April 1919: die Sozialistische Republik Donawitz

von Heimo Halbrainer

Original: Mitteilungen der Klahrgesellschaft

 

 

Im Jahr 1931 schrieb der Generaldirektor der ÖsterreichischAlpine Montangesellschaft (ÖAMG) Felix Busson im Rahmen eines Beitrags über die sozialpolitische Entwicklung der ÖAMG: „Am 7. April [1919] wurde ohne jeden äußeren Anlaß nach einer improvisierten Versammlung der Werksdirektor in seinem Bureau von eindringenden Arbeitern überfallen, tätlich mißhandelt und mit Schlägen und Stößen bis in seine Wohnung getrieben. Nach diesem Ereignis nahmen die Arbeiter vollkommen ruhig die Arbeit wieder auf. Nach Schichtschluß wurde eine Versammlung unter freiem Himmel abge halten, die Absetzung der bisherigen Werksleitung und die Einsetzung eines viergliedrigen    Direktoriums (zwei Arbeiter und zwei Angestellte) beschlos sen. Das neue Direktorium wandte sich drahtlich nach Wien und berief den zu ständigen Minister, um die nötigen Regierungsakte für die Durchführung der Sozialisierung des Werkes Donawitz an Ort und Stelle vorzunehmen. Der Generaldirektion wurde der Auftrag erteilt, die zur Auszahlung nötigen Mittel jeweils am Zahlungstag bereitzustellen. Inzwischen konstituierte sich am Werk eine Verkaufsabteilung, die daran ging, für den sozialisierten Betrieb die vorhandenen Vorräte aufzuführen und dem Verkaufe zuzuführen. Die Regierung war nicht wenig erstaunt und setzte sich mit dem Metallarbeiterverband in Verbindung, der einige seiner Funktionäre nach Donawitz entsandte. […] Als am Zahltag der sozialisierte Betrieb ohne Geld blieb und auch der Verkauf sich nur auf einige Stangen Eisen erstrecken konnte, die in der Umgebung abgesetzt wurden, brach die sozialistische Republik Donawitz zusammen.“1
Dass im April 1919 in Donawitz seitens der Arbeiter der Versuch unternommen wurde, den Betrieb zu sozialisieren, erfolgte nicht – wie Busson in seinem Beitrag Glauben machen will – aus heiterem Himmel. Ausschlaggebend dafür waren neben der aktuell katastrophalen wirtschaftlichen Lage unter anderem auch eine lange Tradition der Arbeitskämpfe in Donawitz,2 die Ausrufung der ungarischen Räterepublik und damit verbunden auch das Signalwort der österreichischen Revolution – „Sozialisierung“.
Aufbegehren 1917/18
Unter dem Eindruck des schrecklichen Hungerwinters 1916/1917 – im Volksmund „Steckrübenwinter“ genannt –, dem Attentat Friedrich Adlers auf Minis terpräsidenten Stürgkh am 21. Oktober 1916 und dem Sturz des Zaren in Russland im März 1917 kam es zu einer zu nehmenden Radikalisierung unter der Arbeiterschaft in den steirischen Industriezentren, allen voran in Donawitz und Seegraben – heute Stadteile von Leoben. Der „Burgfriedenpolitik“ der Sozialdemokratie wurde zuerst noch zaghaft, schließlich aber immer manifester eine Abfuhr erteilt. Bereits am 31. März 1917 trat die gesamte Belegschaft des Hüttenwerkes Donawitz erstmals wegen der ungenügenden Versorgungslage in den Streik.3 Wie wenig die Arbeiterschaft in dieser Phase hinter dem Kurs der Sozial demokratischen Partei stand, verdeutlicht ein Bericht der k.k. Polizeidirektion Graz vom August 1917, wo es heißt, dass der Sozialdemokratischen Partei derzeit „die merkwürdige Aufgabe zu[fällt], in beschwichtigendem Sinn auf die Masse, auf die sie Einfluß hat, einzuwirken. [...] Die Partei in Österreich [...] ist in der merkwürdigen Lage, ihr Eisen nicht schmieden zu können, so lange es warm ist, und jetzt wäre es für eine wirk lich revolutionäre Partei warm genug. Es ist nur die Frage, ob die Massen nicht über den Kopf der Partei etwas unternehmen. Die Anzeichen mehren sich.“4 Die Lage kulminierte schließlich im Jänner streik 1918,5 der von mehr als einer halben Million Streikenden in der österreichischen Reichshälfte getragen wurde und wo nun neben einer ausreichenden Lebensmittelversorgung auch politische Forderungen artikuliert wurden. So wurden neben der Aufhebung der Militarisierung der Betriebe auch der sofortige Friedensschluss ohne „territoriale Forderungen“, das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht für Gemeinden sowie die sofortige Freilassung Friedrich Adlers und anderer politischer Gefangener gefordert. Nachdem die Regierung zu den Forderungen der Streikenden Stellung bezogen hatte, forderte die Führung der Sozialdemokratie die Streikenden zur
„Wiederaufnahme der Arbeit“ auf. In der Steiermark führten die letztlich unerfüllten Forderungen des Jännerstreiks dazu, dass es in den folgenden Monaten wiederholt zu Ausständen in den Betrieben kam und die sozialdemokratische Parteiführung – wie schon im Jänner – alle Hände voll zu tun hatte, die revolutionäre Stimmung einzudämmen.
