Europa – ein Nachruf

von Friedrich Tomberg

Fin de siècle Europeén –
Zur geschichtlichen Dimensionierung des Ersten Weltkriegs

(Manuskript 2014 – unveröffentlicht)
 

 

Fin de siècle Europeén –
Zur geschichtlichen Dimensionierung des Ersten Weltkriegs

Angela Merkel, im Jahre 2014 schon lange deutsche Bundeskanzlerin, hat sich mit ihrem rigorosen Sparkurs in den Krisenjahren seit 2008 nicht nur Freunde gemacht. In Griechenland tauchte bei Demonstrationen ihr Porträt sogar um ein Hitlerbärtchen ergänzt auf – ein unübersehbarer Hinweis auf die Gewaltsamkeit, mit der seinerzeit die deutschen Nazis in das Schicksal anderer Völker eingegriffen hatten. Das Jahr 2014 hat nun auch die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg hundert Jahre vorher wieder wachgerufen, den Deutschland, mit seiner Kriegserklärung an Russland in Gang gesetzt hat. Die beiden Vernichtungskriege bisher unerhörten Ausmaßes, einer wie der andere ausgehend von Deutschland, das hat die Bundesrepublik, den Nachfolgestaat des „Dritten Reiches“, außenpolitisch äußerst behutsam auftreten lassen. Umso erstaunlicher, dass seit einiger Zeit auch aus dem westlichen Ausland sich die Ermunterungen häufen, Deutschland möge in der Außenpolitik sich zu mehr Verantwortung bekennen und innerhalb der Europäischen Union sich nicht scheuen, die Führung zu übernehmen. Noch ist nicht ausgemacht, wie die Regierenden sich zu diesem unvermuteten Angebot an eine schuldbeladene Nation verhalten werden, die - was die BRD betrifft – in den letzten Jahrzehnten nichts anderes hat sein wollen als ein politischer Zwerg und sich damit begnügte, wirtschaftlich zu einem Riesen heranzuwachsen. Grund genug, um intensiver dem nachzufragen, ob die Motive tatsächlich nicht mehr wirksam sind, die um die Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert, in der Epoche also des sogenannten Fin de siècle, die Verantwortlichen der deutschen Politik in Auseinandersetzungen getrieben haben, von denen sich mit einem gewissen Recht als von einem weiteren und noch ungeheuerlicheren Dreißigjährigen Krieg reden lässt. So ist denn aus gegebenem Anlass nicht von ungefähr die Schuld am Ersten Weltkrieg wieder zu einem umstrittenen Gegenstand für die öffentliche Diskussion geworden.
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Damals, als nach dem Abgang Bismarcks der neue deutsche Nationalstaat plötzlich als eine überragende Wirtschaftsmacht in Erscheinung trat, war es gerade dieser Aufstieg zu einem wirtschaftlichen Riesen, der die Deutschen im Politischen auf eine verhängnisvolle Bahn brachte. Ausgesuchten Repräsentanten und Nutznießern der industriellen Revolution galt es als nur natürlich, ihre wirtschaftliche Kraft in politische Macht umzusetzen. Politik war für sie Wirtschaft mit anderen Mitteln. Dann aber stieß der Ausgang des Krieges von 1914 bis 1918, der auch der „Große Krieg“ genannt wurde, diese deutschen Abenteurer von dem Platz an der Sonne, den sie erst halbwegs eingenommen hatten, in machtpolitische Bedeutungslosigkeit hinunter. Das wirtschaftliche Potential des noch jungen Deutschen Reiches ließ sich jedoch nicht eliminieren. Hitler führte vor, wozu die Deutschen fähig waren, wenn sie ihre Wirtschaft in eine Weltherrschaftspolitik umsetzten, zu der sie gelangten, indem sie sich die Macht zur Ausbeutung anderer Länder eben dadurch verschafften, dass sie sie ausbeuteten.
   Endlich zu Boden geworfen durch die Antihitlerkoalition, erhob sich nach 1945 der deutsche Kapitalismus in Gestalt der Bundesrepublik Deutschland, als Bollwerk gegen den Osten unentbehrlich geworden, zu neuer Bedeutung. Aber man hatte aus der Geschichte gelernt und übernahm sich nicht, sondern schickte sich in den Vorrang der Schutzmacht USA. Die Zeit, dass ein einzelner europäischer Staat die anderen durch Kriegsdrohung zu seinem Nutzen in Schach halten und durch Wahrung des Gleichgewichts unter ihnen sich seiner Hegemonie über sie sicher sein konnte, wie dies England bis zum Kriegsausbruch von 1914 gelang, war endgültig vorbei.
   Schon mit dem Ausgang des Ersten Weltkrieges hat sich die heutige Weltlage herausgebildet. Nicht mehr ein „Konzert europäischer Mächte“ steht seither an, sondern die Zukunft gehört wirtschaftlich, und über kurz oder lang entsprechend auch politisch, sogenannten Großräumen, zu denen sich mehrere Staaten zusammenzufinden suchen, wenn sie es –  wie die USA – nicht schon sind. Deutschlands vergeblicher, im Inferno des Großen Krieges endender „Griff nach der Weltmacht“ ist nicht zuletzt durch die Entwicklung motiviert gewesen, die sich mit dem Imperialismus Ende des neunzehnten Jahrhunderts anbahnte. Das Scheitern von Hitlers Versuch, einem „Großdeutschen Reich“ durch einen Zweiten Weltkrieg auch noch über die „Riesenstaaten“ (730) die Übermacht zu verschaffen, machte ein- für allemal klar, dass der Weg militärischer Gewalt unter den Großen in Europa nicht mehr gangbar ist. Die Europäer – zunächst allerdings nur die „westlichen“ - fanden denn auch im Frieden zueinander. Was blieb ihnen anderes übrig?! Wollen sie in dem neuen Konzert, dem der Weltgroßräume, mit von der Partie sein, dann müssen sie hinreichend einig agieren können. Das haben zumindest Adenauer und de Gaulle sogleich schon nach dem Ende des Hitlerkrieges begriffen. 
