Demokratie dank Sozialismus

Ein Gespräch mit den italienischen Filosofen Domenico Losurdo.

Über demokratische Zugeständnisse der kapitalistischen Welt in Zeiten des real existierenden Sozialismus.
In den Schriften des italienischen Philosophen Domenico Losurdo sind Philosophie und Politik aufs engste verknüpft. Politische Ereignisse und philosophische Begriffe erscheinen deshalb in ihrem größeren historischen und theoretischen Kontext. Demokratie dank Sozialismus
Gespräch mit Domenico Losurdo. Über demokratische Zugeständnisse der kapitalistischen Welt in Zeiten des real existierenden Sozialismus

In den Schriften des italienischen Philosophen Domenico Losurdo sind Philosophie und Politik aufs engste verknüpft. Politische Ereignisse und philosophische Begriffe erscheinen deshalb in ihrem größeren historischen und theoretischen Kontext. Mit ihm sprachen die Publizistin Sabine Kebir und der Jurist Andreas Wehr. Das Interview ist von Sabine Kebir gekürzt worden; es erscheint in voller Länge in diesen Tagen in der neuen Ausgabe von Z. Zeitschrift für marxistische Erneuerung. Das Heft ist zu beziehen über zeitschrift-marxistische-erneuerung.de. <http://zeitschrift-marxistische-erneuerung.de.>
Von Losurdo kommt Anfang Juni im Kölner Verlag PapyRossa das Buch »Kampf um die Geschichte. Der historische Revisionismus und seine Mythen - Nolte, Furet und die anderen« heraus (304S., 17,90 €).

Sabine Kebir: In Deutschland gibt es Streit über das Buch von Luciano Canfora »Eine kurze Geschichte der Demokratie«. Vom Verlag C. H. Beck wurde es aus offensichtlich politischen Gründen nicht verlegt und kam dann im Verlag PapyRossa heraus. In den Streit wurden auch Sie als »Canforas Bruder im neostalinistischen Geist« einbezogen. Wie wurde Canforas Buch in Italien aufgenommen?

Domenico Losurdo: Die Debatte in Italien war nicht viel anders. Canfora gehört zu den wenigen Autoren, die bemüht sind, die herrschende Ideologie und ihre historische Bilanz in Frage zu stellen. Bekanntlich war nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus die Parole ausgegeben worden, das Ende der Geschichte sei vorauszusehen. Aber jetzt sehen wir, daß die Kriege nicht nur das Ergebnis des Widerspruchs zwischen Westen und Osten waren. Wir müssen sogar darüber nachdenken, warum diese Gefahr gegenwärtig wächst. Die übriggebliebene Supermacht nimmt für sich das Recht in Anspruch, überall in der Welt jederzeit militärisch einzugreifen. Die USA verstehen sich als eine von Gott erwählte Nation. Jeder denkende Mensch ist daher gezwungen, die Geschichte zu berücksichtigen, die mit der Oktoberrevolution begonnen hat, die Geschichte des Realsozialismus. Und er ist gezwungen, auch die Geschichte des Kapitalismus und des Liberalismus neu zu interpretieren. Es gibt natürlich viele, die daran interessiert sind, daß das nicht geschieht.

Kebir: Wie schätzen Sie das historische Erbe des Realsozialismus ein?

Losurdo: Die These der herrschenden Ideologie, wonach das 20. Jahrhundert die Periode sei, in dem die Krise der Demokratie entstand, ist historisch unhaltbar. Wenn wir unter Demokratie zumindest das allgemeine Wahlrecht verstehen, ist festzustellen, daß es ja überhaupt erst im 20. Jahrhundert eingeführt wurde. Vorher gab es drei große Diskriminierungen, die die Geschichte des Kapitalismus und auch des Liberalismus kennzeichneten.

