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Fassadendemokratie

EU verliert Vertrauen

Im Europawahlkampf soll über die tatsächliche Machtverteilung in der EU nicht gesprochen werden, könnte doch das Parlament als das erkannt werden, was es in Wahrheit ist: Der schöne Teil einer „Fassadendemokratie“. | von Andreas Wehr

 

Die Legitimation der Europäischen Union schwindet. Hatten laut Eurobarometer im Mai 2007 noch 57 Prozent der Unionsbürger „Vertrauen in die Europäische Union“, waren es im Mai 2013 nur noch 31 Prozent. Am größten war der Vertrauensschwund dort, wo Brüssel eine rigide Austeritätspolitik diktiert, etwa  in Spanien, wo die Zustimmung von 52 auf 8 Prozent fiel oder in Griechenland, wo 2007 noch 41, 2013 hingegen nur noch 9 Prozent der EU trauten. Selbst in Deutschland, das laut Kanzlerin Merkel „gestärkt aus der Krise“ hervorgegangen ist, halbierte sich die Zustimmung von 56 auf 29 Prozent.          

Die im Mai anstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament sollen der Union verloren gegangenes Vertrauen zurückgewinnen. Dann, so heißt es, bekäme der „europäische Souverän“ das Sagen und könne sich per Stimmzettel für die eine oder andere Richtung in der europäischen Politik entscheiden. Doch solche Wahlen sind schon auf nationaler Ebene oft nur noch ein folgenloses Ritual, denn immer weniger gibt es dabei zu entscheiden. Egal welche der dominanten Parteien gewählt wird, am Ende erhält man doch dieselbe Politik. Es wechseln die Köpfe, aber nicht die Inhalte. So war es wieder jüngst nach den Bundestagswahlen: Die neue Koalition von CDU/CSU und SPD setzt die neoliberale Politik der zuvor abgewählten schwarz-gelben Koalition fort, von einigen Nuancen abgesehen.

Wer bestimmt den Kommissionspräsidenten?

Noch weniger haben die Wählerinnen und Wähler auf europäischer Ebene zu entscheiden, genügt das Europäische Parlament (EP) nicht einmal den Mindestvoraussetzungen einer Volksvertretung. Es fehlen ihm schlicht und einfach die Kompetenzen, die einem echten Parlament nun einmal eigen sind.

Zwar soll das EP die Legislative der Union sein, doch hat es keinen Zugriff auf die Kommission als die Exekutive der Union. Den Präsidenten der Kommission kann es nicht wirklich wählen. Er wird vielmehr vom Europäischen Rat, dem Gremium der Staats- und Regierungschefs der 28 Mitgliedsländer, ernannt. Das Parlament darf ihn anschließend lediglich bestätigen. Zwar heißt es seit Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags, dass das Parlament den Kommissionspräsidenten „wählt“ und nicht – wie bis dahin – „bestätigt“. Doch in der Sache hat die veränderte Wortwahl nichts verändert. Weiterhin ist es allein der Rat, der den Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten vorschlägt. Und da dem Parlament immer nur ein Kandidat präsentiert wird, kann von einer echten Wahl nicht gesprochen werden. Das EP hat weiterhin nur das Recht, den vom Rat zuvor Auserwählten zu bestätigen oder abzulehnen. Und sollte es ihn einmal wirklich ablehnen, so ist es abermals Aufgabe des Rats, anschließend einen neuen Kandidaten zu präsentieren.

Mit dem Lissabonner Vertrag ist nun eine Formulierung in den EU-Vertrag aufgenommen worden, mit der angeblich die Rechte des Parlaments bei der Auswahl des Kommissionspräsidenten gestärkt werden. In Artikel 17 EU-Vertrag heißt es: „Dabei“ (bei seinem Vorschlag) berücksichtigt er (der Rat, A.W.) das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament“. Diese Formulierung ist aber hinreichend unbestimmt und schwammig, um dem Rat bei der Auswahl des Kommissionspräsidenten weiterhin freie Hand zu lassen.