   Diese Einigung fing mit der Proklamation einer deutsch-französischen Freundschaft an. Gleichwohl ist in Frankreich der Traum von der Grande Nation, der naturgemäß die Führung in Europa zukommt, bis heute nicht ganz ausgeträumt. In der deutschen Bundesrepublik hingegen hemmte oder überdeckte die rücksichtlich der Schuldenlast aus der Vergangenheit anzuratende Bescheidenheit die Lust auf eine zukünftig neue Größe. Den durch den Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ irritierten deutschen Bürgern, die in ihrer Mehrheit dem „Führer“ gläubig angehangen hatten, durfte man mit Großmachtphantasien nicht mehr kommen, um sie für Europa zu begeistern. Frieden, Freundschaft, Reisefreiheit und natürlich Wohlstand mussten als Motivierung für das europäische Zueinanderwollen herhalten. Noch ist das Bewusstsein davon stark, dass die Bereitschaft, nunmehr die Führung zu übernehmen, nur zu leicht den bisher ganz mit der Mehrung ihres Wohlstands beschäftigten BRD-Bürgern als unerwünschter Drang nach Höherem unterstellt werden könnte. Zwar wird den politisch Verantwortlichen der BRD heute mehr und mehr abgenommen, dass die liberale Demokratie, die ihnen von den westlichen Siegermächten nach dem Zusammenbruch des Naziregimes nicht ohne Mühe endlich beigebracht wurde, in Fleisch und Blut übergegangen ist. Gleichzeitig ist aber immer noch in den älteren Demokratien des Westens die Erinnerung daran wach, dass im vorigen Jahrhundert die beiden großen Weltkriege aus Deutschland ihren Anfang nahmen, der zweite von Hitler ausdrücklich geplant, der erste in hohem Maße mitverschuldet, wie Fritz Fischer nachgewiesen hat. Gewissermaßen um sich von der schmutzigen Vergangenheit endlich reinzuwaschen, kam aus der BRD selbst, so möchte man fast meinen, die Bereitschaft, die den Deutschen von den Franzosen angelastete deutsche Alleinschuld zu bekennen, obgleich sie in Fischers „Griff nach der Weltmacht“ gerade nicht behauptet wird.
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Nun kann und soll zwar nicht geleugnet werden, dass es die Deutschen waren, von denen dieser Krieg ausgelöst wurde.  Gleichwohl sind die schrecklichen Geschehnisse des 20. Jahrhunderts nicht allein deshalb erfolgt, weil einzelne Personen, angetrieben durch interessierte Gruppierungen und eine verhängnisvolle Ideologie, das Kriegsgeschehen in Gang gebracht haben. Lange vorher schon haben Pazifisten aus dem Bürgertum vor dem von den europäischen Staaten gemeinsam betriebenen Imperialismus gewarnt, der sie früher oder später zum Krieg gegeneinander treiben müsse. Und von den Marxisten wurde auf die Beseitigung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung als der einzigen Möglichkeit hingewiesen, die kriegerische Katastrophe zu verhindern. Lenin hat den Imperialismus als „höchstes Stadium des Kapitalismus“ und damit als Konsequenz eines objektiv bedingten Prozesses charakterisiert, der aus innerer Notwendigkeit solange  weiterschreiten werde, wie ihm nicht eine Gegenmacht erfolgreich Paroli biete. Hiernach ist es nicht verwunderlich, dass die schon lange vorher zum Imperialismus übergegangenen Staaten ihre möglichst in Übersee ausgetragenen Gegensätze schließlich auch auf den europäischen Kontinent verlegten, wobei allerdings die Deutschen durch ihren unvermutet raschen Aufstieg zu einer den Briten immer mehr gleichkommenden Wirtschaftsmacht allein schon mit ihrer Existenz zu einer Provokation wurden, die sie durch ihr aggressives Gehabe noch weiter anheizten. 
   Im Unterschied zu Hitler, der bei seiner Planung des Zweiten Weltkrieges das Miterleben des Ersten schon hinter sich hatte und daher genau wusste, was er da anzetteln würde,  kann man den damals in Deutschland herrschenden Klassen immerhin zugute halten, dass sie sich der Verheerungen, die die moderne Technik in das Kriegsgeschehen hineinbrachte, in ihrer Mehrheit kaum bewusst waren, so sehr einzelne auf die neue Qualität künftiger Kriegführung hinwiesen. Man dachte an einen der seit Jahrhunderten gewohnten Waffengänge und redete den Volksmassen und auch wohl oft sich selbst ein, dass der Krieg allenfalls nach ein paar Monaten beendet sein würde. Als die einberufenen Soldaten sich von ihren Angehörigen verabschiedeten, waren sie sich gewiss, zu Weihnachten wieder zu Hause zu sein. Den Kriegsdienst zu verweigern, lag ohnehin außer aller Möglichkeit. Bis heute muss aber als schier unbegreiflich erscheinen, dass ganze Heerscharen sich dazu drängten, ihr Leben für ein Vaterland zu geben, in dem sie wenig oder nichts zu sagen hatten. Geradezu ein Rausch der Zustimmung durchzog nicht nur die deutschen Lande, sondern auch andere europäische Staaten, und überflutete die internationale Arbeiterbewegung bis dahin, dass einer großen Mehrheit statt der Revolution nur noch der Sieg der eigenen Nation in der Internationalität des Waffengangs der herrschenden Mächte wichtig war. 
 Einige Jahrzehnte später, als Hitler sein Einstieg in die Macht, nicht zuletzt mit Hilfe potenter Gönner, gelungen war, erlebte Deutschland bei einer Mehrheit der Bevölkerung eine ähnlich rauschhafte Zustimmung  zu einer Politik, die bei Liquidierung allen Widerstandes und in offenem Rassismus auf einen weiteren Vernichtungskrieg zusteuerte, in den allzu viele sich denn auch willig hineinführen ließen, um in großer Zahl bis zum Ende dem „Führer“ die Treue zu halten. Sosehr heute die Demokratie akzeptiert ist, so ist keineswegs ausgeschlossen, dass im Falle einer Erschütterung des inzwischen als gewissermaßen naturgegeben angesehenen Wohlstandes wiederum ähnliche Exzesse – auch bei gegenwärtigen Verächtern des Neonazismus - aufkommen werden. Umso dringlicher ist es, den Ursachen nicht nur der Hitlergefolgschaft, sondern auch schon der Kriegslust größerer Massen bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges nachzugehen.