In Leoben kam es Mitte Mai aufgrund der immer tristeren Lage – und nachdem es bereits am 12. und 13. Mai 1918 in den obersteirischen Gemeinden Fohnsdorf und Judenburg zu Plünderungen in der Folge einer Meuterei des in Judenburg stationierten slowenischen Infanterieregiments Nr. 17 gekommen war6 – ebenfalls zu Plünderungen. So berichtete der Leobener Chronist Josef Freudenthaler: „Verbittert über die mangelhafte Versorgung [...] strömten in später Abendstunde mehrere hundert Arbeiter und Arbeiterinnen, meist aber junge Leute, aus Donawitz in die Stadt, johlten und schrien, zertrümmerten die Spiegelscheiben der großen Stadtgeschäfte und begannen zu plündern.“7
Republik des Hungers und der Not
Mit der Proklamation der Republik im November 1918 wurde zwar die Habsburgerdynastie „hinweggefegt“ und fast alle politischen und sozialen Forderungen der letzten Jahre Wirklichkeit. Nicht gebessert hatte sich mit der österreichischen Revolution allerdings die wirtschaftliche und soziale Lage: Lebensmittelmangel, Brennstoffnot sowie das Fehlen der notwendigsten Kleidungsstücke bestimmten neben der „Spanischen Grippe“, die fast in jeder Familie in Leoben ein Opfer forderte, weiterhin die unmittelbare Nachkriegszeit. Wie trostlos die Situation zum Jahreswechsel 1918/19 vor allem in Donawitz war, schilderte das Mitglied der  sogenannten
„Brotkommission“ in Leoben, Josef Freudenthaler. So wurde der Mehlanteil zwar verdoppelt, er erreichte aber damit dennoch nur den Stand vom Jänner 1918. Um Milch mussten sich Frauen und Kin der oft „4 bis 5 Tage umsonst anstellen“. Am schlechtesten jedoch war die Versorgung mit Fleisch. Betrug der monatliche ProKopfVerbrauch in den Bezirken Murau, Liezen, Gröbming, Aussee und Feldbach eineinhalb bis zwei Kilo, so er reichte Leoben einen Wert von nur 75 Dekagramm. Für Donawitz lag der zugewiesene Anteil gar nur bei 48 Dekagramm. Von diesem Mangel am meisten betroffen waren die Kinder. So ergab ei ne Untersuchung „wahrhaft erschüttern de  Bilder“. Von allen Schulkindern bis 15 Jahren konnten nur 80 als „gut ernährt“ oder „normalernährt“ bezeichnet werden. Alle übrigen, und das waren immerhin mehr als 2.000, waren unter ernährt. Für viele Kinder war daher die Einführung der „Amerikanischen Kinderjause“ eine willkommene Bereicherung zum Bimsbrot und den Wrucken der letzten Jahre.8
Da sich im Frühjahr 1919 das Elend nicht gelegt, sondern verschlechtert hat te, kam es immer wieder zu Hungerde monstrationen mit Plünderungen, so auch in Donawitz. Im Februar 1919 überrannten vor allem Frauen und Kin der den Werksportier und stürmten dasVerwaltungsgebäude, um eine Mehrlieferung an Brennmaterial zu erreichen. Als man es ihnen verweigerte, wurde der größte Teil des eingelagerten Brennmaterials kurzerhand mitgenommen.9 Und in Seegraben streikten im Februar und März 1919 über 1.700 Arbeiter für eine Angleichung ihrer Löhne gegenüber den anderen Bergbaubetrieben.10
Sozialisierung
Eine der zentralen Kampfvokabeln der österreichischen Revolution im Frühjahr 1919 war die Sozialisierung.11 Am 17. April 1919 hieß es – nachdem der Versuch der Sozialisierung in Donawitz und Seegraben gescheitert war – im Leitartikel des bürgerlichen Grazer Tagblatts dazu unter anderem: „Die in den Fischteich geworfenen Schlagworte von der Sozialisierung und Enteignung haben die Kreise der Industrie, des Handels und des Gewerbes mit tiefen Besorgnissen über den unbekannten Umfang und die Tiefe dieser Pläne erfüllt, aber auch in vielen hunderttausend