Bundeskanzlerin Merkel hat bereits klargestellt, dass sie nicht daran denkt, sich bei der Benennung des neuen Kommissionspräsidenten durch den Ausgang der Europawahlen binden zu lassen. Die Süddeutsche Zeitung schrieb dazu am 7. März 2014: „Trotz der Mahnungen aus dem EU-Parlament bleibt unsicher, ob die Staats- und Regierungschefs tatsächlich den Spitzenkandidaten der siegreichen Parteienfamilie zum Kommissionspräsidenten wählen werden. Sie könnten sich nach der Wahl am 25. Mai auch für einen aktuellen Regierungschef entscheiden.“

Diese neue, aber weitgehend unverbindliche Bestimmung wird nun zum Anlass genommen, um dem Parlament die Weihe einer echten Legislative zu geben. Gegenwärtig wird suggeriert, dass es bei den Wahlen im Mai entscheidend darauf ankomme, welche Liste der verschiedenen europäischen Parteienfamilien die meisten Sitze im EP erringe, da deren Spitzenkandidat anschließend quasi automatisch der nächste Kommissionspräsident werde. Vor allem die Sozialdemokraten haben darauf ihre Wahlstrategie gegründet. Und ihr Spitzenkandidat Martin Schulz sieht sich denn auch schon als nächster Präsident der Kommission.

Auch die anderen politischen Formationen sind auf diesen Zug aufgesprungen. Die europäischen Liberalen und Grünen nominierten gleich zwei Spitzenkandidaten, und die Europäische Linkspartei präsentierte auf ihrem Parteitag im Dezember 2013 in Madrid den Vorsitzenden des griechischen Linksbündnisses SYRIZA, Alexis Tsipras, als gemeinsamen Kandidaten, obwohl von ihm bekannt ist, dass er auch nach den Europawahlen Politik in Athen treiben wird und daher nicht daran denkt, als Europaabgeordneter nach Straßburg zu gehen. Auch ist die Benennung eines linken Spitzenkandidaten wenig glaubwürdig, da im neu zu wählenden Parlament von 751 Mitgliedern wahrscheinlich nicht mehr als 40 bis 50 linke Europaabgeordneten sitzen werden, die Tsipras dann unterstützen könnten. Doch dazu wird es gar nicht kommen, da ihn der Rat niemals vorschlagen wird. Anstatt sich also an diesem scheindemokratischen Manöver zu beteiligen und es damit zu billigen, hätte die Europäische Linkspartei sehr viel besser daran getan, darüber aufzuklären, dass es bei der Auswahl des Kommissionspräsidenten beim undemokratischen Verfahren bleibt, bei dem das Parlament weiterhin ohne Probleme übergangen werden kann, da es weiterhin der Rat und damit die Mitgliedsländer sind, die darüber bestimmen, wer Kommissionspräsident wird .               

Ein Scheinparlament

Dem Europäischen Parlament wird aber nicht allein das Recht vorbehalten, den Kommissionspräsidenten wirklich wählen zu können, es besitzt auch nicht das Initiativrecht, was bedeutet, dass es keine Gesetze vorschlagen kann. So kann es nicht einmal die von ihm mitbeschlossenen Richtlinien und Verordnungen überarbeiten oder aufheben, sollte es das einmal für nötig halten. Nehmen wir die umstrittene Dienstleistungsrichtlinie, den „Bolkesteinhammer“, als Beispiel. Selbst in dem sehr unwahrscheinlichen Fall, dass sich eine Parlamentsmehrheit fände, diese vom EP mitbeschlossene Richtlinie zurückzunehmen, so hätte das Parlament keine Befugnis für eine solche Initiative, denn es ist ausschließlich die Kommission berechtigt, Gesetzgebungsakte vorzuschlagen. Und sie tut das nur dann, wenn sie sich vorher der Zustimmung des Rats sicher ist, denn der Rat, das Organ der Mitgliedstaaten, ist nun einmal das Machtzentrum der Union.