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Woher also diese Lust zum Krieg bei ansonsten gewiss friedlich gesinnten Menschen? Erschien doch die Epoche des Imperialismus in den nachfolgenden Jahrzehnten vielen als die gute, alte Zeit, gekennzeichnet vom Fortschrittsoptimismus und von unerhörter Kreativität in Kunst, Wissenschaft, Technik und Wirtschaft. Zugleich sahen die Späteren in ihr allerdings auch das besagte „Fin de siècle“, womit eine Zeit des Glanzes gemeint war, die durch das Hereinbrechen des Krieges ein unvermutetes Ende fand. „Urkatastrophe“ wird heute noch gern der Erste Weltkrieg genannt, so als wären die Europäer da ungewollt und unnötigerweise „hineingeschliddert“.
   In Musils Mann ohne Eigenschaften wirft dieser Krieg, obgleich im unterstellten Jahr 1913 noch nicht begonnen, seine Schatten schon voraus. Dieses letzte Vorkriegsjahr erscheint in dem Roman als hintergründig unheilschwanger, es wird als bedrückend und merkwürdig leer empfunden. Es fehlt da etwas Wesentliches, etwas, was diesem turbulent geschäftigen Leben um die Jahrhundertwende einen Sinn geben könnte, eine „große Idee“, wie in dem Roman immer wieder gesagt und bedacht wird. Nach ihr wird auf vielen hundert Seiten vergeblich gesucht. Weil die, die in einer umfänglichen patriotischen Aktion sich aufmachen, um sie zu finden, in Wien leben, kommen sie auf den Gedanken, dass es um die Wandlung Europas zu einem „Weltösterreich“ gehen müsse, um das Zusammenleben aller zivilisierten Nationen nämlich in einer höheren Einheit  (179), nach dem Muster dieses Vielvölkerstaates. Überzeugt sind sie jedenfalls davon, dass die Grundsätze der alten Politik und Diplomatie Europa „in den Graben kutschierten“ (111); Europa sei, wie es einmal heißt, „rettungslos entartet“ (63). Wie immer die „ganz große Idee“ (96) auch beschaffen sein würde, wenn „die gegenwärtige Zeit und die heutigen Völker“ Europas und also, wie unreflektiert unterstellt ist, der zivilisierten Menschheit überhaupt noch einmal sich sollten zu einer solchen Idee zusammenfinden können, dann nur durch eine „erlösende Kraft“ (184), die aus der „Gesamtheit“ (ebd.) aufsteigen müsse.
   Ein Jahr später bestätigte der Jubel beim Ausbruch des Krieges, dass da ein tiefsitzendes Bedürfnis nach einer „Erlösung“ (ebd.) war, die sich die revolutionäre Arbeiterbewegung der Jahrhundertwende allerdings ganz anders vorgestellt hatte. Da diese ihr Ziel nicht erreicht hat,  haben wir umso mehr Grund, dem nachzufragen, was in der im Roman als nicht vorhanden sich ergebenden „großen Idee“ an anthropologischer Substanz denn doch verborgen ist. Wir entgehen damit vielleicht nicht der Befangenheit in Spekulationen, womit sich gleichwohl aber unser Blick von den hochmögenden Tätern mehr auf die Volksmassen als deren Opfer richtet. Die waren auch schon in der Vergangenheit nie bloß die Unterdrückten, sondern andererseits auch eine treibende Kraft, von der her sich uns eine geschichtliche Dimension des Großen Krieges eröffnen könnte, die auch heute noch zu denken gibt. 
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Mit ein wenig Übertreibung kann man sagen: Der Grund für die „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts wurde letztendlich nicht durch seine unbedachte deutsche Entfesselung gelegt, auch nicht nur durch den Imperialismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts, sondern wir werden, um seiner ganz ansichtig zu werden, bis zum Beginn des 19.Jahrhunderts zurückgehen müssen. Auch damals schon existierte jenes Konzert der Mächte, das in Wirklichkeit ein sich Beäugen von Staaten war, die sich in Konfrontation zum  mittelalterlichen Kaiserreich und sodann im Zuge seines schleichenden Verfalls herausgebildet hatten. Es waren absolutistisch verfasste Territorialstaaten, die sich gegenseitig mit Kriegen bedrohten, während sie im Innern die Bevölkerung unter der Knute hielten.
   Ihnen entgegen wurden immer schon Mahnungen zum Frieden erhoben, häufig verknüpft mit dem Aufruf zur Aussöhnung, wo nicht gar zum Zusammenschluss der europäischen Mächte, wodurch allein ein dauerhafter Friede gewährleistet sein könne. So von Comenius her über den Abbé de Saint-Pierre bis hin - jetzt schon in Auswirkung der Französischen Revolution - zu Kant. Die Revolution der Franzosen wurde erfahren als die Erhebung eines Volkes gegen die absolutistische Herrschaft. Den fasziniert über die Grenzen hinschauenden Nachbarn bedeutete Volk soviel wie die Menschheit, und die sahen sie zu ihrer Zeit in Europa konzentriert. Schiller jubelte in seiner Ode an die Freude: Alle Menschen werden Brüder (Die Schwestern, wollen wir ihm zugute halten, hat er nur des Reimes wegen nicht erwähnt). 
   Wenn es damals eine „große Idee“ gab, die den Europäern das Bewusstsein verschaffen konnte, fähig und in der Lage zu sein, zum  Wohl der menschlichen Gattung und also auch aller ihr angehörenden Individuen ein dringlich Erfordertes beizutragen, dann diese Vision einer europäischen und damit schon universalen Friedensordnung. Von einer Versammlung der Staaten, die es gewohnt waren, in Kriegen übereinander herzufallen, war ihre Verwirklichung nicht zu erwarten. Die Hoffnung richtete sich vielmehr auf Napoleon Bonaparte, den dazu als höchst befähigt erscheinenden Exekutor der Französischen Revolution. Er galt vielen zunächst als der vom Schicksal Ausersehene. Hegel erblickte, als er den selbsternannten Kaiser in Jena vorbeireiten sah, in ihm die Weltseele in Person. Goethe hat von seiner Hochschätzung des immer kriegsbereiten Korsen bis ins Alter hinein kein Hehl gemacht. Eine durch den kaiserlich sich gerierenden Diktator erkämpfte wie erzwungene Einigung im Verhältnis der europäischen Staaten zueinander würde, so die Hoffnung, unter seiner Herrschaft zugleich auch in Ausweitung des französischen Volkes eine Menschengemeinschaft in ganz Europa und von da aus, vielleicht im Bunde etwa mit Arabern und Asiaten, überhaupt in der Welt realisieren. 