Köpfen, die sich von der Enteignung und Sozialisierung Gewinn erhofften, eine heillose Verwirrung angerichtet, die zu meistern den ministrablen Verantwortlichen schwere Arbeit bereitet. Jene Schlagworte wurden von den regierenden sozialdemokratischen Parteihäuptern ausgegeben, bevor sie deren Inhalt in klare Formen gießen konnten. Der Zweck dieser vor zeitigen Eröffnung war, die Gemüter jener Anhänger der sozialdemokratischen Partei, welche die Früchte der sozialdemokratischen Herrschaft sofort genießen wollten, aber von einer augenblicklichen Erfüllung ihrer Wünsche nichts sehen, zu beruhigen; den kommunistischen Wellen sollte der Damm des erneuerten Vertrauens auf die sozialdemokratischen Versprechungen entgegengestellt werden. Aber die Arbeiter im Donawitzer Hochofenbereiche und in den Seegrabener Kohlenbergwerken verwechselten das Schlagwort, das sie auffingen, mit der vollendeten Tat; sie meinten, daß sie den Inhalt der Sozialisierung und Enteignung sofort selber ausschöpfen und selbst das Wort in die Tat umsetzen können und daß es höchstens einer nachträglichen Genehmigung durch die obersten Instanzen der Partei und der Regierung bedürfe; sie verlangten, daß der Staatssekretär Dr. Bauer und Dr. Schumpeter nach Donawitz kommen, um das Geschehene, die Absetzung der Direktion und die vollzogene ‚Enteignung‘ formell ‚in Ordnung zu bringen‘.“12
Tatsächlich hatte Otto Bauer im Jänner 1919 mit der Artikelserie „Der Weg zum Sozialismus“ in der ArbeiterZeitung einen detaillierten Sozialisierungsplan entworfen, wonach zunächst die Schwerindustrie, das Energiewesen, die großen Forste und die Kommerzbanken sozialisiert werden sollten.13 Im „Aktionsprogramm des sozialdemokratischen Verbandes“ vom 19. Februar 1919 hieß es:
„Die größten und wichtigsten Aufgaben sind die Wiederaufnahme der Produktion, der Wiederaufbau der Volkswirtschaft, die planmäßige und systematische Sozialisierung aller dazu heute schon reifer Zweige der Volkswirtschaft. Es ist unverzüglich eine Sozialisierungskommission einzurichten, die aus Fachmännern besteht und der durch ein besonderes Gesetz das Recht eingeräumt ist, sich der Unterstützung aller staatlichen Zentralstellen zu bedienen, Experten einzuvernehmen, Erhebungen anzuordnen und das Einvernehmen mit der reichsdeutschen Sozialisierungskommission herzustellen. Die Kommission hat binnen drei Monaten Vorschläge über die Neugestaltung der Volkswirtschaft aus zuarbeiten. In ihren Aufgabenbereich fällt insbesondere die Untersuchung und Vorbereitung der Vergesellschaftung einzelner Zweige der Großindustrie, des Großhandels, des Bank und Versicherungswesens.“14 Einen Monat später setzte das Parlament mit dem „Gesetz vom  14. März 1919 über die Vorbereitung der Sozialisierung“15 tatsächlich eine Sozialisierungskommission ein, zu deren Vorsitzenden Otto Bauer gewählt wurde, in der aber die Sozialdemokraten nur zwei von fünf Vertreter stellten.16 Über dieses Gesetz hieß es im Zentralorgan der KPÖ, Die Soziale Revolution, tags darauf: „Der Vorstand des sozialdemokratischen Verbandes hat am Mittwoch in der Nationalversammlung einen Gesetzesentwurf über die Sozialisierung eingebracht. Oder, um mit den Antragsstellern zu reden, über die Vorbereitung der Sozialisierung. Auch dieses bescheidene Wort ist übrigens noch eine sehr unbescheidene Übertreibung. Die Sozialdemokraten gehen nämlich so behutsam zu Werke, daß man höchstens von einer Vorbereitung zur Vorbereitung der Sozialisierung sprechen kann. Ja, wenn man’s genau nimmt – und eigentlich soll man solche Dinge genau nehmen –, so kann von Sozialisierung überhaupt nicht die Rede sein, sondern nur von Verstaatlichung, Verländerung, Verstadtlichung.“17