Nun heißt es oft, dass das Parlament nach dem Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages dem Rat bei der Gesetzgebung weitgehend gleichgestellt sei, teilen sich jetzt doch beide Organe gemeinsam dieses Recht. Selbst der Haushalt der Union käme ohne Billigung des Parlaments nicht zustande. Doch tatsächlich änderte sich die Machtverteilung in der EU dadurch nicht.  Trotz hinhaltendem Widerstand musste sich das Parlament bereits bei der ersten Entscheidung über das Budget, bei der Festlegung der mittelfristigen Finanzplanung, vollständig dem Willen des Rats beugen. Und dies konnte auch gar nicht anders sein, sind es doch die im Rat vertretenen Mitgliedstaaten, die die Mittel der Union bestreiten. Das Europäische Parlament verfügt eben nicht - wie jedes normale nationale Parlament - über das Budgetrecht.    

Im Europawahlkampf soll über die tatsächliche Machtverteilung in der EU nicht gesprochen werden, könnte doch das Parlament als das erkannt werden, was es in Wahrheit ist: Der schöne Teil einer „Fassadendemokratie“ (Sahra Wagenknecht). Für die Kritiker der EU stellt sich daher die Frage: Lohnt es überhaupt, zu einem solchen Parlament zu kandidieren? Es lohnt, denn selbst ein solch machtloses Gremium darf nicht den Befürwortern von immer „mehr Europa“ überlassen werden. Da ist die Plicht, auch nicht die kleinste Chance zu vergeben, wenn es darum geht, neoliberalen Sozial- und Demokratieabbau zu verhindern oder auch nur zu verzögern. Dies ist zwar mit Hilfe des Parlaments bisher nur äußerst selten gelungen, dennoch muss dieser Kampf, ohne Illusionen über den Charakter dieser Einrichtung zu haben, tagtäglich geführt werden. Da ist zum anderen die Möglichkeit, durch die Präsenz im Parlament an Informationen heranzukommen, die man anders nicht erhält. Solche Informationen sind wichtig für den vornehmlich außerparlamentarisch geführten Kampf gegen die Politik der EU. Und schließlich ist das Europäische Parlament in einer Frage ganz und gar kein Scheinparlament. Denn was die fürstlichen Diäten sowie die finanziellen und personellen Ressourcen für die Arbeit der Abgeordneten und Fraktionen angeht, so sollten sie genutzt werden, um mit ihnen den Widerstand gegen die europaweite neoliberale Politik und den von Brüssel aus betriebenen Demokratieabbau zu unterstützen. Der Kampf um die Mandate lohnt also!                          

Mit dem wachsenden Gewicht des Europäischen Parlaments erhalten Fragen nach seiner inneren Organisation und nach den Verfahren der Entscheidungsfindung eine besondere Bedeutung, hängt doch von ihnen ab, ob das EP eine positive Rolle im Sinne der von den Herrschenden angestrebten weiteren Europäisierung spielen wird. Dies heißt zunächst einmal, dass angesichts des zu erwartenden Erfolgs von Euroskeptikern bei den anstehenden Europawahlen die Funktionsfähigkeit des Parlaments gesichert werden muss. Dies verlangt die Stärkung der dort bereits dominanten großen Koalition aus Konservativen und Sozialdemokraten als auch aller übrigen Kräfte, die die weitere Integration befürworten, etwa Liberale und Grüne. Das EP ist daher als ein Parlament zu erhalten und weiterzuentwickeln, dessen Abgeordnete eine große Unabhängigkeit von ihren Parteien und Fraktionen genießen, denn nur diese Vereinzelung kann verhindern, dass sich mittels demokratisch organisierter Massenparteien der demokratische Volkswillen über das Parlament Einfluss auf die Politik der Union gewinnen können und dabei den Integrationsprozess aufhalten bzw. rückgängig machen. Käme es so, wäre aus Sicht der Herrschenden der entscheidende Vorteil der europäischen Integration in Frage gestellt, der gerade darin besteht, mit ihr eine Herrschaftsform zu schaffen, zu der demokratische Volkswillen kein Zugang hat.