   Die Kontinentalsperre gegen England konnte als Abwehr der mit der industriellen Revolution gesteigerten Wirtschaftskraft des Inselreiches vom kontinentalen Markt gutgeheißen werden. Sie hätte zugleich aber eine Dominanz der Franzosen über die von Napoleon in die ersehnte Einigkeit gebrachten Europäer in Wirtschaft und Politik bedeutet. Schon die Aussicht darauf führte zu heftigen nationalen Reaktionen - vor allem in der politisch zerrissenen deutschen Nation. So stand ein Kleist gegen einen Goethe. Beiden ging es um höchste Werte, dem einen um eine nationale Selbstbestimmung, auch auf die Gefahr kriegerischer Auseinandersetzung hin, dem anderen um eine weltweite friedenverbürgende Kultur. 
   Mag es einem Napoleon auch nur an der Mehrung seiner Macht gelegen haben, an sein Wirken war gleichwohl eine einzigartige Chance für die Zukunft des Kontinents und seiner Bewohner geknüpft. Sie schwand, als der unersättliche Eroberer mit seinem Ausgriff auf Russland, ohne den die Kontinentalsperre nicht zu verwirklichen war, seinen eigenen Sturz auf sich zog. Damit waren die Würfel für die ganze nachfolgende Geschichte Europas gefallen. Europa ging nicht den Weg seiner Einigung, sondern der Festigung der einzelnen politischen Mächte. Mit ihrer Ausbildung zu Nationalstaaten, hinter der aber die Deutschen zurückblieben, war zum einen der Weg zu einer liberalen Demokratie, die nur eine nationalstaatliche sein konnte, angebahnt,. Zugleich aber bildeten sich  unterschiedliche Ausgangsbasen für eine ihrer Natur nach über alle staatlichen Grenzen hinausstrebende kapitalistische Produktionsweise, die die Staaten sowohl als einzelne gegeneinander wie sie allesamt in ferne Erdteile trieb.  Der Imperialismus, das „höchste Stadium“, war damit in den Anfängen schon angelegt. Mit ihm etablierte sich der Krieg nun vollends zur Politik mit anderen Mitteln, und zwar historisch neu in Ausweitung seiner Schlachtfelder über Europa hinaus in alle Teile der übrigen Welt. 
   Napoleon wird in den Geschichtsbüchern in der Regel als der Diktator vorgeführt, der er denn auch war. Dennoch kommen wir nicht um die Frage herum, ob nicht gerade das Gelingen seiner Machtpoltik den Weg in die „Urkatastrophe“ hätte verhindern können. Der Durchbruch der liberalen Demokratie auf dem Kontinent wäre dann zwar hinausgeschoben oder erschwert gewesen. Aber offensichtlich waren es zu dieser Zeit die Umstände selbst, die einen Vorrang des Friedens vor der Demokratie erforderten. „Es genügt nicht“, so Karl Marx in einer grundsätzlichen Formulierung, „dass der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muss sich selbst zum Gedanken drängen“ (MEW, 1,386). So war es mit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert aus der Erfahrung ihrer gelebten Wirklichkeit heraus der Gedanke des Friedens, der hervorragende Europäer zu der Zuversicht ermunterte, dass aus ihrer Kultur die Avantgarde für den anstehenden Fortschritt der ganzen Menschheit sich ergeben könne.
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Nach dem Scheitern Napoleons und der an ihn gebundenen großen Idee einer europäischen Mission für die Welt, ergab sich bald noch einmal, und wiederum von Frankreich ausgehend, die Chance für eine Politik, mit der Europa sich an das Existenzinteresse der menschlichen Gattung anbinden konnte. In dem Volk der Franzosen, das mit der Revolution allen die Freiheit hatte erkämpfen wollen, bildete sich, deutlicher bzw. früher als in anderen Staaten, eine neue Klasse heraus, die der Arbeiter nämlich, die in die absurde Zwangslage gerieten, ihre Bürger-Freiheit mit der freien Aufgabe dieser Freiheit bezahlen zu müssen. Und wie in Frankreich, so in anderen europäischen Staaten -  auch, zunächst zögernd, in dem noch nicht national geeinigten Deutschland. Die jungen, aus dem Bürgertum herkommenden Intellektuellen Marx und Engels ersahen hier im Proletariat das Auftauchen einer neuen Kraft, die die Ablösung der kapitalistischen Repression durch eine befreite Menschheit würde durchsetzen können. Die Einigung aller Menschen durch eine Friedensordnung schien ihnen nur in einem Kampf herbeiführbar, für dessen Gelingen eine Diktatur in Kauf zu nehmen war, aber nicht ausgeübt durch einen anderen Napoleon, sondern seitens einer Klasse, die durch die europäischen Staaten hindurch ein internationales Interesse an ihrer eigenen Befreiung hatte. Damit hatte Europa wieder seine „große Idee“. Sie war nicht auf eine weltweite Herrschaft gerichtet, sondern im Gegenteil auf eine Menschheit, der alle mit gleichen Rechten sollten angehören können, die daher keine Klassen mehr kannte, auch nicht die der Arbeiter und ebenso in Perspektive keine Staaten, so auch nicht ein „Konzert“ von großräumigen Staatsbündnissen.  Marx war davon überzeugt, dass die neue, über den Kapitalismus hinausgehende Gesellschaftsformation, genannt Sozialismus oder Kommunismus, nicht ein bloßer Gedanke war, sondern dass die Wirklichkeit in der Tat zu ihm hindrängte. „Der Kommunismus“, heißt es in der Deutschen Ideologie, ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben[wird].Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand  aufhebt“ (MEW, 3,35). Es war unvermeidlich, dass diese keineswegs als bloß politisch aufgefasste Bewegung sich durchsetzte, falls die Menschen nicht völlig gegen ihr Interesse handeln und sich damit selbst ihre Existenz untergraben würden. Einen Garanten dafür musste Marx nicht lange suchen. Nach seiner Überzeugung war es diese in Europa entstandene und dort auch zum Kampf für ihre Befreiung bereite Arbeiterklasse, die ihrem Interesse nur nachgehen konnte, wenn sie zugleich auch der ganzen Menschheit den Zugang zu einem „Reich der Freiheit“ eröffnete. So wurde für Marx die große, durch den Realprozess gestützte Idee einer in Zukunft möglichen Weltdemokratie zugleich auch zu jener „großen Idee“ für Europa, nach der später die zum Teil aristokratisch-verschrobenen Romangestalten Musils, fernab von der Arbeiterbewegung, vergeblich suchen würden.