In dieser Situation wurde am 21. März 1919 im benachbarten Ungarn die Räterepublik ausgerufen. Umgehend forderten die nach einem Monat Haft wieder auf freien Fuß gesetzten Führer der steirischen Kommunistischen Partei bei der ersten öffentlichen Versammlung nach ihrer Enthaftung am 31. März die Errichtung der Diktatur des Proletariats in Österreich nach russischem und ungarischem Vorbild.18 Daneben sprachen sie sich gegen die von der Sozialdemokratie ins Leben gerufene Sozialisierungskommission aus, die sie als „wahre Mißgeburt, deren sich speziell Herr Wutte19 nicht zu schämen brauche [bezeichneten]. Zur Sozialisierung brauchen wir jedoch alle anderen, nur nicht die Unternehmer.“20
Als am 6. April schließlich in Bruck an der Mur und in Leoben Massen versammlungen mit rund 5.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern stattfanden, forderten die kommunistischen Redner – nachdem die Sozialdemokraten am Sprechen gehindert und ausgepfiffen wurden – neben der Solidarität mit der ungarischen Räterepublik die Sozialisierung des Hüttenwerks in Donawitz und des Kohlebergbaus in Seegraben.21 Tags darauf wurde schließlich der Versuch unternommen, die Sozialisierung selbst in die Tat umzusetzen.

Die Sozialisierung in Donawitz und Seegraben
Der unmittelbare Auslöser für die Sozialisierung in Donawitz und Seegraben22 war der hohe Preis für Mehl und Schmalz bei der Werksfassung der ÖAMG im Hüttenwerk Donawitz.23 Am Montag den 7. April 1919 sollte mit der Ausgabe des im November 1918 in Leoben beschlagnahmten für Prag be stimmten Waggons Fett begonnen wer den. Da die Preise – Fett sollte das Kilo 49 Kronen und 60 Heller und Mehl acht Kronen kosten – allerdings für die Arbeiterfamilien unbezahlbar waren und zu dem auch sonst keine Lebensmittelzubußen ausgegeben werden sollten, verlangten die Frauen eine Intervention der Vertrauensmänner beim Direktor. Direktor Emanuel Baumgartner sagte ihnen lediglich eine Vorsprache bei der Generaldirektion zu, was die Vertrauensmänner den vor der Werksfassung wartenden Menschen mitteilten. Auf das hinauf zog die Menschenmenge zum Direktionsgebäude, führte den Direktor ab und begleitete ihn unter großem Lärm aus dem Werk in seine Villa, die sie nach Lebensmitteln durchsuchten.
Um 18 Uhr fand schließlich eine Versammlung statt, an der – wie der Gendarmerieposten an die Landesregierung meldete – zirka 3.000 Personen teilnahmen24 und bei der der Beschluss gefasst wurde, den Werksdirektor abzusetzen und an dessen Stelle ein provisorisches Direktorium aus der Mitte der Versammelten zu wählen. Dieses Gremium bestand aus zwei Angestellten, den beiden Ingenieuren Erich Frischauf und Georg Schwab, sowie dem sozialdemokratischen Arbeiter Alexander Pink und dem Kommunisten Johann Perosch. Gleichzeitig wurde auch der Verwalter der Werksfassung Wiesauer seines Dienstes enthoben. Das Direktorium nahm darauf hin zu den verschiedenen Betriebsleitern des Werkes Kontakt auf, um eine „ungestörte Fortführung des Betriebes“25 zu gewährleisten. Auch wurde Kontakt zur Generaldirektion in Wien aufgenommen, die dem Direktorium mitteilte, dass we der der Generaldirektor noch ein bevollmächtigter Vertreter nach Donawitz kommen und mit dem Direktorium Gespräche führen werde und dass man nicht wisse, ob der Betrieb überhaupt weitergeführt werde.