Fassadendemokratie

Die Legitimation der Europäischen Union schwindet. Hatten laut Eurobarometer im Mai 2007 noch 57 Prozent der Unionsbürger „Vertrauen in die Europäische Union“, waren es im Mai 2013 nur noch 31 Prozent. Am größten war der Vertrauensschwund dort, wo Brüssel eine rigide Austeritätspolitik diktiert, etwa  in Spanien, wo die Zustimmung von 52 auf 8 Prozent fiel oder in Griechenland, wo 2007 noch 41, 2013 hingegen nur noch 9 Prozent der EU trauten. Selbst in Deutschland, das laut Kanzlerin Merkel „gestärkt aus der Krise“ hervorgegangen ist, halbierte sich die Zustimmung von 56 auf 29 Prozent.          

Die im Mai anstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament sollen der Union verloren gegangenes Vertrauen zurückgewinnen. Dann, so heißt es, bekäme der „europäische Souverän“ das Sagen und könne sich per Stimmzettel für die eine oder andere Richtung in der europäischen Politik entscheiden. Doch solche Wahlen sind schon auf nationaler Ebene oft nur noch ein folgenloses Ritual, denn immer weniger gibt es dabei zu entscheiden. Egal welche der dominanten Parteien gewählt wird, am Ende erhält man doch dieselbe Politik. Es wechseln die Köpfe, aber nicht die Inhalte. So war es wieder jüngst nach den Bundestagswahlen: Die neue Koalition von CDU/CSU und SPD setzt die neoliberale Politik der zuvor abgewählten schwarz-gelben Koalition fort, von einigen Nuancen abgesehen.

Wer bestimmt den Kommissionspräsidenten?

Noch weniger haben die Wählerinnen und Wähler auf europäischer Ebene zu entscheiden, genügt das Europäische Parlament (EP) nicht einmal den Mindestvoraussetzungen einer Volksvertretung. Es fehlen ihm schlicht und einfach die Kompetenzen, die einem echten Parlament nun einmal eigen sind.

Zwar soll das EP die Legislative der Union sein, doch hat es keinen Zugriff auf die Kommission als die Exekutive der Union. Den Präsidenten der Kommission kann es nicht wirklich wählen. Er wird vielmehr vom Europäischen Rat, dem Gremium der Staats- und Regierungschefs der 28 Mitgliedsländer, ernannt. Das Parlament darf ihn anschließend lediglich bestätigen. Zwar heißt es seit Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags, dass das Parlament den Kommissionspräsidenten „wählt“ und nicht – wie bis dahin – „bestätigt“. Doch in der Sache hat die veränderte Wortwahl nichts verändert. Weiterhin ist es allein der Rat, der den Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten vorschlägt. Und da dem Parlament immer nur ein Kandidat präsentiert wird, kann von einer echten Wahl nicht gesprochen werden. Das EP hat weiterhin nur das Recht, den vom Rat zuvor Auserwählten zu bestätigen oder abzulehnen. Und sollte es ihn einmal wirklich ablehnen, so ist es abermals Aufgabe des Rats, anschließend einen neuen Kandidaten zu präsentieren.

Mit dem Lissabonner Vertrag ist nun eine Formulierung in den EU-Vertrag aufgenommen worden, mit der angeblich die Rechte des Parlaments bei der Auswahl des Kommissionspräsidenten gestärkt werden. In Artikel 17 EU-Vertrag heißt es: „Dabei“ (bei seinem Vorschlag) berücksichtigt er (der Rat, A.W.) das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament“. Diese Formulierung ist aber hinreichend unbestimmt und schwammig, um dem Rat bei der Auswahl des Kommissionspräsidenten weiterhin freie Hand zu lassen.

