Diese Sauwirtschaft braucht erst gar nicht mehr hochgefahren zu werden

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„Im Grunde genommen beschreibt das Außer-Kontrolle-Geraten des Individualverkehrs nämlich unser aller größtes Problem, unsere Krise, welche mich freilich für den Rest meines Lebens begleiten wird: Die außer Kontrolle geratene Klimakrise.“ — Martin Just (Foto: Nabeel Syed, unsplash)

Nein, meine Weltanschauung ist nicht verkehrt. Eigentlich war sie das auch nie. Weit könnte ich jetzt ausholen, wie sehr ich als Kind in den 1980ern bereits das Nervenkostüm der Erwachsenen erprobte, wenn es darum ging, Umwelt- und Klimaschutz der Tat einzumahnen. Was bringt es, wenn ich davon erzähle, dass ich selbst in meinen 30ern noch bass erstaunt und total glücklich in einem versifften Lokal in Wien eine Runde nach der Anderen für einen Rudel besoffener Altlinke ausgab, weil sie Helden meiner Kindheit waren: Wackersdorf-Besetzer.

Anschaulicher und vielleicht verständlicher ist es, sich zum Beispiel eine Alltagsgeschichte von der leider bereits verstorbenen Elisabeth T. Spira anzusehen: Nämlich jene Version, die den Wiener Gürtel abhandelt. Das Gejammere, dass Wien nicht mehr Wien ist, das kann man sich getrost ersparen. Während die Leute im Film ebendies aus der Perspektive 1991 zu „früher“ sudern, klopften gleich drunter in den Youtube-Kommentaren einige siebengescheite Poster_innen praktisch den selben Wortlaut in die Tastatur – einzig aus zeitgenössischer Perspektive und mit Blick auf 1991, wo die Welt noch in Ordnung gewesen sein soll. Die eigentlichen „ewigen Wiener Wahrheiten“ erkennen viele leider ohnehin nicht.

Aber besonders ein Detail fällt mir auf: Die am Gürtel eingesessene Generation 60plus aus diesem Spira-Film, die regt sich furchtbar über den Gestank der Autos auf, und dass das alles früher besser gewesen sei. Spira spielte dazu alte verwelkte Bilder ein, wo am Gürtel zwischen Straßenbahnen das Bürgertum spazierte und und eigentlich keine Spur von einem Proletariat zu sehen war. Diese Generation hatte noch die Vergleichswerte zu „früher“. Für meine Generation, heute in den 40ern, war der Siegeszug des Automobils und damit des Individualverkehrs bereits vollzogen, es schien Alternativlos; weil: die Autos waren ja schon „immer“ da.

Im Grunde genommen beschreibt dieses außer-Kontrolle-geraten des Individualverkehrs nämlich unser aller größtes Problem, unsere Krise, welche mich freilich für den Rest meines Lebens begleiten wird: Die außer Kontrolle geratene Klimakrise. Hier schließt sich der Kreis: Als ich ein Kind gewesen bin lautete der Begriff für diesen Vorgang „Treibhauseffekt“, heute heißt es „global warming“ bzw. schon „global heating“ – und wie es in zwei Jahrzehnten heißen wird, diese Vorstellung macht mich eigentlich unsäglich traurig.

Besonders in den letzten Jahren ist so ziemlich alles außer Kontrolle geraten, was besser nicht hätte außer Kontrolle geraten hätte sollen.

Ob ein Nichtzusammenbruch des Realsozialismus sowjetischer Prägung auf diese Krise positiv, also mildernd gewirkt hätte, wage ich zu bezweifeln. Die Ende der Geschichte – Party, die der im Kalten Krieg siegreiche Liberalismus seitdem abfeiert war aber jedenfalls ein Katalysator. De facto fehlte eine alternative Weltanschauung. Diese Alternative fehlt so sehr, dass der Liberalismus eine Alternative aus sich selbst heraus geriert, die keine Alternative ist: Nämlich jene der alternativen Wahrheiten.