Um unter eigener Regie den Betrieb weiterzuführen, nahm das Direktorium am Dienstag mit den Bergarbeitern in Seegraben Kontakt auf, die sich seit Montagnachmittag im Streik befanden. Auch hier hatte am Montagvormittag eine „Deputation der kommunistisch gesinnten Bergarbeiter in Seegraben bei der BH in Leoben und bei der Bergdirektion der österr[eichischen] Alp[inen] Montangesellschaft in Seegraben die Verdopplung der Ration bei Mehl,  Fett
u. Brot, sowie die Herabsetzung der Lebensmittelpreise in der Werksfassung um 40% gefordert“.26 Da die Direktion auf diese Forderung vorerst nicht  eingehen wollte, wurde ein 48stündiger Warnstreik beschlossen.
Nach längerer Verhandlung zwischen den streikenden Bergarbeitern und dem Direktorium aus Donawitz wurde be schlossen, dass die Arbeit in Seegraben mit der Morgenschicht am Mittwoch wieder aufgenommen und der Betrieb in Seegraben ebenfalls sozialisiert werden soll. Aus diesem Grund wurde am
8. April auch in Seegraben ein Direktorium gewählt, welches sich ebenfalls aus zwei Angestellten, einem Ingenieur und einem Kanzlisten, sowie einem sozial demokratischen und einem kommunistischen Arbeiter zusammensetzte. Zudem wurde für jede der drei Gruben ein paritätisch aus Sozialdemokraten und Kommunisten zusammengesetzter Arbeiterrat gewählt. Die zwölf Mitglieder des Arbeiterrats sollten die näheren Bedingungen für die Durchführung der Sozialisierung des Kohlenwerkes fest setzen.27 Auch wurde die Einführung der AchtStundenSchicht beschlossen. Um die Versorgung der Bevölkerung mit Fleisch aufzubessern, wurde zudem rund 80 Arbeitern dienstfrei gegeben, um in der Umgebung von Leoben – wie der damalige Generalsekretär der ÖAMG Felix Busson anmerkte, „in den schönsten Jagden in Vordernberg alles Wild zu erlegen“.28
Während die Direktorien in Donawitz und Seegraben vergebens darauf warte ten, dass die Generaldirektion der ÖAMG bzw. die Regierung Vertreter in die Steiermark entsandten – erste Ge spräche mit Regierungsvertretern waren bereits für den 9. April 1919 angekündigt –, trafen sich in Donawitz die sozial demokratischen Vertrauensmänner mit Gewerkschaftsvertretern aus  Wien und Graz.29 Dabei ging es unter anderem auch um die Zurückdrängung des kommunistischen Einflusses und die Eindämmung des Sozialisierungsversuchs. Dies geschah in der Folge in mehreren Etappen. Zunächst weigerten sich die Regierungsvertreter, mit einem kommunistischen Direktionsmitglied zu ver handeln,  weshalb  Johann  Perosch am
10. April erklärte, dass er „seine Stelle im Interesse der Allgemeinheit nieder lege“.30 Bei einer am selben Tag einberufenen Vertrauensmännersitzung wurde ein Aufruf beschlossen, der – wie es in der sozialdemokratischen Zeitung Arbeiterwille hieß – „eine ebenso scharfe als erfreuliche Verurteilung des Vorgehens kommunistischer und anderer gewissen loser Elemente bedeutet“. In diesem Aufruf war dann zu lesen, dass die „gesamte Angestelltenschaft des Werkes [...] über die dem Direktor Herrn Baum gartner und über die Herrn Fassungsleiter Wiesbauer am vergangenen Montag zuteil gewordene unwürdige und unmenschliche Behandlung Entrüstung und Abscheu“ ausspreche.31 Dies wiederhol ten auch die sozialdemokratischen Nationalräte Dr. Arnold Eisler und Rudolf Schlager, wobei sowohl der Aufruf der sozialdemokratischen Vertrauensmänner als auch die Proteste der beiden Nationalräte über die angeblich „unwürdige und unmenschliche Behandlung“ im Gegensatz zu den Wahrnehmungen des Gendarmeriepostens Donawitz standen. Dort hieß es nämlich: „Tatsächlich begleitete die Arbeiterschaft den Direktor Baumgartner aus dem Werke, ohne dass an ihm Tätlichkeiten verübt wurden.“ Lediglich über die Enthebung von Wiesauer wurde angemerkt, dass er „von der Volksmenge  aus   der   Kanzlei hinausgedrängt [wurde], wobei er einige Püffe erhalten haben soll“.32