                    II
Sozialismus – Das Schicksal einer europäischen Idee


Im Zuge des Ersten Weltkriegs gelang in Russland die sozialistische Revolution, deren weltausgreifender Brandherd aber, wie dem exzellenten Marxkenner Lenin bewusst war, nur das hochindustrialisierte Mittel- und Westeuropa sein konnte. Dort würde, danach sah es nach 1914 aus, im Gefolge der Verheerungen des Krieges der Kapitalismus zusammenbrechen und den Weg zum revolutionären Wandel im Zentrum Europas als Auftakt zur Weltrevolution freimachen. Die Erwartung erfüllte sich nicht. Seit 1923 war unübersehbar, dass das kapitalistische System sich stabilisierte. Und es stellte sich später heraus und ist die Erfahrung bis heute, dass auch weitere Krisen, einschließlich  Weltwirtschaftskrisen, seine Machtstellung nicht zu erschüttern vermögen.
   Andererseits festigte sich ebenfalls die um ihr russisches Kernland gruppierte Sowjetunion und hielt sich nach wie vor unter dem Leitbild des Sozialismus, während sich mit der kapitalistischen Globalisierung mehr und mehr die Konturen einer Weltgesellschaft herausbildeten, die Europa nicht mehr zu ihrem aktivierenden Zentrum hatte. Wenn aus dieser globalen Vernetzung das angestrebte Reich der Freiheit hervorgehen sollte, so auch, nach Teilung der Welt in die beiden Lager -hie Kapitalismus, hie Sozialismus - nicht mehr von Europa, sondern von der Sowjetunion aus. Revolutionäre Strategie – das war jetzt, bis zum Ende, deren Sache. Europa als Europa verfügte nicht mehr über eine ihm eigene „große Idee“. Auf dem Wege zur Weltgesellschaft, ob diese nun kapitalistisch oder sozialistisch strukturiert sein würde, wurde die einst alles überragende Weltformation  zu einer in der globalen Zukunft an sich vernachlässigbaren Größe. Diese großmächtige Kultur hatte sich als Avantgarde des Fortschritts mit den beiden Weltkriegen und speziell den Folgen der Hitlerschen Weltherrschaftspolitik aus der Weltgeschichte verabschiedet. Wenn darin eine „Urkatastrophe“ gesehen werden soll, dann nicht infolge des Ersten Weltkriegs und ihrer Verstärkung durch den Zweiten, sondern weil nun mal dieser einst in der Machtpolitik schlechthin die Welt bedeutende Kontinent zwar eine Zeitlang noch zu den wirtschaftlichen Riesen wird gezählt werden dürfen, politisch aber längst zum, allerdings auffällig agilen, Zwerg geworden ist. In einer symptomatischen, weltweit publizierten Diskussion zwischen Repräsentanten des Westens und Chinas zu den zu erwartenden Machtverhältnissen im 21. Jahrhundert, kommt Europa überhaupt nicht mehr vor (Kissinger u.a.).
   Dennoch hat sich die europäische Arbeiterbewegung nach dem Ersten Weltkrieg ihre Voraussicht auf den Sozialismus durch die Stabilisierung des Kapitalismus nicht nehmen lassen. Sie sah aber mehr und mehr ein, dass in Europa die Wirklichkeit nicht mehr dahin drängte, sondern allein in der Sowjetunion und an sie anschließend in Ländern der Dritten Welt. Nur von da aus kam den für den Sozialismus kämpfenden Proletariern der europäischen Industriestaaten noch eine Funktion für den Sozialismus zu, aber nicht mehr die einer Avantgarde der Weltrevolution, sondern als Vortrupp an der äußersten Front des Widerstandes: gegen den mehr und mehr sich durchsetzenden Faschismus. 
   Aber auch der äußerste Kampfeinsatz konnte diese Katastrophe für die menschliche Zivilisation nicht verhindern Der Überfall von Nazideutschland auf die Sowjetunion zwang die Sowjets zu einer fast übermenschlichen Anstrengung der Abwehr. In ihr verband sich die Motivation eines internationalen Klassenkampfes zwischen Sozialismus und imperialistischem Kapitalismus mit dem Einsatz für die Freiheit der russischen Nation und der ihrer Verbündeten im „Großen Vaterländischen Krieg“. Die nationale Freiheit konnte in der Tat erkämpft werden und geriet doch mit dem Kalten Krieg in neue Bedrängnis. Diese rührte übers Militärische hinaus letzten Endes vom wachsenden ökonomischen Übergewicht eines kapitalistischen Weltmarktes her. War dieser nicht zu beseitigen, so musste sich das sozialistische Lager entweder ihm öffnen oder es musste der Sozialismus bis zur letzten Konsequenz eines autarken Systems vorangetrieben werden. Eine andere Möglichkeit bot sich in der gegebenen Konstellation wohl nicht.
   In dem einen Weg einer Integration der kapitalistischen Produktionsweise in eine sozialistische Politik hatte schon Lenin die einzig noch verbliebene Chance gesehen, um die Zielstellung des Sozialismus beibehalten zu können. Wir haben ihn heute in China vor Augen. Er war dort nur möglich, weil die Chinesen sich gegenüber der Sowjetunion, nicht zuletzt auch dank deren Existenz, dazu in einer allein schon geopolitisch günstigeren Lage befanden. Der andere Weg, den Stalin einschlug, weil in der Konfrontation mit der imperialistischen Aggression des Westens anderes gar nicht übrig blieb, musste nach der auch von Lenin noch geteilten Überzeugung von Marx schon bald an seine Grenzen stoßen. Stalins frühe Kampfgenossen hielten an der unmittelbaren Zielsetzung zur Weltrevolution hin fest. Der Diktator erwehrte sich ihrer, indem er sie beseitigen ließ. Für ihn war die nationale Festigung das sich momentan unerbittlich stellende Ziel seiner Politik überhaupt, für dass er aber das Engagement des russischen Volkes durch Beibehalten der sozialistischen Perspektive zu gewinnen suchte, die sich aber notgedrungen immer mehr aushöhlte, so dass die ideologische Ermunterung mehr und mehr durch brutalen Zwang ersetzt wurde.
