierig werden, um diese Uhrzeit jemanden zu erreichen.

Die ersten Bauchschmerzen kündigen sich an. Eine Pflegeperson weniger heute. Das heißt für mich: Doppelt so schnell arbeiten. Wie soll das aber gehen? Während meines Urlaubes sind neue BewohnerInnen eingezogen, die ich noch gar nicht kenne. Ich muss mir zuerst ihre Pflegedokumentationen durchlesen, damit ich weiß, wo sie Hilfe/Pflege benötigen. Aber wann soll ich das machen? Ich sollte bereits die ersten BewohnerInnen geduscht und mobilisiert haben und das Frühstück ist auch noch nicht fertig vorbereitet. Eigentlich wurde mir versprochen, dass ich eine Heimhelferin zur Unterstützung bekomme, nur daraus wird wohl nichts. Diese musste nämlich als Begleitperson mit einer Bewohnerin, die soeben gestürzt ist, samt Rettung ins Krankenhaus fahren. Die Angehörigen haben für so etwas meistens keine Zeit und überhaupt nehmen sie an, dass dieses „Begleitservice“ im monatlichen Preis inbegriffen ist.

Mittlerweile ist es 8 Uhr vorbei und es hat sich natürlich kein Ersatz für die kranke Kollegin 
gefunden. Ich muss 15 BewohnerInnen völlig allein versorgen. Dies beinhaltet das Vorbereiten und Verabreichen des Frühstücks inklusive der

Medikamente, Körperpflege, Toilettentraining und Inkontinenzversorgung, Kleiden, Mobilisation aus dem Bett, Gehübungen, Durchführung diverser vom Arzt verordneten Therapien, Blutdruck-und Gewichtskontrollen. Und das Bett sollte auch 
zwischendurch frisch bezogen werden. Und wenn möglich, sollte das alles erledigt sein, bevor das Mittagessen anrollt.

Wie viel Zeit benötigt ein junger, gesunder Mensch zum Verzehr seiner Speisen? Also wenn ich von mir ausgehe – und ich bin eine Genießerin, was das Essen betrifft – sitze ich beim Frühstück schon mal eine Stunde. Beim Mittagessen natürlich nicht. Und jetzt kommt die Rechenaufgabe, 
deren Ergebnis jeden erstaunen lassen wird: Von 15 
BewohnerInnen können zehn ihre Speisen und Getränke nicht mehr selbstständig zu sich 
nehmen. Das heißt, die Verabreichung erfolgt durch eine Pflegeperson. Zur Verfügung steht mir eine knappe Stunde (eher weniger), in der ich zehn BewohnerInnen die Suppe, die Hauptspeise, Salat und Dessert verabreichen soll. Nicht zu vergessen die ausreichende Flüssigkeitszufuhr, die bei jedem Bewohner gegeben sein muss.

Wie geht sich das nun rein rechnerisch aus? 
Gar nicht. Und wie geht es sich in der Praxis aus? Kaum. Es ist eine Massenabfertigung im 
Eilzugstempo, bei der sich bitte niemand 
verschlucken oder gar aspirieren darf.

Und weil noch viel zu wenig zu tun ist, meldet sich gerade die Wäschefirma und gibt bekannt, dass die Wäschebestellung für diese Woche noch nicht bei ihnen eingelangt ist. Bravo. Eigentlich hätte das die Kollegin am Wochenende erledigen sollen.

Zwischendurch betätigen viele BewohnerInnen den Glockenruf, der innerhalb einer gewissen Zeit quittiert werden muss (was natürlich interessant wird, wenn man gerade einen anderen Bewohner auf der Toilette oder in der Dusche nackt sitzen hat und ihn nicht allein lassen kann….).

Wir gehen einmal davon aus, dass bis jetzt alles gut gegangen ist, niemand gestürzt ist, keine 
akuten Vorkommnisse waren und auch keine 
Angehörigen mit einer Beschwerde vorstellig 
wurden. Alle BewohnerInnen wurden hoffentlich satt, ein neuerliches Toilettentraining bzw. ein 
Inkontinenzwechsel wurde durchgeführt, Positionswechsel bei BewohnerInnen, die sich selbstständig nicht mehr bewegen können, alle anderen BewohnerInnen werden zur Mittagsruhe zu Bett gebracht.

Natürlich versorgen sich die Schmutzwäschesäcke und diverse kontaminierte Materialien nicht von selbst. Vielleicht opfert sich ja unser Zivildiener und erledigt das für mich. Ich muss mich nämlich noch an die Dokumentation machen und dafür brauche ich noch den letzten Rest meiner Konzentration. MERKE: Was nicht dokumentiert ist, wurde NIE erledigt!