Am 10. April fuhr eine von Kommunisten „gesäuberte“ Abordnung des Direktoriums und der Vertrauensmänner nach Wien, um mit Vertretern der ÖAMG unter Beteiligung von Regierungsvertretern Verhandlungen aufzunehmen. In der zwei Tage später anberaumten Generalversammlung der ÖAMG berichtete Generaldirektor Oskar Rothballer, dass bei den Verhandlungen Otto Bauer dabei war, „der den Donawitzer Hüttenarbeitern und den Seegrabener Bergarbeitern plausibel zu machen versuchte, daß man sich eine Sozialisierung nicht in der Form denke, wie sie sich die Arbeiter naiv vorstellen“. Vielmehr wolle die Regierung „vor der Sozialisierung eine demokratische Leitung der Betriebe vor nehmen, die im Wege von Betriebsbeiräten oder Betriebsräten erfolgen soll. […] Dr. Bauer äußerte sich weiter dahin, daß der Augenblick, wenn sozialisiert wer den soll, noch nicht gekommen ist, son dern daß abzuwarten sein wird, wann dieser Augenblick eintreten wird“.33
Als am 17. April in Donawitz die Verhandlungen fortgesetzt wurden, bei denen neben den Vertretern der Staatsämter für Handel, Gewerbe, Industrie und Bauwesen, für Volksernährung und für soziale Fürsorge sowie den Vertretern des Metallarbeiterverbandes, der Bergarbeiter und des Bundes der Industrieangestellten seitens der ÖAMG Generaldirektor Oskar Rothballer, Betriebsdirektor Henrik Bäckström, Generalsekretär Felix Busson, Werkdirektor August Zahlbruckner, Berginspektor Ferdinand Backhaus und noch einige andere Direktoren teilnahmen, war das Thema Sozialisierung in Donawitz und See graben bereits Geschichte. Die Sozialdemokratische Partei verkaufte die bei den Verhandlungen gefassten Beschlüsse in der Folge unter dem Titel „Die Zugeständnisse der Alpinen an die Arbeiterschaft“34 als Erfolg. Diese „Erfolge“ waren, dass der Direktor nach seinem Urlaub wieder in den Betrieb zurückkehren sollte. Bis dahin war vorgesehen, dass seine Stellvertreter die Führung des Werkes übernehmen. „Ihnen und später dem rechtmäßigen Werksdirektor wird als Beirat der Betriebsrat zur Seite stehen.“ Auch soll die Werkfassung weiter in den Händen der Werksleitung bleiben und der Leiter wieder eingesetzt werden. Die Idee, sie in eine Genossenschaft umzuwandeln, wurde verworfen, doch sollte in Zukunft die Lebensmittelgebarung von einem Verwaltungsrat aus Arbeitern und Beamten überwacht werden. Lohnfragen wurden zurückgestellt, doch wurde jedem Arbeiter ein einmaliger Anschaffungsbeitrag in der Höhe von 500 Kronen gewährt.35 Die Forderung auf Einführung der Acht-Stunden-Schicht werde – wie es hieß – „vom Generaldirektor Rothballer einem eingehenden Studium unterzogen werden“. Zudem wurde eine Erhöhung der bisherigen Lebensmittelquote in Aussicht gestellt.
Nachgeschichte
Die „Sozialistische Republik Donawitz“, wie Werkssekretär Felix Busson den dortigen Sozialisierungsversuch be zeichnete, war zusammengebrochen, und selbst die sozialpolitischen Forderungen der Arbeiter wurden teilweise auf später verschoben. Mit der Vertröstung auf noch zu erlassende Gesetze war die Sozialisierung in Donawitz und Seegraben „gestorben“. Als man schließlich seitens der Staatskommission die Sozialisierung der ÖAMG in die Wege leiten wollte, wurde sie noch 1919 als Spekulationsobjekt an den italienischen FiatKonzern verkauft. 1921 erwarben die Stinnes Gruppe und 1926 die Düsseldorfer Vereinigten Stahlwerke AG die Aktienmehrheit der ÖAMG.