Bundeskanzlerin Merkel hat bereits klargestellt, dass sie nicht daran denkt, sich bei der Benennung des neuen Kommissionspräsidenten durch den Ausgang der Europawahlen binden zu lassen. Die Süddeutsche Zeitung schrieb dazu am 7. März 2014: „Trotz der Mahnungen aus dem EU-Parlament bleibt unsicher, ob die Staats- und Regierungschefs tatsächlich den Spitzenkandidaten der siegreichen Parteienfamilie zum Kommissionspräsidenten wählen werden. Sie könnten sich nach der Wahl am 25. Mai auch für einen aktuellen Regierungschef entscheiden.“

Diese neue, aber weitgehend unverbindliche Bestimmung wird nun zum Anlass genommen, um dem Parlament die Weihe einer echten Legislative zu geben. Gegenwärtig wird suggeriert, dass es bei den Wahlen im Mai entscheidend darauf ankomme, welche Liste der verschiedenen europäischen Parteienfamilien die meisten Sitze im EP erringe, da deren Spitzenkandidat anschließend quasi automatisch der nächste Kommissionspräsident werde. Vor allem die Sozialdemokraten haben darauf ihre Wahlstrategie gegründet. Und ihr Spitzenkandidat Martin Schulz sieht sich denn auch schon als nächster Präsident der Kommission.

Auch die anderen politischen Formationen sind auf diesen Zug aufgesprungen. Die europäischen Liberalen und Grünen nominierten gleich zwei Spitzenkandidaten, und die Europäische Linkspartei präsentierte auf ihrem Parteitag im Dezember 2013 in Madrid den Vorsitzenden des griechischen Linksbündnisses SYRIZA, Alexis Tsipras, als gemeinsamen Kandidaten, obwohl von ihm bekannt ist, dass er auch nach den Europawahlen Politik in Athen treiben wird und daher nicht daran denkt, als Europaabgeordneter nach Straßburg zu gehen. Auch ist die Benennung eines linken Spitzenkandidaten wenig glaubwürdig, da im neu zu wählenden Parlament von 751 Mitgliedern wahrscheinlich nicht mehr als 40 bis 50 linke Europaabgeordneten sitzen werden, die Tsipras dann unterstützen könnten. Doch dazu wird es gar nicht kommen, da ihn der Rat niemals vorschlagen wird. Anstatt sich also an diesem scheindemokratischen Manöver zu beteiligen und es damit zu billigen, hätte die Europäische Linkspartei sehr viel besser daran getan, darüber aufzuklären, dass es bei der Auswahl des Kommissionspräsidenten beim undemokratischen Verfahren bleibt, bei dem das Parlament weiterhin ohne Probleme übergangen werden kann, da es weiterhin der Rat und damit die Mitgliedsländer sind, die darüber bestimmen, wer Kommissionspräsident wird .               

Ein Scheinparlament

Dem Europäischen Parlament wird aber nicht allein das Recht vorbehalten, den Kommissionspräsidenten wirklich wählen zu können, es besitzt auch nicht das Initiativrecht, was bedeutet, dass es keine Gesetze vorschlagen kann. So kann es nicht einmal die von ihm mitbeschlossenen Richtlinien und Verordnungen überarbeiten oder aufheben, sollte es das einmal für nötig halten. Nehmen wir die umstrittene Dienstleistungsrichtlinie, den „Bolkesteinhammer“, als Beispiel. Selbst in dem sehr unwahrscheinlichen Fall, dass sich eine Parlamentsmehrheit fände, diese vom EP mitbeschlossene Richtlinie zurückzunehmen, so hätte das Parlament keine Befugnis für eine solche Initiative, denn es ist ausschließlich die Kommission berechtigt, Gesetzgebungsakte vorzuschlagen. Und sie tut das nur dann, wenn sie sich vorher der Zustimmung des Rats sicher ist, denn der Rat, das Organ der Mitgliedstaaten, ist nun einmal das Machtzentrum der Union.

