Die Position der Grünen hat mehr Gewicht als sie selbst zugeben

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Die Position der Grünen hat mehr Gewicht als sie selbst zugeben und wahrnehmen wollen. Es ist nicht nötig, die Grünen für alles anzugreifen, was schiefläuft. Was aber nötig ist, ist eine realistische Evaluierung ihrer Spielräume.

Würden sie tatsächlich machtpolitisch im Sinne der Sache und nicht im Sinne der Ämter agieren, würden sie ihr politisches Kapital einsetzen. Das Prinzip lautet geben und nehmen. Das Resultat muss Linken nicht gefallen – schließlich regiert hier keine im Kern linke Partei.

Die ÖVP braucht die Grünen für ihre Projekte. Sie hätte vor einem halben Jahr keine Neuwahlen losgetreten oder die FPÖ nach dem Ibiza-Skandal (dessentwegen es ja Neuwahlen gegeben hat) wieder in die Regierung geholt, wenn die Grünen mehr gefordert hätten. Genauso wenig wollen sie sich das mitten in der Pandemie leisten. Die Umfragewerte von Kurz sind nicht optimal. Zwar gibt es noch immer große Zustimmung zu Kurz und der ÖVP, aber es wird auch für manche ÖVP-WählerInnen sichtbar, dass Kurz mehr Strahlemann als Krisenmanager ist. Rendi-Wagner steht recht gut da. Der grüne Gesundheitsminister auch. Die Wahrnehmung von Linken verzerrt das etwas.

Das Märchen davon, dass es für nichts Mehrheiten gibt und eine FPÖ-Beteiligung droht, ist für sich genommen falsch – und selbst dort, wo die ÖVP blockiert, gäbe es ein bis zwei Varianten damit umzugehen, die noch nichts mit Koalition aufkündigen zu tun hätten.

Entweder man mobilisiert ernstzunehmend gegen etwas (medial, baut Kampagnen-Netzwerke, betreibt Kampagnen jenseits der eigenen Blase und baut auch andere ein) und ist nicht nur Fallbezogen (Abschiebung) „traurig“. Man kann auch durch dicke Bretter bohren, die ÖVP von unten (Gemeinden) angreifen und/oder – wenn man bei diesem Kampf nicht weiterkommt – einfach klarmachen, dass man weiter versuchen wird, der ÖVP etwas abzuringen. Das tun die Grünen aber nicht, sondern erklären nur, dass nichts ginge. Würde man deutlich machen, was man der ÖVP abringen möchte, sehe es auch schon anders aus. Wann haben denn die Grünen, um nur ein Beispiel zu nennen, gefordert, dass alle die hier geboren sind, die Staatsbürgerschaft automatisch bekommen sollen?


Stand der Dinge

Es wäre besser gewesen, die Grünen hätten eine ÖVP-Minderheitsregierung mit bestimmten Auflagen unterstützt. Zwei bis drei gemeinsame Gesetzesinitiativen und die Zustimmung zu einem gemeinsam verhandelten Budget. So hätte man sich nicht als Oppositionskraft mundtot machen lassen können. Das wäre im Übrigen auch jetzt noch die Option – oder jetzt sogar mehr als vor der Pandemie. Anders gesagt: anstatt einfach mit Neuwahlen zu drohen, könnten sie Grünen von den Ämtern zurücktreten und die Bedingungen für eine Minderheiten-Regierung definieren.

Die Bilanz von einem Jahr Schwarz-Grün ist, dass die Grünen sich als Opposition neutralisiert haben und in der Regierung selbst unterhalb ihres geringen Potentials bleiben.

Die Grünen müssen entscheiden, ob sie für fortschrittliche Politik von Nutzen sein wollen und können. Und wenn sie das nicht können, ist das Herumjammern, dass sie die falsche Adresse für Kritik wären, der Gipfel der Peinlichkeit. Ja, die ÖVP ist die Staatspartei schlechthin, das ändert aber nichts daran, dass die Grünen mehr im Weg sind, als dass sie menschenwürdiger Politik den Weg bereiten.

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Cengiz Kulaç war Vorsitzender der ÖH Uni Graz (2009–2011) und Bundessprecher der Jungen Grünen (2012–2015). Heute ist er aufmerksamer aber parteiloser Beobachter der politischen Landschaft. 

Veröffentlicht: 29. Januar 2021