Da ist zunächst die Diskriminierung der Frauen, die lange gar keine politischen Rechte genossen. Das revolutionäre Rußland war das erste Land, das ihnen aktives und passives Wahlrecht zubilligte. Finnland tat das schon 1907, war damals Teil des Zarenreichs und stand unter Einfluß der Revolution von 1905. In Deutschland haben die Frauen erst nach der Novemberrevolution, also ein Jahr nach der Oktoberrevolution, diese politischen Rechte erhalten, noch später in den USA. In Italien und Frankreich geschah dies erst nach dem Zweiten Weltkrieg, nach dem Widerstandskampf gegen den Faschismus, in dem die Kommunisten eine wichtige Rolle spielten.

Auch die zweite große Diskriminierung, die Zensusdiskriminerung, war vor der russischen Revolution nicht verschwunden. In England, Italien und Deutschland waren die Oberhäuser das Monopol der Aristokratie oder der Großbourgeoisie. Noch im Jahre 1948 konnten in England zirka 500000 Männer zweimal wählen.

Die dritte große Diskriminierung ist die rassistische. Sie betraf nicht nur ganze Völker in den Kolonien der westlichen »Demokratien«, sondern auch die Schwarzen in den USA. Noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatten sie kein Wahlrecht. 1952 mußte das oberste Verfassungsgericht entscheiden, ob die Rassensegregation in Schulen noch verfassungsgemäß sei. Der Justizminister sagte, daß eine Bestätigung Wasser auf die Mühlen der Sowjetunion, der kommunistischen Länder und auch der revolutionären Bewegung in der Dritten Welt wäre. So ist die Geschichte der Demokratie nicht von dem Einfluß zu trennen, den die Oktoberrevolution ausübte.

Natürlich verstehen wir heute unter Demokratie auch ein Minimum an Sozialstaat. Die Charta der UNO spricht von materiellen, wirtschaftlichen und sozialen Rechten. Friedrich August von Hayek forderte aber, daß die ökonomischen und sozialen Rechte abzuschaffen seien, weil sie nur eine ruinöse Erfindung der »russischen marxistischen Revolution« sind.

Andreas Wehr: Canfora wird auch beschuldigt, ein zu positives Stalinbild zu entwickeln. Was sagen Sie zu den Stalinismus-Anschuldigungen?

Losurdo: Die herrschende Ideologie scheint die Bilanz des dramatischen Jahrhunderts in folgender Fabel zusammenfassen zu wollen: Zu Anfang des 20. Jahrhunderts wird ein attraktives und tugendhaftes Mädchen (das Fräulein Demokratie) zuerst von einem Rohling (dem Herrn Kommunismus) angegriffen, und danach von einem anderen (dem Herrn Nazifaschismus). Die Kontraste zwischen beiden ausnutzend, gelingt es dem Mädchen schließlich, sich zu befreien. Auch linke Kreise interpretieren das auf die Oktoberrevolution folgende Geschehen insgesamt als Angriff auf die Demokratie. Diese sei allein in der Geschichte des bürgerlichen und liberalen Westens erkämpft worden.

Aber das scheinbare Ende der von der Oktoberevolution repräsentierten Herausforderung provozierte eine reaktionäre Rückbildung der Demokratie. In den internationalen Beziehungen wird sie explizit in Abrede gestellt. Und in der Innenpolitik der einzelnen Staaten wird der Sozialstaat abgebaut. Ein liberaler US-amerikanischer Historiker, Arthur Schlesinger jr., sagte, daß jetzt in den USA aufgrund der Übermacht des Reichtums praktisch die Zensusdiskriminierung wieder existiert.

Wehr: Den realsozialistischen Ländern wird vorgeworfen, Hegels Geschichtsphilosophie gehuldigt zu haben, wonach der Zweck die Mittel heilige. Was ist da dran?