Nun heißt es oft, dass das Parlament nach dem Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages dem Rat bei der Gesetzgebung weitgehend gleichgestellt sei, teilen sich jetzt doch beide Organe gemeinsam dieses Recht. Selbst der Haushalt der Union käme ohne Billigung des Parlaments nicht zustande. Doch tatsächlich änderte sich die Machtverteilung in der EU dadurch nicht.  Trotz hinhaltendem Widerstand musste sich das Parlament bereits bei der ersten Entscheidung über das Budget, bei der Festlegung der mittelfristigen Finanzplanung, vollständig dem Willen des Rats beugen. Und dies konnte auch gar nicht anders sein, sind es doch die im Rat vertretenen Mitgliedstaaten, die die Mittel der Union bestreiten. Das Europäische Parlament verfügt eben nicht - wie jedes normale nationale Parlament - über das Budgetrecht.    

Im Europawahlkampf soll über die tatsächliche Machtverteilung in der EU nicht gesprochen werden, könnte doch das Parlament als das erkannt werden, was es in Wahrheit ist: Der schöne Teil einer „Fassadendemokratie“ (Sahra Wagenknecht). Für die Kritiker der EU stellt sich daher die Frage: Lohnt es überhaupt, zu einem solchen Parlament zu kandidieren? Es lohnt, denn selbst ein solch machtloses Gremium darf nicht den Befürwortern von immer „mehr Europa“ überlassen werden. Da ist die Plicht, auch nicht die kleinste Chance zu vergeben, wenn es darum geht, neoliberalen Sozial- und Demokratieabbau zu verhindern oder auch nur zu verzögern. Dies ist zwar mit Hilfe des Parlaments bisher nur äußerst selten gelungen, dennoch muss dieser Kampf, ohne Illusionen über den Charakter dieser Einrichtung zu haben, tagtäglich geführt werden. Da ist zum anderen die Möglichkeit, durch die Präsenz im Parlament an Informationen heranzukommen, die man anders nicht erhält. Solche Informationen sind wichtig für den vornehmlich außerparlamentarisch geführten Kampf gegen die Politik der EU. Und schließlich ist das Europäische Parlament in einer Frage ganz und gar kein Scheinparlament. Denn was die fürstlichen Diäten sowie die finanziellen und personellen Ressourcen für die Arbeit der Abgeordneten und Fraktionen angeht, so sollten sie genutzt werden, um mit ihnen den Widerstand gegen die europaweite neoliberale Politik und den von Brüssel aus betriebenen Demokratieabbau zu unterstützen. Der Kampf um die Mandate lohnt also!                          

Mit dem wachsenden Gewicht des Europäischen Parlaments erhalten Fragen nach seiner inneren Organisation und nach den Verfahren der Entscheidungsfindung eine besondere Bedeutung, hängt doch von ihnen ab, ob das EP eine positive Rolle im Sinne der von den Herrschenden angestrebten weiteren Europäisierung spielen wird. Dies heißt zunächst einmal, dass angesichts des zu erwartenden Erfolgs von Euroskeptikern bei den anstehenden Europawahlen die Funktionsfähigkeit des Parlaments gesichert werden muss. Dies verlangt die Stärkung der dort bereits dominanten großen Koalition aus Konservativen und Sozialdemokraten als auch aller übrigen Kräfte, die die weitere Integration befürworten, etwa Liberale und Grüne. Das EP ist daher als ein Parlament zu erhalten und weiterzuentwickeln, dessen Abgeordnete eine große Unabhängigkeit von ihren Parteien und Fraktionen genießen, denn nur diese Vereinzelung kann verhindern, dass sich mittels demokratisch organisierter Massenparteien der demokratische Volkswillen über das Parlament Einfluss auf die Politik der Union gewinnen können und dabei den Integrationsprozess aufhalten bzw. rückgängig machen. Käme es so, wäre aus Sicht der Herrschenden der entscheidende Vorteil der europäischen Integration in Frage gestellt, der gerade darin besteht, mit ihr eine Herrschaftsform zu schaffen, zu der demokratische Volkswillen kein Zugang hat.


Andreas Wehr. Mitarbeiter der Linksfraktion im EU-Parlament

23. April 2014