   Die faktische Abkehr von der weltrevolutionären Motivation durch ihre Umdeutung zu einer nationalen Angelegenheit hätte sich insofern auf Marx berufen können, als für diese oberste Autorität des Marxismus nie in Frage stand, dass der zum Kommunismus vollendete Sozialismus nur aufgrund eines weltweiten materiellen Reichtums bei Abwesenheit eines kapitalistischen Weltmarktes machbar war. Er bedeutete das Subjektwerden der ganzen Menschheit. Nur einer dezidiert nationalen Politik, die gleichwohl in einem einzige Lande, eben der Sowjetunion, auf den Sozialismus bis hin zum Kommunismus ausgerichtet zu sein hatte, - so wohl die Empfindung des Pragmatikers - war die Handhabe gegeben, dem ganzen Volk das Bewusstsein der Existenznotwendigkeit eines unerhörten Wohlstands einzuprägen, und das, falls der Weltmarkt nicht zu beseitigen war, in möglichster Autarkie. Dieser Politik stand ihr Scheitern an die Stirn geschrieben. Das Mahnzeichen wurde lange übersehen, in aller Welt – von Anhängern wie auch von Feinden.
   In der äußersten Bedrängung durch den Faschismus hielt sich die Sowjetunion auf dem nationalen Wege, schöpfte aber die Motivation der Massen weiterhin aus der Zielsetzung des Sozialismus. Stalins Nachfolgern schien, dass im Gefolge des großen Sieges über den deutschen Faschismus der Sozialismus nun doch hatte erreicht werden können, und zwar gerade auf dem Wege des Selbstwerdens der Nation. Chrustschows Ausrufung des Kommunismus – ein weniges über ein Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg - als eines allein durch das sozialistische Lager erreichbaren Nahzieles, war implizit schon der Verzweiflungsakt der Setzung einer Illusion. Der Kalte Krieg enthielt von vorneherein in sich schon die Niederlage, und das war untergründig auch bewusst. Es war je länger je mehr nicht zu übersehen, dass, mit Marx gesprochen, nach der leitenden Zielstellung die Wirklichkeit eben nicht hindrängte. Die Folge war u.a. eine Erstarrung des offiziellen Denkens, eine Lähmung der wirtschaftlichen Aktivitäten, eine Lethargie des Volksbewusstseins. Anfang der 1990er Jahre kam das Ende, das merkwürdigerweise sowohl Ost wie West bis zuletzt nicht vorausgesehen hatten, von einigen Ausnahmen abgesehen. Aber es blieb die revolutionäre Tradition als ein großes Erbe erhalten, China hatte sie längst schon aufgegriffen. Rückwirkend bleibt für Russland immerhin die Aussicht, das in der mühevollen Emanzipation aus jahrhundertelanger sklavenähnlichen Erniedrigung errungene kollektive Selbstbewusstsein, ohne das jede Hoffnung auf Sozialismus vergeblich ist, könne bewahrt und auf nicht voraussagbaren Wegen weiter getrieben werden. 
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Das Vertrauen auf die Sowjetunion, das in Teilen der Studentenrebellion von 1968 noch einmal aufflammte, war schon Jahre davor auch in weiten Arbeiterkreisen erschüttert worden. Nachdem nun in Europa jegliche revolutionäre Glut sich als endgültig erkaltet erwies und auch aus den USA und der Dritten Welt keine Impulse entschlossen gesammelter Auflehnung mehr kamen, bereitete sich auf dem alten Kontinent eine Gestimmtheit aus, die in manchem an das dem Ersten Weltkrieg voraufgehende Fin de siècle denken lässt. Musil, in diese unsere Zeit versetzt, könnte auch jetzt seinen Roman schreiben. Wiederum ballt sich eine innere Wut zusammen, die seinerzeit in einen Krieg sich löste, der momentan als eine Erlösung empfunden wurde. Im Unterschied zu damals schreckt heute alle Welt vor einem Weltkrieg dieser Art zurück. Eine Anzahl zeitgemäßer Philosophen rät: Lasst ab von aller Gemeinsamkeit einer „großen Idee“, sucht euer kleines Glück, ein jeder das für ihn passende, und lasst im übrigen den lieben Gott einen guten Mann sein. Sogar ein Hans Magnus Enzensberger, der die Welt voll sinnloser Bürgerkriege sieht, weiß nichts anderes, als seinen Mitbürgern zu empfehlen, es dabei zu belassen, dass sie sich um die Kinder, die Nachbarn und sonst nichts, was über die „unmittelbare Umgebung“ (87) hinaus geht, kümmern, brennt es doch überall vor der eigenen Haustür (91). 
   An Kriegen, das ist wahr, hat es in der Welt bisher nicht gemangelt. Die Staaten des Westens immerhin hielten, wenn man vom Fall Kosovo absieht, in ihrer Beziehung zueinander damit an sich. Wenn aber in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg und in Vorbereitung auf ihn lauthals nach der Weltherrschaft gerufen wurde, so schwelt unter der Decke von Friedens- und Menschenrechtsbekundungen nun doch wieder eine Glut, nicht die einer Rebellion, sondern eher die eines neuen Größenwahns. Jedoch – und das ist das historisch Neue – nicht im Gegensatz zu anderen europäischen Nationen in Deutschland, sondern überall in Europa und im hoffnungsvollen Blick auf seine Union.  
   In der Lissabon-Strategie des Europäischen Rates vom Jahre 2000 platzte es heraus: Wirtschaftlich immerhin sind wir in der Welt die Größten oder werden es bald sein, wenigstens was den Markt betrifft. Zugestanden wird freilich, dass die USA die politisch-militärische Führung, die sie im Kalten Krieg selbstredend immer gehabt hatten, weiter innehaben. Hinsichtlich der politischen Zivilisation jedoch spielen sich Europäer gegenüber den unter Hunger und Elend leidenden Weltregionen nur zu gern in aller Aufdringlichkeit als Zuchtmeister im Sinne des abgewandelten Bibelspruches auf: Akzeptiert zuerst Freiheit und Menschenrechte made in Europa, alles andere wird euch hinzugegeben - wenn freilich auch nicht von uns. 