Losurdo: Geschichtsphilosophie ist doch nicht nur bei Hegel zu finden. Die ganze liberale Tradition ist von Geschichtsphilosophie geprägt. Ein Linksliberaler wie John Stuart Mill schreibt, daß die Rassen, die als »minderjährige«1 anzusehen sind, zum »absoluten Gehorsam« verpflichtet sind. Nur auf diese Weise können Fortschritt und Freiheit etabliert werden. Und wenn es nach Bush geht, brauchen wir Krieg, um Freiheit und Demokratie zu verwirklichen. Die heutigen liberalen Philosophen argumentieren nicht viel anders. Für Norberto Bobbio2 (wie auch für Jürgen Habermas) war der Krieg gegen Jugoslawien das notwendige Mittel, um das höhere Ziel der Beendigung der ethnischen Säuberung zu erreichen und vor allem, um eine höhere kosmopolitische Rechtsordnung zu schaffen. Das ist die Geschichtsphilosophie, die infrage zu stellen ist, statt Hegel anzugreifen. Im Namen des geordneten Ablaufs der Kultur legitimierte John Locke die Sklaverei, die Hegel als »absolutes Verbrechen« verurteilte.

Kebir: Was ist davon zu halten, daß auch Linke den Hegelschen Fortschrittsbegriff als »metaphysisch« abtun?

Losurdo: Wir dürfen nicht vergessen, daß eine der stärksten Kritiken am Begriff des Fortschritts vom Nazismus stammt. Alfred Rosenberg, der Chefideologe des »Dritten Reichs«, spricht ironisch vom »Dogma einer angeblich ›allgemeinen Entwicklung der Menschheit‹« und »eines angeblichen ›Fortschritts‹«; »Menschheit« sei nur ein neuer Name für den »alten Jahwe«. Bei genauerem Hinsehen ist bei Rosenberg die Liquidierung des Begriffs »Fortschritt« die Liquidierung des Begriffs »Menschheit«: Man kann nicht von »Fortschritt« reden, weil es kein einheitliches Subjekt (»die Menschheit«) dieses angeblichen Fortschritts gibt. Wo die Menschheit zwischen Übermenschen und Untermenschen, zwischen Herrenrasse und sklavischen Arbeitsinstrumenten im Dienste der Herrenrasse aufgeteilt wird, kann nicht vom Allgemeinbegriff »Mensch« (und auch nicht vom menschlichen »Fortschritt«) die Rede sein. Aber das bedeutet, daß die heute verbreitete Rede vom »Menschen« und von »Menschenrechten« einen kolossalen Fortschritt ausdrückt.

Auch ein Theoretiker des liberalen Englands, Edmund Burke, lehnte den »abstrakten« Allgemeinbegriff »Mensch« ab und spricht statt dessen von den Rechten des Engländers. So spottet er über die aus der französischen Revolution hervorgegangenen Kämpfe gegen den Kolonialismus und die Sklaverei.

Für Hegel ist jedoch der historische Prozeß der Konstruktion des Allgemeinbegriffs »Mensch« irreversibel, weil sich die Menschen auf lange Sicht die erlangte menschliche und moralische Würde nicht mehr entreißen lassen: »Die Freiheit des Menschen als solche« hat die Bedeutung einer zweiten Natur erhalten. Bis vor kurzem wurden die Frauen als minderwertig gegenüber dem Mann betrachtet. Aber wenn heute jemand versuchen wollte, sie wieder in diese Abhängigkeit zurückzuführen, würde er die Figur eines Don Quichotte abgeben.

Kebir: Sie haben den realsozialistischen Ländern die Befolgung eines »vulgären Marxismus« vorgeworfen, der Errungenschaften der liberalen Tradition, des Schutzes der Bürger vor Eingriffen des Staates, als nur formelle Freiheit und als vernachlässigbar angesehen hat.

