Die faschistischen Ideologien sind vergesellschaftet

Die Einzeltäter-These bei rassistisch motiviertem Rechtsterrorismus ist nicht nur dazu da, diesen runter zu spielen, um ja kein politisches Problem für die selbsternannte „Mitte“ und den organisierten Rechtsextremismus daraus zu machen. Tatsächlich ist es praktischer für erstere als für letztere. Für erstere ist es eine Form von Kontrolle über den Status Quo, wie Gesellschaft verstanden wird. Für zweitere ist es ein Argumentationsnotstand.

Die These drückt auch das vorherrschende neoliberale Weltbild aus: so etwas wie Gesellschaft gibt es nicht. Der Begriff der Gesellschaft in diesem Sinne ist reduziert auf die Summe von Individuen. Ihre Beziehungen zueinander sind „Funktionen“, die eines möglichst geringen Maßes an Verwaltung bedürfen. Ideologie gäbe es nicht mehr – und wenn Ideologien tatsächlich einmal vorkommen sollten, dann sind sie Ausdruck von gemäßigten bis rabiaten Wahnvorstellungen. Wenn es sich um jihadistischen Rechtsterrorismus handelt, dann folgt hingegen eine Debatte über kollektive Zuschreibungen.

Das ist aber nur die Kehrseite der Medaille. Lange und breite Abhandlungen und intellektuelle Widerstreitigkeiten, ob es nun die gesamten islamischen Gesellschaften, Muslime als „Ethnie“, oder einzelne politische Strömungen, wenngleich mächtig, sind, dringen selbst in antirassische Diskurse vor und werden damit eingekauft – der Widerstreit selbst, egal wie richtig oder falsch Positionen darin sind.

Selbstverantwortung gilt im Liberalismus und Neoliberalismus und seinen konservativen Brüdern und Schwestern beim Vertrauten und Eigenen für einen Selbst. Beim Fremden und Unvertrauten nimmt das Kollektiv die Rolle des Einzelnen ein. Überhaupt handelt es sich dort nur mehr um ungebildete, unaufgeklärte barbarische Einzelwesen – zusammengefasst zu einem Ganzen –, denen es an Individualität mangelt. Übrigens, im Kern ist das das Menschenbild eines Sklavenhalters. Das Recht eine Person zu sein als solches gibt es nicht. Die Sippenhaft, die man als feudales Relikt behandelt, wendet man auf das Fremde an.

In der Kritik an diesen Ansichten versteift man sich allerdings zu sehr darauf, dass es sich um Netzwerke und Organisationen handelt und gibt dem implizit noch eine verschwörungtheoretische Note. Ziel der jeweiligen Spindokotoren politischer Akteure, diverser AlphajournalistInnen und Co. ist es freilich, die jeweiligen Communities oder politischen Organisationen verantwortlich zu machen. Bei islamistischem Terror werden muslimische Organisationen in die Pflicht genommen: Sie müssten sich distanzieren. Martin Sellner, Identitäre, erhält vom Christchurch-Attentäter eine Spende – Case closed.
Braucht es wirklich einen Nachweis, dass es ein organisierter Täter war? Und sind Kontakte oder ideologischer Austausch schon politische Organisierung? Was, wenn es doch ein psychisch kranker Gewalttäter war, hat das dann gar nichts mit Gesellschaft, Ideologie und Politik zu tun?

Der Punkt ist doch, dass es im gegenwärtigen, digitalen Kapitalismus immer weniger und weniger Organisation benötigt. Organisation benötigte es freilich, um ihn zu überwinden.