   Ironischerweise kam die Ermunterung, hier nicht allzu bescheiden zu bleiben, von ideologisch führenden Amerikanern. Sie wurde prompt auch von Europäern dankbar aufgenommen. Im  Jahre 2002, ein Jahr nach dem Choc von Nine/Eleven, verkündet der US-Amerikaner Charles Kupchan das Ende der globalen Führerschaft der USA und schreibt der EU eine zentripetale Kraft zu, mit der sie über ihre Grenzen hinaus nach Osteuropa, den Nahen Osten und Afrika drängen werde. Sein Landsmann Jeromy Rifkin sieht 2004 die Zukunft der Welt in ihrer „Europäisierung“. Dem amerikanischen Traum werde der europäische folgen. Europa könne zum „Lehrmeister der Welt“ werden(200). Ein Jahr später teilt der britische Autor Mark Leonhard mit, Europa werde die „dominierende politische Einflussgröße des 21. Jahrhunderts“ (8) sein, so dass wir mit ihm die „Geburt eines Neuen Europäischen Jahrhunderts erleben“ werden (176). Die Welt werde sich den europäischen Politikstil zu Eigen machen, daher komme es Europa zu, „eine Schablone für eine neue Weltordnung“ (153) zu entwerfen. 2007 kennt in Deutschland Alan Posener keine Grenzen mehr, nicht für Europa und nicht für seine Großmachtphantasie. Europa fordert er, müsse pausenlos expandieren, um ein kontinentales Imperium zu werden. Es müsse mit seiner imperialen Politik auch die Nachbarschaft europäisieren. Das Territorium des antiken Rom samt Byzanz müsse in seine „zivilisatorische Mission“ (122) einbegriffen sein. Als Vorbild gelten ihm die USA mit der Entgrenzungspolitik des new frontier (99), so dass auch die Europäer sagen dürfen: „the sky is the limit“(122).
   Alle die hier herangezogenen Bücher und noch einige mehr waren zumindest in Deutschland Bestseller, waren in den Buchhandlungen zum Teil haufenweise gestapelt. 2008 allerdings war der Spuk erst einmal vorbei. Deutlicher ist jedoch geworden, dass es sich da keineswegs nur um eine vorübergehende Attacke von Rechts gehandelt hat. Vielmehr hält es zur gleichen Zeit sogar ein Zygmunt Baumann, so europakritisch er sich sonst auch äußert, für selbstverständlich, dass Länder und Kulturen in der übrigen Welt„unsere Werte“ bedingungslos zu übernehmen haben (284 f.). Gar einem Jürgen Habermas verstand es sich seit je, dass die außerwestliche Welt sich dem Prozess der kapitalistischen Modernisierung, die für ihn mehr oder weniger mit Verwestlichung und in manchem speziell auch mit Europäisierung identisch ist, nicht werde verschließen können (Vgl.185). Er empfiehlt und müht sich selbst auch darum, diese Einsicht den Asiaten oder den arabischen Muslimen in einem „herrschaftsfreien Dialog“ einzuprägen.  
   Im Missbrauch der Menschenrechte für eine die Befindlichkeit anderer Völker ignorierende Kampagne zur unverzüglichen Installation der Demokratie, so wie „wir“ sie angeblich als einzig richtig erkannt haben, sind die Deutschen vornean. Mit Recht hat eine Chantal Mouffe gegen diese Anmaßung protestiert, allerdings in der Art, dass sie gleichzeitig auf der liberalen Demokratie als einer politischen Höchstform bestand, die man nicht unbedingt von Europa aus auch auf andere Weltregionen übertragen solle. Wenn Reinhard Miegel mit bedenkenswerten Argumenten den Westen zur Selbstbescheidung und Achtung vor den anderen mahnt, dann eben doch auch zu dem Zweck, dass „die Menschheit morgen will, was er ihr heute vorlebt“ (284)
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      Wie erwähnt, stand am Vorabend des Ersten Weltkriegs den Kriegsbestrebungen, verbunden mit einem bürgerlichen Pazifismus, eine mächtige Arbeiterbewegung gegenüber und hat den Kriegsausbruch doch nicht verhindern können, ist seiner Faszination zum großen Teil selbst auch verfallen. Heute haben Herrschende keine Gegenmacht von unten zu fürchten, planen auch keinen innereuropäischen Krieg, vielmehr finden sich, wenn wir Horkheimer und Adorno glauben wollen, nicht nur die Europäer, sondern alle Erdenbewohner in einer „verwalteten Welt“, die andere, wie Hardt und Negri, als eine Art anonymes „Empire“ ansehen, in das die ganze Menschheit vorerst willenlos eingefügt ist, allenfalls in schwacher Hoffnung und unreflektiert einem vulkanischen  Ausbruch von globalen Ausmaßen entgegen harrend. Wenn demgegenüber Sozialismus nach wie vor mehr sein soll als ein Traum, zu dem wir meinen demnächst erwachen zu können; und wenn er die „große Idee“ ist, die der gesamten Menschheit – und nicht weiter noch exklusiv Europa oder der Sowjetunion - als ihrem befugten Träger zukommt, dann wird sich auch zeigen lassen müssen, dass die Wirklichkeit selbst dahin drängt. Das tut sie denn auch. Nicht in der Form eines Gewaltaktes der Empörung, auf den Karl Marx im ersten Band des Kapitals setzt, wohl aber einer der Kapitalanalyse zugrunde liegenden, scheinbar paradoxen Einsicht gemäß auf dem langwierigen Wege einer Selbstzerstörung des Kapitalismus im Zuge seiner Vollendung. Eine Gesellschaftsformation,- heißt es sinngemäß in der  Zusammenfassung dessen, was wir heute historischen Materialismus nennen -  geht erst unter, wenn alle ihre Produktivkräfte entwickelt sind. Und zwar, so Marx weiter, kann das nur in der Art geschehen, dass sich noch im Schoße der alten Gesellschaft die materiellen Grundlagen für die nächsthöheren Produktionsverhältnisse ausbilden(MEW,9,13). Das eben erleben wir heute, soweit unser Blick nicht durch ein Verhaftet sein in dem getrübt ist, was man in Analogie zur bekannten „Deutschen“ als „Europäische Ideologie“ bezeichnen könnte. In einem Tsunamigleichen Sturm wirft die Globalisierung Elemente aus sich heraus, die nach der Theorie erst im erreichten Sozialismus möglich schienen, jetzt aber zu den genannten Voraussetzungen zu zählen sind. 