Noch während zwischen Vertretern der Regierung, der ÖAMG und den von Kommunisten gesäuberten Direktorien verhandelt wurde, setzte die Verfolgung der Anhänger der Kommunistischen Partei in Donawitz und Seegraben ein. Entsprechend der Anweisungen von Staatskanzler Karl Renner an die Steiermärkische Landesregierung vom 8. April 191936 wurden all jene Kommunisten, die nicht im Gebiet der nunmehrigen Republik DeutschÖsterreich geboren und heimatberechtigt waren, über die Grenze abgeschoben und jene österreichischen Staatsbürger aus dem Ort ihrer Agitationstätigkeit, in dem sie nicht heimatzuständig waren, ausgewiesen. Um diese zu erfassen, schlug Renner vor, „wird es sich insbesondere empfehlen, wenn die Behörden im gegebenen Falle sich unter anderem rechtzeitig auch mit den in Betracht kommenden Faktoren der organisierten Arbeiterschaft ihres Bezirkes ins Einvernehmen setzen“. Die Führung der Sozialdemokratischen Partei im Bezirk Leoben schritt unverzüglich ans Werk, wie aus einem Bericht des Landesgendarmeriekommandos Steiermark an das Präsidium der Steiermärkischen Landesregierung hervorgeht, wo am 18. April – die Verhandlungen waren tags zuvor be endet worden – „die organisierte sozialdemokratischen Arbeiter die Abschiebung der dort anwesenden jugoslawischen 14 Kommunisten bei der Bezirkshauptmannschaft stürmisch verlangten, welchem Ansinnen seitens dieses Amtes natürlicherweise bereitwilligst Folge gegeben wurde“.37 Unter den für fünf Jahre aus Österreich abzuschiebenden „Jugoslawen“ – in Wahrheit Untersteirer – waren auch das Direktionsmitglied Kislinger sowie die erst zehn Tagen zuvor gewählten Arbeiterräte des DrascheSchachts Anton King und Andreas Zalesnik.38
Enttäuscht über die Haltung der Sozialdemokratie in der Schlüsselfrage der österreichischen Revolution, der Sozialisierung, wandten sich in der Folge viele Arbeiter den Kommunisten zu. So heißt es in einem Bericht an die Landesregierung am 23. Juni 1919: „Die Kommunistenpartei in Donawitz ist im starken und raschen Wachsen begriffen und dürfte derzeit bereits eine starke Majorität unter der Arbeiterschaft aufweisen.“39 Dies spiegelte sich teilweise auch in den Betriebsratswahlergebnissen der folgenden Jahre wider, bei denen die Revolutionäre Gewerkschaftsopposition zumeist gleich viele Betriebsräte stellte wie die sozial demokratische Freie Gewerkschaft.40

Anmerkungen:
1/ Felix Busson: Die sozialpolitische Entwick lung in den Betrieben der ÖsterreichischAlpine Montangesellschaft, in: Fritz Erben/Maja Loehr/Hans Riehl (Hg.): Die Österreichisch Alpine Montangesellschaft 1881–1931. Wien 1931, S. 131–193; hier S. 168f.
2/ Siehe dazu u.a. Michael Schacherl: 30 Jahre steirische Arbeiterbewegung. 1890 bis 1920. Graz o.J. [1920]; Heimo Halbrainer: Sepp Filz und seine Zeit. Ein Donawitzer Arbeiter auf der Walz, im Widerstand und beim Wiederaufbau. Diplomarbeit Universität Graz 1993.
3/ Busson: Entwicklung, S. 159.
4/ Steiermärkisches Landesarchiv (StLA), Präs. E 91–922/1917, Stimmungsbericht der Polizei direktion Graz, 7.8.1917.
5/ Hans Hautmann: Der Jännerstreik 1918 und das Entstehen der Arbeiterräte, in: Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, 25. Jg. (2018), Nr. 1, S. 1–10; Hans Hautmann: Jänner 1918 – Österreichs Arbeiterschaft in Aufruhr, in: ders.: Von der Permanenz des Klassenkampfes und den Schurkereien der Mächtigen. Aufsätze und Referate für die Alfred Klahr Gesellschaft. Wien 2013 (Quellen & Studien, Sonderband 16),
S. 203–212.
6/ Johann Andritsch: Die Meuterei in Judenburg im Mai 1918. Judenburg 1968 (Judenburger
Museumsschriften 4).
