Die Entzauberung der Welt

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Michael Wengraf: Institutionalisierung der Vernunft. Zur Genese der Europäischen Universitäten, Mangroven Verlag, Kassel 2019, ISBN: 978-394694-614-4 (486 Seiten, 27 Euro).

Untersuchungen, die sich mit dem Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus beschäftigen, insbesondere ideengeschichtliche, sind im marxistischen Rahmen dünn gesät. Es gibt dazu rare Bemerkungen von Marx und Engels, einige Texte von Ernst Bloch und Hermann Ley – bzw. Leo Koflers „Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft“. Maurice Dobb und Paul Sweezy trugen die Auseinandersetzung aus, ob der Verfall des Feudalismus das Resultat seiner internen ökonomischen Widersprüche (Dobb) war oder ihn externe Faktoren wie der Aufschwung des Handels (Sweezy) bedingten. Nun erschien wieder eine Auseinandersetzung auf historisch-materialistischem Boden zu diesem Thema: Michael Wengraf veröffentlichte sie im Kasseler Mangroven Verlag unter dem Titel „Institutionalisierung der Vernunft“.

Das Buch beschäftigt sich ebenso mit der Emanzipation einer wesenhaft bürgerlichen Rationalität wie mit der Synthese, die diese mit dem herrschenden christlichen Dogma einging; ja eingehen musste. Es geht in „Institutionalisierung der Vernunft“ auch und vor allem um einen bestimmten Blick auf die Entstehungs- und frühe Entwicklungsgeschichte der europäischen Universitäten. Die spezielle Perspektive der Betrachtung, die der Autor wählte, ergibt sich aus der Zusammenschau von Genese der Universität und Befestigung des genuin bürgerlichen Vernunft-Paradigmas. Fazit: Europa ist die Wiege einer Rationalitätskultur, die heute die Welt als spezielle Machtpraxis beherrscht.

Der Übergang von der antiken Produktionsweise zum Feudalismus vollzog sich über weite Zeiträume und disparate Entwicklungsverläufe, sodass er aus Perspektive des historischen Materialismus zwar prinzipiell, aber kaum im Sinne eines präzisen zeitlichen Rahmens und lokalisierbaren Ortes dargelegt werden kann. Der Formationswechsel vom Feudalismus zum Kapitalismus ist hingegen gerade deswegen von Interesse, weil er anhand ansprechender Quellenlage rekonstruiert werden kann. Für das Verständnis der Entstehungsgeschichte des europäischen „Sonderwegs“ und damit der kapitalistischen Produktionsverhältnisse samt kolonialer Expansion ist seine Analyse unverzichtbar. Die „Institutionalisierung der Vernunft“ versucht das und ist deshalb auch und vor allem ein formationsgeschichtlich geprägtes Werk.

Begleitet wurde der Verfall des Feudalismus vom Aufstieg des städtischen Bürgertums samt allmählich anders werdender Produktionsbedingungen. Ein wichtiger Aspekt dieser sich verändernden Welt ist ein neues, mehr zweckrationales Denken, das den engeren Gegenstand des Buches darstellt. Die These: Eine dezidiert bürgerliche Rationalität wird selbst zur ökonomischen Produktivkraft und wirkt als effizientes militärisches oder politisches Instrument. Diese europäisch-bürgerliche Vernunft ist Voraussetzung, so Michael Wengraf, für ein permanentes Fortschreiten von okzidentaler Expansion und Kolonialismus. Es handelt sich um eine Bewegung, in der die Rationalität als Machtpraxis selbst breit ausfloss und die Welt in Form einer allgemein gültigen Prämisse überflutete. Die europäische Universität war aber jene unerlässliche Rahmen, in dem die Vernunft gemäß den gesellschaftlichen Erfordernissen, passend modelliert wurde.

Es geht in „Institutionalisierung der Vernunft“ in erster Linie um die wissenschaftliche Rationalität, die nur Bestandteil einer umfassenden ist. Man findet Rationalität ebenso in anderen Bereichen wie der Technik, der materiellen Produktion, dem Recht, der Lebensführung oder Religion. Ihre wahre Bedeutung erlangen diese einzelnen Elemente erst in ihrem Zusammenwirken. Daraus ergibt sich in Europa ein rationaler Prozess, der an seinem Ende zu einer Totalität bürgerlich-kapitalistischer Verhältnisse führt. Es etabliert sich eine speziell bürgerliche Rationalität. Diese ist freilich nur eine konkrete von verschiedenen möglichen, die allesamt ihre Basis in einer universalen Vernunftfähigkeit des Menschen – finden.

Den Ansatz der Betrachtung fixiert in der „Institutionalisierung der Vernunft“ die Überzeugung, dass es unmöglich ist, eine Institution bzw. ein Phänomen zu begreifen, ohne auch den historischen Prozess, der sie hervorgebracht hat, bzw. dessen Haupttriebkräfte zu verstehen. Die Genese sowohl der Universität, wie auch die Wieder- und Neuentdeckung einer begrifflichen Rationalität verlaufen zeitlich synchron. Es ist dies ein Prozess, der Ende des 11. Jahrhunderts beginnt, vor allem aber im späten 12. und frühen 13. Jahrhundert stattfindet.