Losurdo: Wenn Sozialisten oder Kommunisten die liberale Tradition kritisieren, gibt es zwei Möglichkeiten: Wird sie kritisiert, weil sie der formellen Freiheit zuviel Wert beigemessen hat oder weil sie nicht imstande war (und ist), diese formelle Freiheit zu universalisieren? Mein Standpunkt ist die zweite Position. Wenn Linke die Bedeutung der formellen Freiheit herabsetzen, so verkennen sie ihre eigene Geschichte, denn es war ja gerade die sozialistische und kommunistische Bewegung, die dazu beigetragen hat, sie für die Kolonialvölker und für die Arbeiter in der Metropole auch in der Produktionssphäre zu verlangen. Nur nach der Kritik der Ausschlußklauseln, die die liberale Tradition auch hinsichtlich der formellen Freiheit kennzeichnen, wird es möglich und notwendig, den Begriff »Freiheit« auszuweiten, indem man das Recht zur wirklichen Teilnahme an den politischen Entscheidungen und zum Genuß menschenwürdiger materieller Bedingungen einführt.

Wehr: Sie umreißen eine Geschichte der Demokratie, die sich von der heute vorherrschenden stark unterscheidet.

Losurdo: Die Geschichte des Westens führt uns ein Paradox vor Augen, das von der Geschichte seiner heutigen Führungsnation aus begriffen werden kann: Die Demokratie innerhalb der weißen Gemeinschaft hat sich gleichzeitig mit der Versklavung der Schwarzen und der Deportation der Indianer entwickelt. In 32 der ersten 36 Jahre der USA waren ihre Präsidenten Sklavenhalter. Maßgebliche US-amerikanische Forscher sprechen von der »Herrenvolk democracy«. Die scharfe Grenzlinie zwischen Weißen einerseits und Schwarzen und Indianern andererseits begünstigte die Gleichheitstendenz innerhalb der Weißen. Auch in Europa ging die Ausweitung des Wahlrechts Hand in Hand mit der Kolonisation unterworfener Völker. 1900 stand an den Türen der exklusiven Clubs in Schanghai, daß Hunden und Chinesen der Eintritt verboten sei. Welche historische Bewegung hat den Chinesen das Gefühl der menschlichen Würde zurückgegeben? Es war die kommunistische Bewegung, die ein Kampf gegen den Herrenvolkcharakter der westlichen Demokratien war.

Kebir: Sie betonen, daß Hegel die bürgerlich-demokratischen Freiheiten in seinem Staatskonzept verankerte und daß er der geistige Begründer des modernen bürgerlichen Sozialstaats war. Hat er uns in der Staatsfrage heute mehr zu sagen als Marx und Engels?

Losurdo: In der Staatsfrage kann man bei Marx und Engels Unschlüssigkeiten feststellen. Einerseits ist der Staat das Instrument der Klassenherrschaft. Andererseits ist er die »Form der Organisation«, mit der sich die Individuen der herrschenden Klasse die »gegenseitige Garantie ihres Eigentums und ihrer Interessen« geben. Doch warum wird nach dem Verschwinden der Klassen die »Garantie« oder die »Assekuranz« überflüssig, die den Individuen geboten werden muß? Manchmal reden sie vom »Absterben des Staates« überhaupt und ein andermal vom Absterben des »Staates im jetzigen politischen Sinn«.

Die Erwartung des Absterbens des Staates hat eine sehr negative Rolle in der Geschichte der Sowjetunion gespielt. Die Auffassungen, wonach das Recht Opium für das Volk oder die Idee der Verfassung eine bürgerliche sei, trugen nicht dazu bei, den Staat zu demokratisieren, der aus der Oktoberrevolution entstanden war.