Und diese Party wurde eigentlich erst durch den Ausbruch der Pandemie, ausgelöst durch einen neuen Coronavirus, zumindest unterbrochen. Gestört wurden diese Feierlichkeiten, global betrachtet, immer wieder: Sei es durch die EZLN in Mexiko am 1994, sei es durch den Linksruck in Südamerika in den frühen 2000ern. Nachhaltig war wenig, und zu holen war für die Linke global (zu) wenig.

Diese Pandemie wird die Welt verändern, das steht fest. In welche Richtung, das weiß ich heute nicht. Wahrscheinlich wird es kontinentale, regionale und lokale Unterschiede geben. Sicher bin ich mir, dass wir in Europa, was die Überwindung der Pandemie betrifft, jedenfalls auf der (bestmöglichen) Butterseite landen werden. Gesellschaftlichspolitisch bin ich mir da aber weit weniger optimistisch. Nach Veröffentlichung der Strache-Kurz-SMSen fühle ich heute übrigens das erste mal so etwas wie Mitleid mit Kurz. Ich verstehe, das er und sein Gefolge diesen Schwachsinn, den sie predigen, offentlichtlich wirklich ernst nehmen und glauben und sie kraft ihrer Ideologie tatsächlich keine wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Alternativen denken können. Heißt aber auch, und daran ändert mein Mitleid nichts: Sie können es nicht, und sie werden es auch nicht können.

Sie wollen eine Wirtschaft und eine Wirtschaftsform wieder „hochfahren“, welche die gesamte Menschheit an den Rand der eigenen Existenz bringt, und die wohl auch ziemlich sicher auch diese Pandemie überhaupt und auch in dieser Wucht ausgelöst hat.
Diese Sauwirtschaft braucht erst gar nicht mehr „hochgefahren“ zu werden.

Hier ist aber leider zu bemerken, dass die Eckpfeiler dieser Sauwirtschaft bereits wieder fundamental eingeschlagen sind. Die Pandemie selbst wird sie nicht verändern. Dafür braucht es gesellschaftlichen Widerstand und Aufbruch. Überall – in jedem Grätzel und auf allen Kontinenten. Viele Organisationsformen dieses Widerstands existieren bereits, viele müssen auch erst gefunden werden.

Mir ist aufgefallen, dass ich 20 Jahre immer wieder Dystopisch argumentiert habe, und dass diese Dystopien leider immer in irgendeiner Form wahr geworden sind. Davon habe die Schnauze voll. Das zuviel an Dystopie will ich mit Utopie, Lebens- und Gestaltungswillen beantworten. Es geht heute darum, größere und ganz große Kriege zu verhindern, es geht darum zu zeigen, WIE diese eine andere schöne Welt aussehen soll.

Übrigens bin ich der Meinung, dass man mit Nazis nicht gemeinsame Sache machen kann, soll und darf. Und so notwendig es ist, den Klassengegner zu bekämpfen, so notwendig ist es, Diskussionen und Meinungsstreit in der Linken und auch fortschrittlichen Menschen gegenüber inhaltlich manchmal hart, aber stilistisch immer solidarisch zu halten. Das Ziel muss das große Ganze, also ein schönes Leben für Alle sein. Die Wege dorthin, die Meinungen und Ansichten, die können und müssen auch in der Linken unterschiedlich sein. Diese Akzeptanz unserer Unterschiede, das ist, so meine ich, der Schlüssel zum Gelingen einer so notwendigen herzustellenden Handlungsfähigkeit einer Linken, die eine systemüberwindende Perspektive aufzeigen will zugunsten einer klassenlosen Gesellschaft.

Mehr fällt mir zum Pandemiejubiläum gerade nicht ein.

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Martin Just, geboren und sozialisiert im südlichen NÖ und Wien, lebt heute als freier Autor und Grenzgänger in Bratislava.

11. März 2021