Als prägend für die beschriebene Entwicklung sieht Wengraf die Stadtentwicklung, eine aufkommende frühbürgerliche Wirtschaftsform und die damit verbundene Rationalisierung des basalen Lebensprozesses. Voraussetzung für das Verständnis dieser Ganzheitlichkeit ist die Analyse einer „beschränkten“ Totalität: der geistigen Entwicklung, die das lateinische Christentum durchlief und als deren Symbol die Universität figuriert. Wie aber die Rationalität ein allgemeines Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft darstellt, so bezeichnet der Kampf um ebendiese Rationalität das Voranschreiten des städtischen Bürgertums. Vorhaben des Textes ist daher: Den Zusammenhang einer sich verändernden gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit mit jenem Vorgang zu untersuchen, den wir als geistigen Aufschwung bzw. Rationalisierung begreifen.

Ausgangspunkt ist die These, dass es vor allem in der Praxis ablaufende Prozesse waren, die an bestimmten Orten, vornehmlich den ökonomisch weit entwickelten, hin zu einem neuen Schultyp führten. Es gilt: Die Lebenswelt prägt primär die Universität und nicht umgekehrt, was allerdings nicht als Einbahns gedacht werden darf. Es riefen also vor allem praktische Bedürfnisse nach einer genormten und standardisierten Ausbildung: So z. B. der wachsende Bedarf an gebildeten Verwaltungsbeamten, an im Vertragsrecht geschulten Juristen oder etwa an „verwissenschaftlichter“ Theologie als Instrument der katholischen Orthodoxie gegen wild wuchernde „Häresien“. Hinter der Herausbildung von Universität stand ein Konglomerat von Ursachen, die aber eingebettet in eine allgemeine Bewegung waren. Diese führte vom flachen Land in Richtung Städte, vom Monopol des Grundeigentums zu Kaufmannskapital und handwerklicher Produktion, von personalen zu dinglichen Beziehungen bzw. Abhängigkeiten.

Kurz gesagt: Es gibt einen Prozess, in dem die alles beherrschenden feudalen Verhältnissen allmählich durch frühbürgerliche und präkapitalistische ergänzt wurden. Wir sprechen tatsächlich von Ergänzen und nicht Ersetzen, denn vor dem 18. Jh. kann von Kapitalismus als herrschender Produktionsweise nicht die Rede sein. Handel und Handelskapital gibt es allerdings bedeutend länger. Es bildet sich im Hochmittelalter heraus und ist die „historisch älteste freie Existenzweise des Kapitals“. Dabei ändert das Erblühen der Städte und des Handels noch nichts an der Dominanz feudaler Verhältnisse: „Selbständige und vorwiegende Entwicklung des Kapitals als Kaufmannskapital ist gleichbedeutend mit Nichtunterwerfung der Produktion unter das Kapital, also mit Entwicklung des Kapitals auf Grundlage einer ihm fremden und von ihm unabhängigen gesellschaftlichen Form der Produktion“, meinte Friedrich Engels.

Im frühen Mittelalter wirkte eine absolute göttliche Vernunft als Herrschafts-Apologetik im Sinne der karolingischen Einheitsbestrebungen. Andererseits war sie auch ideologische Antipode zu den  konterkarierenden feudal-partikularen Zentrifugalbewegungen – und damit ideeller Gegensatz zur gesellschaftlichen Wirklichkeit, setzt Michael Wengraf den Beginn seiner Untersuchung über die Herausbildung des Rationalitäts-Paradigmas. Erst als die partikulare Seite dank der Kraft des bürgerlichen Individualismus eine qualitativ neuartige Aufwertung erfuhr, so meint er, gab es in Gestalt des Nominalismus eine mächtige Gegenbewegung.

In einer Zeit, in der Zersplitterung, Anarchie, Zufall und rohe Gewalt, mit einem Wort, in der die „düsteren“ Mächte regieren, und die Ereignisse mehr oder weniger spontan geschehen, werden mystische Spiritualität, Schicksalsergebenheit und Ungewissheit als ewiges Gesetz in Gestalt  spiritueller „Vernunft“ ausgesprochen. Darin widerspiegelt sich das Vernunft-Interesse der Epoche. Wenn aber Ordnung sich langsam verfestigt, das Bürgertum in den wieder erstandenen Städten Handel und gewerbliche Produktion zu betreiben beginnt, genügt das nicht mehr. Dann ist eine konkrete Vorstellung von dem, was hier und heute ist bzw. morgen sein wird, erforderlich.

Karl Mannheim sagte einmal, das bürgerlich-kapitalistische Bewusstsein ist dadurch charakterisiert, dass es prinzipiell keine Grenzen der Rationalisierung kennt. Das führte zu einer Intellektualisierung, die Max Weber als „Entzauberung der Welt“ charakterisierte. Diesen Entwicklungsgang verfolgte der Autor mit der „Institutionalisierung der Vernunft“ aus marxistischer Perspektive auf ansprechende Weise ein Stück weit mit.

Elke Renner

 

6. März 2020