   Sozialismus ist nicht denkbar in nur einem Lande, das lehrte nun auch die geschichtliche Erfahrung, sondern nur als Weltgesellschaft. Die aber ist dabei, sich zu formieren. Ferner bedarf der Sozialismus einer weitgehenden Automation der Arbeitsgänge in der materiellen Produktion und weit darüber hinaus, um sowohl den Reichtum wie die freie Zeit ermöglichen zu können, ohne die sich nur wiederholen würde, was Marx mit so drastischen Worten bezeichnet, dass man sie als wohlerzogener Bürger kaum zitieren kann. Brauchen wir also Wachstum? Ja, mehr und mehr, allerdings von Gebrauchswerten und in gehöriger Verteilung. Und die dichteste Vernetzung durch High Tec – schon ein Element der kommenden neuen Produktionsverhältnisse? Keine Frage. Der Kapitalismus kann all das nicht entbehren. Indem er es aber in seiner ihm eigenen menschenfeindlichen Form in sich integriert, gräbt er sich zwar nicht sein eigenes Grab, er bricht nicht zusammen, aber er fördert unwillentlich eine ihm entgegenstehende Wirklichkeit, die das, was am Ende von ihm übrigbleibt und sich womöglich mit brutalster Gewalt und Unterdrückung existent zu halten sucht, von sich abzustoßen vermag. Das ist ein Prozess, der nicht aufzuhalten ist. Wie er aber verläuft, wieweit seine „Kollateralschäden“, die im Extremfall sogar das Ende der Menschheit bedeuten könnten, sich auswirken, das allerdings hängt von der Kraft jener ab, die, um sich voll als Menschen fühlen zu dürfen, kapitalistischen Raubzügen nicht mehr ausgesetzt sein dürfen. 
   Der Weg dahin wird sich noch lange hinziehen, und viele Etappen durchlaufen müssen und wird nicht einmal den einst schon als unmittelbar vollziehbar erscheinenden Umschwung sich als Ziel setzen dürfen. Die neue Gesellschaftsformation, heiße sie nun Sozialismus oder Kommunismus oder „Reich der Freiheit“ oder wie sonst, steht nicht auf der Tagesordnung der Geschichte. Angestrebt werden kann allenfalls eine die westliche Liberalität übersteigende Weltdemokratie als Basis gemeinsamen Handels der Menschheit.  Ein noch sehr fernes Ziel, aber keine bloße Utopie, sondern eine rational begründbare Perspektive. Ihr wird, wenn nicht alles täuscht,  die weitere Ausbildung von Großräumen vorausgehen, die auf dem Weltmarkt aufeinander stoßen. Zu ihnen wird Europa, dieser auf dem Globus kaum wahrnehmbare Zipfel Asiens, aller Vermutung nach nicht gehören. Gerade deshalb aber hat ihnen gegenüber  dieser altersschwache Kontinent um seiner selbst willen ein ganz spezifisches Interesse an der politischen Formierung der die Konflikte der Machtgiganten überwindenden  Weltgesellschaft – von deren Gelingen abhängt, ob ihm das Schicksal der alten Griechen erspart bleibt.   Eine Weltrepublik wird sich nach dem Muster einer bloß liberalen Postdemokratie westlichen Zuschnitts nicht bilden können, sondern nur aufgrund der Partizipation aller Weltbürger und sie wird statt der konkurrierenden Großräume alle Weltregionen als ihre Provinzen haben dürfen, die nach ihren Kapazitäten und auf ihre Weise zur globalen Gemeinsamkeit beitragen. Europa wird da zwar nur eine kleine Provinz sein, aber, so steht zu hoffen - mehr noch als die gern von Ausländern als Vorbild empfohlene Schweiz - mit der Befähigung zu einzigartigen Leistungen, von denen diese Region jetzt schon einige einbringt.
    So lang und mühsam der längst eröffnete Weg sich auch noch hinziehen mag, er steht dennoch von vorneherein unter der in Musils Roman vergeblich gesuchten „großen Idee“, die in der napoleonischen Schicksalsstunde aufkam, deren Verwirklichung nunmehr allerdings nicht mehr sozusagen Chefsache der Europäer sein kann. Wohl aber kommt es der europäischen Politik zu, wofern sie von allem Größenwahn ablässt, sich als ein ehrlicher Makler zu betätigen, als der ein Bismarck einst innereuropäisch durchaus sich Verdienste erworben hat. Sie hat keineswegs noch das Potential, ein ihr eigenes Proletariat als Avantgarde der Revolution hervorzubringen.  Ihren Bürgern steht jedoch offen, sich möglichst sämtlich an der Herausbildung einer alle nationalen Grenzen überschreitenden Bewegung zu beteiligen, die eine erste große Etappe auf ihrem Wege erreicht hätte, wenn sie den kapitalistisch Agierenden in der ganzen Welt einen nunmehr globalen Sozialstaat oder auch Staatenverbund abtrotzen könnte. 

Literatur
- Zygmunt Baumann, Wie können europäische Ideen wieder globale Geltung erlangen?, in: Leben in 
  der flüchtigen Moderne, Frankf.a.M. 2007 
- H.M. Enzensberger, Aussichten auf den Bürgerkrieg, 4.Aufl., Frankf.a.M. 1994
- Jürgen Habermas, Zur Legitimation durch Menschenrechte, in: Die postnationale Konstellation,    
  Frankf.a.M. 1998 
- Adolf Hitler, Mein Kampf ,661-665. Aufl., München 1942
- Henry Kissinger u.a., Wird China das 21. Jahrhundert beherrschen?, München 2012
 Charles Kupchan, Die europäische Herausforderung. Vom Ende der Vorherrschaft Amerikas,1.Aufl.  
  New York 2002 (dt.2003)
- Mark Leonhard, Warum Europa die Zukunft gehört, London 2005 (dt.München 2006) 
- Meinhard Miegel, Epochenwende. Gewinnt der Westen die Zukunft?, Berlin 2005 
- Chantal Mouffe, Über das Politische, Frankf.a.M 2007
- Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Hamburg 1958
- Alan Posener, Imperium der Zukunft. Warum Europa Weltmacht werden muss, München 2007
- Jeremy Rifkin, Der europäische Traum, Frankf.a.M 2004


 

21. März 2017