Für jede Tätigkeit, die ich heute durchgeführt habe, muss ich im Durchführungsnachweis einen Haken setzen. Egal, ob ich einen Bewohner nach rechts oder nach links gedreht habe –ein Haken muss her. Jeder Milliliter Flüssigkeit, den ein Bewohner getrunken hat, muss dokumentiert werden. Und wenn er ihn NICHT getrunken hat, dann muss dies ebenfalls dokumentiert werden – nämlich mit einer entsprechenden Begründung. Jedes akute Vorkommnis (z.B. ein Sturz oder eine plötzliche Bewusstlosigkeit), jede Veränderung an der Haut, jede Verbesserung und natürlich Verschlechterung des Zustandsbildes muss im Pflegebericht verankert sein. Der bekannte rote Faden muss sich durch die gesamte Dokumentation ziehen. Lückenlos! Die Dokumentation muss fertig sein, wenn der Spätdienst zur Dienstübergabe eintrifft.

Und damit es nicht langweilig wird, sind dazwischen natürlich noch jede Menge andere Dinge zu erledigen:

Hygienemaßnahmen durchführen, Checklisten abarbeiten, mit allen BewohnerInnen die 
gewünschten Speisen für die nächsten Wochen erfassen und die Menü Bestellungen an die Küche weiterleiten, Lieferungen entgegennehmen und wegräumen, Inkontinenzprodukte bestellen und bei Lieferung an alle BewohnerInnen verteilen, Reparatur von Heilbehelfen veranlassen, Friseur – und Fußpflegetermine für die BewohnerInnen fixieren, diverse Protokolle durchlesen und zur Kenntnis nehmen, an Fortbildungen (die teilweise während der Dienstzeit stattfinden) teilnehmen u.v.m.

Nun, habe ich da nicht eine Kleinigkeit vergessen? Bestehen die Bedürfnisse eines Menschen nur aus essen, waschen, kleiden? Nicht wirklich. 
Jeder Mensch benötigt dringend Aufmerksamkeit, 
Ansprache und psychischen Beistand. Vor 
allem demente Menschen brauchen sehr viel Ein-
fühlungsvermögen. Biografiearbeit steht hier 
wesentlich im Vordergrund. Was hat dieser Mensch früher gerne gegessen, gerochen, welche Hobbies hatte er, wie hat er gelebt und gewohnt? All diese Dinge gehören in die tägliche Arbeit in der Pflege eingebunden.

Die Begleitung Sterbender in ihren letzten 
Phasen. Die Mitbetreuung Angehöriger. Diese 
haben natürlich sehr viele Fragen, sind 
verunsichert, verzweifelt.

Dies war nur ein kleiner Einblick in den Arbeitsablauf eines Frühdienstes in einem Pflegeheim. Am Nachmittag tun sich wieder völlig andere Dinge auf. Demente BewohnerInnen sind am Nachmittag wesentlich verwirrter als am Vormittag. Sie verlassen still und heimlich das Haus, weil sie nach Hause gehen möchten. Nicht selten ist ein Polizeieinsatz notwendig, um sie wieder zu finden. Die Sturz-
gefahren sind am Nachmittag höher als sonst. Viele Angehörige besuchen ihre Verwandten hauptsächlich am Nachmittag und stellen zum Teil große Anforderungen an das Personal. Wobei am Nachmittag noch weniger Personal im Dienst ist, als am Vormittag. Trotzdem muss den Wünschen aller entsprochen werden. Und bitte immer recht freundlich bleiben. Klar.

Wie soll ein Mensch optimal ganzheitlich betreut und gepflegt werden, wenn sich der Personalstand im unteren Grenzbereich befindet? Wenn sich die Krankenstände häufen, weil die MitarbeiterInnen, die ständig für andere einspringen müssen, ebenfalls krank werden?

Wie kann es sein, dass einem pflegebedürftigen Menschen in Österreich bundesländerabhängig eine unterschiedlich hohe Anzahl von Pflege-
personen gewährt wird? In Wien z.B. hat man für die BewohnerInnen in einem Pflegeheim wesentlich mehr Zeit zur Verfügung als in der Steiermark. Ist ein Mensch in der Steiermark also weniger wert?

Es wäre sehr wichtig und wertvoll, wenn sich 
Politiker die Zeit nehmen würden und nur einen einzigen Tag den Ablauf in einem Pflegeheim vor Ort mitverfolgen würde. Ob sich dann etwas ändern würde?

Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt…

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Veröffentlicht: 8. November 2019