Die meisten Terroristen von Bataclan bis Halle oder aktuell Hanau stehen zumindest indirekt über Traditionsmedien und soziale Medien in Kontakt miteinander bzw. politischen AkteurInnen oder zumindest deren Ideologien, die die Motive für ihre mörderische Gewalt bieten. Sowohl über den europäischen Traditionsrechtsextremismus, als auch über Jihadismus kann man allerdings heute folgendes sagen: Es benötigt keine große diffizile und durchstrukturierte Planung und Organisation für diese Taten mehr. Diese faschistischen Ideologien sind vergesellschaftet, das heißt es handelt sich nicht mehr nur um paramilitärische Flügel von politischen Parteien, staatlichen Organisationen oder anderen formalen Organisationen, die ihre Mitglieder streng ideologisch ausbilden um standhaft zu sein. Die Propagandisten des sogenannten postideologischen Zeitalters, aka „Ende der Geschichte“, haben ein wenig Recht: Ideologie gibt es heute nicht mehr so wie man den Begriff gewohnt war, denn Ideologie ist heute gesellschaftlich nicht politisch, oder anders gesagt implizit, nicht explizit.
Während in den 70er Jahren noch Geheimdienste mit Rechtsextremen Terror planten, sich vermeintliche Linke von nationalen Befreiungsbewegungen in Guerilla-Taktiken ausbilden ließen, um Anschläge zu verüben, oder auch noch 9/11 von Al-Qaida organisiert war, kann man das von gegenwärtigem Terror kaum mehr sagen. Zwar gibt es große Identifikationspunkte, aber eine Befehlskette fehlt.

In Bezug auf den Nationalsozialismus gibt es die Diskussion, ob es zum Führerbefehl, den Holocaust durchzuführen, kam oder nicht. Darüber hinaus wird diskutiert, ob die Wannseekonferenz die Initiative setzte. In beiden Fällen kam man überwiegend ungeachtet potentieller Dokumente zur Ansicht, dass es sich um eine Formalisierung handelte, aber bereits alles im Gang war. Wie immer, wenn es um den NS geht, sollte man betonen, dass es sich nicht um einen Vergleich handelt, zumindest nicht in den Dimensionen. Für den Holocaust bedurfte es durchaus eines hohen Organisationsgrades. Im Kern brauchte es aber die Masse als TäterInnen, sowie bürokratische Organisation und nicht alleine politische Führer.
Doch auch der Nationalsozialismus war leider von dieser Welt. Und dessen Voraussetzungen, also wie die moderne Gesellschaft eingerichtet ist, sind in Keimzellen vielerorts zu finden.

In der Weltgesellschaft nach 1945 geht es also mehr und mehr in Fragen des rechten Terrorismus und man sollte dazu geneigt sein, die europäischen Faschismen, den islamistischen, hinduistischen und derzeit eher marginalen ostasiatischen begrifflich auf einen Nenner zu bringen, auch wenn man die politische Bedeutung differenziert, diese als gesellschaftliches Problem – unter Berücksichtigung der Tiefe des Begriffs Gesellschaft – zu sehen und vor allem die Verantwortung in den Vermittelnden festmachen, insbesondere an jenen selbsternannten moderaten, „Mitte-Rechts“-VertreterInnen, die die Sprache der Rechtsextremen annehmen, aber auch an jenen, die einen Diskurs über Mehrheits- und Minderheitsidentitäten ohne jede Bezugnahme auf soziale Verhältnisse, aka Kapitalismus, führen.

Und dafür ist es völlig unerheblich, ob es ein Einzeltäter war.

Wer sich erstens rassistische Informationen aus dem Internet zusammenschustern kann, kann dasselbe dort auch über Unterdrückung und Ausbeutung besorgen. Die Schwäche der Linken ist keine Rechtfertigung für Gewalt und Menschenverachtung. Nur weil man zweitens für die eigenen Taten verantwortlich ist, ist man noch lange kein Einzeltäter. Man ist Träger einer Ideologie. Drittens: Die Ideologen in den politischen Zentralen mögen zwar die Gewalt nicht, sie planen sie auch nicht selber, doch mitunter ist sie ihnen recht.
Sie nehmen sie nicht nur in Kauf durch ihre Propaganda, sie machen sie zum Teil in ihrer Propaganda. Taktisch kann das in die Hose gehen, aber es bietet ihnen auch das Potential, die Gesellschaft als Ganzes so lang zu zermürben und kneten, bis sie die Kräfteverhältnisse zu ihren Gunsten verschieben können – oder Step by Step ihre kleinen und großen Interessen verwirklichen können.

Sie müssen in die Pflicht genommen werden.
 

Cengiz Kulaç war Vorsitzender der ÖH Uni Graz (2009–2011) und Bundessprecher der Jungen Grünen (2012–2015). Heute ist der Grazer aufmerksamer aber parteiloser Beobachter der politischen Landschaft. 

Veröffentlicht: 21. Februar 2020