Nach Hegel können wir nicht zwischen dem Staat und dem Nicht-Staat wählen. Es kommt darauf an, ihn so zu gestalten, daß er nicht nur die formelle Freiheit, sondern auch die sozialen Rechte des Individuums realisiert. Schon vor Marx sprach Hegel von unverzichtbaren »materiellen Rechten«, und er hob hervor, daß die Ungleichheit, wenn sie eine bestimmte Stufe erreicht hat, auch die formelle Freiheit leer werden lasse. Hegel erklärt, das Recht auf Privateigentum sei dem Lebensrecht des Menschen, der riskiert zu verhungern, untergeordnet. Im Gegensatz zu den Liberalen, z. B. Friedrich Schleiermacher, die meinten, das Problem des Hungers müsse von christlicher Liebe gelöst werden, sagte er, daß der Staat so aufgebaut sein müsse, daß kein Mensch riskiert zu verhungern.

Kebir: Wie entwickelte Gramsci das Staatskonzept weiter?

Losurdo: Für ihn ist bereits die Zivilgesellschaft eine Art Staat. Er widerlegt endgültig die liberale Phänomenologie der Macht, die die Anarchisten übernehmen. Danach ist der Staat der Ort der Unterdrückung. Marx betonte, daß sich der Despotismus der Bourgeoisie bereits in der kapitalistischen Fabrik (d. h. innerhalb der Zivilgesellschaft) zeigt. Und wenn der bürgerliche Staat versucht, diesen einzuschränken, malen die kapitalistischen Besitzer das Gespenst des jakobinischen Terrors an die Wand.

Die liberale Phänomenologie der Macht erklärt nicht die Geschichte des führenden Landes des Westens: Wer hat denn die Enteignung und Vernichtung der Indianer vorangetrieben? Das war in erster Linie die weiße Zivilgesellschaft. Auch die Versklavung der Schwarzen war nicht selten eine »private« Initiative. Die schüchternen Versuche der Zentralgewalt, diese Prozesse zu kontrollieren oder gar zu unterbinden, sind regelmäßig als eine unerträgliche Einmischung der Zentralgewalt in die Privatsphäre der Siedler und Sklavenhalter verurteilt worden.

Wehr: Obwohl Sie der Demokratie einen »zweifellos universellen Wert« zumessen, sagen Sie, daß »sich die Grenze zwischen Demokratie und Antidemokratie« nicht ein für allemal bestimmen lasse?

Losurdo: Am Ende des 18. Jahrhunderts bemerkt Adam Smith, mit Blick auf die englischen Kolonien in Amerika, wo es eine Art Selbstregierung der weißen Siedler (und Sklavenhalter) gibt, daß die Sklaverei leichter unter einer »despotischen Regierung« als unter einer »freien Regierung« abgeschafft werden könne. Und er fügt hinzu: »Die Freiheit des freien Mannes ist der Grund für die große Unterdrückung der Sklaven. Und da sie den größten Teil der Bevölkerung stellen, wird keine mit Menschlichkeit ausgestattete Person die Freiheit in einem Land wünschen, in dem diese Institution eingeführt worden ist«. Wer war damals der Vertreter der Freiheit? Waren es die Sklavenhalter, die ihre Selbstregierung verteidigten? Oder war es Smith, der für die Abschaffung der Sklaverei sogar eine despotische Regierung verlangte? Er sagte allerdings auch, daß das »self government« ein sehr wichtiges Recht, aber das Recht der Schwarzen auf die Freiheit noch wichtiger sei.

Wehr: Ist die Geschichte der Sowjetunion als permanenter Ausnahmezustand zu interpretieren?

Losurdo: Sie ist eine Geschichte nicht alleine von Blockaden, sondern auch von militärischen Interventionen. Natürlich darf man auch den abstrakten Utopismus und die theoretische Schwäche der kommunistische Bewegung nicht ausklammern. Ich erwähnte den fatalen Hang zur Herabsetzung der formellen Freiheit, die auch die chinesische Kulturrevolution prägte. Die heutige Führung der KP Chinas erklärt, einen sozialistischen, auf der Regierung des Gesetzes gründenden Staat aufbauen zu wollen. Aber sie möchten natürlich den Prozeß selbst bestimmen.

