Endlich Ferien

Warum wir die Schule abschaffen müssen

Die Ferien bieten endlich reichlich Freizeit um sich mit den ernsthaften Dingen des Lebens auseinanderzusetzen. Anregungen dazu bietet Ivan Ilić mit seinen Vorschlägen zur Entschulung der Gesellschaft.

 

Viele Schüler, zumal wenn sie arm sind, wissen intuitiv, was die Schulen mit ihnen anstellen. Sie werden geschult, Verfahren und Inhalt miteinander zu verwechseln. Wird dieser Unterschied erst einmal verwischt, so gilt eine neue Logik: je mehr Behandlung, desto besser die Ergebnisse; oder auch: Eskalation führt zum Erfolg. Dergestalt wird der Schüler dazu «geschult», Lehren und Lernen miteinander zu verwechseln, ebenso das Versetztwerden mit Bildung, ein Zeugnis mit Sachkunde und Geläufigkeit mit der Fähigkeit, etwas Neues zu sagen. Seine Vorstellung wird dazu «geschult», eine Dienstleistung anstelle von Werten hinzunehmen. Ärztliche Behandlung wird irrigerweise für Gesundheitspflege gehalten, Sozialarbeit für eine Verbesserung des Gemeinschaftslebens, Polizeischutz für Geborgenheit, militärisches Gleichgewicht für nationale Sicherheit und Pöstchenjägerei für produktive Arbeit. Gesundheit, Lefnen, Würde, Unabhängigkeit und schöpferisches Bemühen gelten allenfalls als Leistungen der Institutionen, die angeblich diesen Zwecken dienen. Deren Verbesserung aber macht man davon abhängig, daß man der Leitung von Krankenhäusern, Schulen und andern derartigen Einrichtungen mehr Mittel zur Verfügung stellt.   

 

In diesen Aufsätzen will ich zeigen, daß die Institutionalisierung von Werten unweigerlich zu Umweltverschmutzung, sozialer Polarisierung und psychologischer Impotenz führt: drei Dimensionen eines Ablaufs von weltweitem Verfall und modernisiertem Elend. Ich möchte darlegen, wie dieser Verfallsprozeß beschleunigt wird, wenn immaterielle Bedürfnisse in Nachfrage nach Waren verwandelt werden; wenn Gesundheit, Bildung, persönliche Beweglichkeit, Wohlfahrt oder seelische Heilung als das Ergebnis von Dienstleistungen oder «Behandlung» verstanden werden. Ich tue das, weil ich glaube, daß der größte Teil der heutigen Zukunftsforschung dazu angetan ist, eine weitere Institutionalisierung von Werten zu empfehlen, und daß wir die Bedingungen festlegen müssen, die genau das Gegenteil ermöglichen würden. Wir brauchen Untersuchungen darüber, ob es möglich ist, die Technologie zu benutzen, um Einrichtungen zu schaffen, die dem persönlichen, schöpferischen und selbständigen Zusammenwirken und der Entstehung von Werten dienen, die im wesentlichen nicht von Technokraten beherrscht werden können.

 

Weiter unten heißt es:

 

Die neue Macht des Menschen, den Nabel der Erde zu durchschneiden, ist eine ständige Mahnung, daß unsere Institutionen sich nicht nur ihre Zwecke schaffen, sondern auch die Macht haben, mit sich selbst und uns Schluß zu machen. Wie absurd moderne Institutionen sind, zeigt sich deutlich am Beispiel des Militärs. Modeme Waffen können Freiheit, Zivilisation und Leben nur verteidigen,·indem sie diese vernichten. In der Sprache des Militärs bedeutet Sicherheit die Fähigkeit, die Erde aus dem Wege zu räumen.

Nicht weniger offenkundig ist die Absurdität der nichtmilitärischen Institutionen. Sie haben keinen Knopf, der ihre zerstörende Macht auslöst, aber sie brauchen auch keinen Knopf. Sie haben den Deckel der Welt bereits in ihrem Griff. Sie schaffen Bedürfnisse schneller, als sie Befriedigung schaffen können; indem sie versuchen, die von ihnen erzeugten Bedürfnisse zu befriedigen, verbrauchen sie die Erde. Das gilt für Landwirtschaft und Industrie so gut wie für Medizin und Bildungswesen. Die moderne Landwirtschaft vergiftet und erschöpft den Boden. Die «grüne Revolution» kann mittels neuen Saatgutes den Ertrag eines Hektars verdreifachen - aber nur bei verhältnismäßig noch stärkerem Einsatz von Kunstdünger, Insektenvertilgern, Wasser und Energie. Die Herstellung dieser wie aller anderen Waren verschmutzt die Weltmeere und die Atmosphäre und verdirbt unersetzliche Bodenschätze. Wenn sich die Verbrennungsmotoren im jetzigen Tempo weiter vermehren, werden wir den Sauerstoff der Atmosphäre bald schneller verbrauchen, als er ersetzt werden kann. Wir haben keinen Grund anzunehmen, daß Spaltung oder Schmelzung mit geringeren Risiken verbunden wäre als die Verbrennung. Medizinmänner treten an die Stelle von Hebammen und ve.rsprechen, aus dem Menschen etwas anderes zu machen: genetisch geplant, pharmakologisch gemildert und imstande, verlängerte Krankheiten zu ertragen. Das heutige Ideal ist eine panhygienische Welt: eine Welt, in der alle Berührungen zwisschen Menschen sowie zwischen Menschen und ihrer Umwelt das Ergebnis von Voraussicht und Manipulation sind. Die Schule ist das geplante Verfahren geworden, das den Menschen für eine geplante Welt zurechtschleift: das wichtigste Werkzeug, um den Menschen in der Falle· des Menschen zu fangen. Angeblich soll sie den Menschen auf ein Niveau bringen, das ausreicht, damit er in diesem Weltspiel eine Rolle spielen kann. Unerbittlich kultivieren, behandeln, produzieren und schulen wir die Welt aus der Welt.

Die Institution des Militärs ist ganz offensichtlich absurd. Die Absurdität der nichtmilitärischen Institutionen ist schwieriger zu bewältigen. Sie ist sogar noch erschreckender, weil sie so unerbittlich vonstatten geht. Wir wissen, auf welchen Knopf man nicht drücken darf, um eine atomare Katastrophe zu vermeiden. Kein Knopf verhindert eine ökologische Apokalypse.

 

 

Entschuldung der Gesellschaft

Ivan Illich
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Ivan Illich
pdf, 10.1M, 09-07-19

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Selbstbegrenzung

Eine politische Kritik von Ivan Ilić
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16. Juli 2019