7/ Josef Freudenthaler: „Eisen auf immerdar!“ Geschichte der Stadt und des Bezirkes Leoben
in Kulturbildern. Leoben 1936, S. 352. 8/ Ebd., S. 383.
9/ Busson: Entwicklung, S. 168.
10/ Der Bergarbeiterausstand in Seegraben, in: Arbeiterwille, 28.2.1919; Zur Lohnbewegung und zum Bergarbeiterausstand in Seegraben und Fohnsdorf, in: Arbeiterwille, 8.3.1919; StLA, Sth. Präs. E 91–206/1919, Berichte und Tele gramme des Landesgendarmeriekommandos Steiermark, Posten Seegraben, zwischen 23.2. und 12.3.1919.
11/ Dazu v.a. Erwin Weissel: Die Ohnmacht des Sieges. Arbeiterschaft und Sozialisierung nach dem Ersten Weltkrieg in Österreich. Wien 1976. 12/ t.j.: Wasser in den gärenden Most, in: Grazer Tagblatt, 17.4.1919.
13/ [Otto Bauer]: Der Weg zum Sozialismus. Die Vergesellschaftung der Großindustrie, in: Arbei terZeitung, 9.1.1919; Der Weg zum Sozialis mus. Die Organisierung der Industrie, in: Arbei terZeitung, 10.1.1919; Der Weg zum Sozialis mus. Die Arbeiterausschüsse, in: ArbeiterZei tung, 12.1.1919; Der Weg zum Sozialismus. Die Vergesellschaftung des Großgrundbesitzes, in: ArbeiterZeitung, 14.1.1919; Der Weg zum Sozialismus. Die Sozialisierung der bäuerlichen Wirtschaft, in: ArbeiterZeitung, 16.1.1919; Der Weg zum Sozialismus. Die Sozialisierung des Wohnbodens und der Haushaltungen, in: Arbei terZeitung, 19.1.1919; Der Weg zum Sozialis mus. Die Vergesellschaftung der Banken, in: ArbeiterZeitung, 22.1.1919; Der Weg zum Sozialismus. Die Expropriation der Expropria teure, in: ArbeiterZeitung, 26.1.1919; Der Weg zum Sozialismus. Die Voraussetzungen der Sozialisierung, in: ArbeiterZeitung, 28.1.1919. 14/ Ein Aktionsprogramm des sozialdemokrati schen Verbandes, in: ArbeiterZeitung, 21.2.1919. 15/ Staatsgesetzblatt für den Staat Deutsch österreich, Nr. 181/1919: Gesetz vom 14. März 1919 über die Vorbereitung der Sozialisierung. 16/ Der Vorstand der Sozialisierungskommissi on bestand aus Otto Bauer, Ignaz Seipel, Franz Domes, Leopold Kunschak und Viktor Wutte.
17/ Sozialdemokratische Sozialisierung, in: Die
Soziale Revolution, 15.3.1919.
18/ Dazu u.a. Arbeiterwille, 31.3.1919; Die Soziale Revolution, 2.4.1919. Vgl. StLA, Sth. Präs. E 913416/1918, H. 1, Bericht der Polizeidirektion an das Präsidium der Steier märkischen Landesregierung vom 31.3.1919; Bericht des Landesgendarmeriekommandos an das Präsidium der Steiermärkischen Landes regierung vom 3.4.1919.
19/ Der Grazer Industrielle Viktor Wutte gehörte als Mitglied der Großdeutschen Partei der Konstitutionellen Nationalversammlung und der Sozialisierungskommission an.
20/ Die Auseinandersetzung in Graz, in: Die Rote Fahne, 5.4.1919. Dazu auch: StLA, Sth. Präs. E 913416/1918, Kommunistische Partei Deutschösterreich, Ortsgruppe Graz, öffentliche Versammlung am 30.III.1919.


Felix Busson (1874–1953), General sekretär der Österreichischen Alpine
Montangesellschaft
Das Hüttenwerk Donawitz der Österreichischen AlpineMontangesellschaft um 1920.
Schachtanlage des Bergbaus Seegra ben der AlpineMontangesellschaft.

 

Veröffentlicht: 19. März 2019