Die Frage der Demokratie ist eben nicht nur eine innerstaatliche Angelegenheit. Die freien Wahlen in Palästina haben dort vom Standpunkt des Westens ein schlechtes Ergebnis gebracht. Nun wird versucht, das palästinensische Volk auszuhungern. Was ist in Nicaragua geschehen, als die Sandinisten die Macht verloren? Waren die Wahlen von 1990 wirklich frei? Nein, das Volk von Nicaragua wurde vor die Wahl gestellt: Entweder ihr wählt die Sandinisten ab, oder ihr seid weiter dem Embargo, Krieg und Terror ausgesetzt.

Wehr: In der deutschen Linken hat es sich eingebürgert, im Festhalten am Nationalstaat etwas Rückschrittliches zu sehen. Viele kritisieren die EU nur, weil sie ihnen nicht weit genug geht. Sie hingegen kritisieren »die Mißachtung der nationalen Frage, die eine so verheerende Rolle in der Geschichte der UdSSR und des sozialistischen Lagers gespielt und entscheidend zu deren Auflösung beigetragen hat«.

Losurdo: Die Kommunisten glaubten, der sozialistische Block wäre einheitlich, während die Widersprüche innerhalb des kapitalistischen Lagers eine sehr wichtige Rolle spielen würden. Leider ist das Gegenteil eingetreten. Es ist eine Tatsache, daß 1948 Jugoslawien nicht nur den sozialistischen Block verließ, sondern praktisch sogar ein Verbündeter des kapitalistischen Lagers wurde. 1972 hat die Volksrepublik China in gewisser Weise ein Bündnis mit den USA gegen die Sowjetunion geschlossen. Man darf aber nicht die Besetzung Ungarns, der Tschechoslowakei und die Halbbesetzung Polens durch die Sowjetunion vergessen. Diese Krisen haben die Rolle der nationalen Frage gemeinsam. Nach Hegel sind die Staaten Individuen. Individuen können sich vereinigen, ein gutes oder eben auch ein konfliktreiches Verhältnis zueinander entwickeln. Der Sturz des Kapitalismus löscht gewiß nicht die staatlichen und nationalen Individualitäten aus. Oft haben die sozialistische oder die antikoloniale Revolution erst dazu beigetragen, das nationale Bewußtsein herauszubilden.

Wehr: Wiederholen diejenigen Linken, die in der EU die Überwindung der Nationalstaaten sehen, nicht jetzt den Fehler, den der Realsozialismus machte?

Losurdo: Wir können von Demokratie nur sprechen, wenn eine Öffentlichkeit, ein öffentlicher Raum zur Verfügung steht. Die Individuen müssen frei diskutieren können. Die Sprachverständigung spielt daher eine wichtige Rolle. Ein demokratischer Weltstaat ist ein Widerspruch in sich, da sie nur einer Elite, die die Herrschaft ausübt, gelingen könnte. Eine Demokratie wäre das nicht. Die Linke sollte sich vor europäischem Nihilismus hüten, denn die Vereinigung Europas kann auch eine gewisse positive Rolle spielen. Andererseits darf sie Europa nicht schon als eine Einheit auffassen. Gegenwärtig ist die EU ein gemeinsamer Markt, lediglich mit einer Tendenz zur politischen Vereinigung.

1 Mit »minderjährigen« Rassen bezeichnet Mill vermeintlich noch nicht vollständig entwickelte Menschengruppen - im Gegensatz zur weißen europäischen.

2 Norberto Bobbio (1909-2004), italienischer Rechtsphilosoph und Jurist, sah sich als Anhänger eines liberalen Sozialismus.

Domenico Losurdo ist Professor für Philosophie in Urbino und Präsident der Internationalen Gesellschaft Hegel-Marx für dialektisches Denken. Gemeinsam mit Hans Heinz Holz gibt er die philosophische Halbjahresschrift Topos heraus.

30. Mai 2007