100 Jahre Revolution

Aufstand von Cattaro/Kotor

Im Februar 1918 erhoben sich die österreichischen Matrosen gegen den Krieg. Aus dem Mitteilungen der Kalhrgesellschaft.

Gehorsamsverweigerung –

der Matrosenaufstand von Cattaro

Von Simon Loidl

 

Anfang Februar 1918 kam es in der Bucht von Cattaro, dem heute in Montenegro gelegenen Kotor, zu einem der größten Aufstände in der österreichisch-ungarischen Armee. Auf fast allen Schiffen des nach Pola/Pula zweitwichtigsten k.u.k.-Kriegshafens1 setzten etwa 4.000 bis 5.000 Matrosen2 ihre Offiziere fest. Sie forderten die sofortige Einleitung von Friedensverhandlungen, eine bessere Verpflegung und bessere Ausrüstung. Drei Tage nach Beginn brach der Aufstand zusammen. Der von den Seeleuten gewählte Zentrale Matrosenrat hatte auf Unterstützung von außen gewartet, doch diese traf niemals ein. Der Armee war es gelungen den Aufstand zu isolieren – unter anderem wurden Telegramme der Aufständischen an die Leitung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Wien und den ungarischen Abgeordneten Mihály Károlyi durch das Kriegshafenkommando abgefangen.3 Die Matrosen hofften auf Instruktionen und Unterstützung durch die Parteiführung. Diese erfuhr erst nach der Niederschlagung des Aufstands von diesem.

Unmittelbar auf die Niederschlagung folgte die Rache der Militärmaschinerie. In einem Standgerichtsprozess wurden Franz Rasch, Anton Grabar, Jerko Šižgorić und Mate Brničević als angebliche „Rädelsführer“ der Meuterei identifiziert und nach einem kurzen Verfahren exekutiert.

Trotz des kurzen Verlaufs des Aufstands ist dieser relativ gut dokumentiert. Im Verlauf der zahlreichen Verhöre zur Vorbereitung des Prozesses gegen die Aufständischen entstanden Berge an Akten. Denn mit der Exekution der vermeintlichen Anführer des Aufstands war das Verfahren keineswegs beendet. Hunderte Matrosen, die sich der Meuterei angeschlossen hatten, mussten sich vor dem Militärtribunal verantworten. Die habsburgische Militärbürokratie produzierte tausende Seiten an Unterlagen, die aus Verhörprotokollen und Berichten von Offizieren bestehen.4 Es kam schließlich zu zahlreichen Verurteilungen zu Kerkerstrafen, die von den Verurteilten allerdings nur mehr zu einem kleinen Teil bzw. gar nicht abgesessen werden mussten. Der Staat, der sie verurteilte, befand sich während des Prozesses im Sommer 1918 bereits in rascher Auflösung. Offiziell wurde der Prozess allerdings nicht eingestellt, sondern, wie es in einigen Unterlagen heißt, „auf unbestimmte Zeit vertagt“.5

 

Ursachen des Unmuts

Besagte k.u.k.-Bürokratie funktionierte aber selbst während dieses Auflösungsprozesses noch ziemlich gut. Aus den Prozessakten lässt sich die Stimmung rekonstruieren, die in der österreichisch-ungarischen Armee gegen Ende des Krieges herrschte. Die Versorgungslage war auch für jene Soldaten, die nicht im täglichen Kampf standen, katastrophal. Es fehlte an allem – Nahrung, Ausrüstung, Kleidung. Eine der Ursachen für den Unmut der Matrosen war denn auch die völlig unzureichende Ausrüstung; viele Soldaten hatten nicht einmal aus- reichend Kleidung.6 In einem Bericht an das k.u.k. Donauflotillenkommando vom Juni 1918 schildert ein in Odessa stationierter Korvettenkapitän den Zustand der Mannschaft und erwähnt dabei auch zuvor in Pula stationierte Soldaten. Der Offizier beschreibt das „verlotterte Aussehen“ der Mannschaft: „Oberst Freiherr von JORDIS hat mir erzählt, daß beim Einrücken der Truppen in Alexandrowsk die Mannschaft im allgemeinen einen deplorablen Eindruck machte, einzelne Leute mußten den Einzug im Mantel machen, aus dem einfachen Grund, weil sie keine Hosen hatten.“7 Insbesondere in der Marine mangelte es demnach an ordentlicher Kleidung und sonstiger Aus- rüstung: „Was nun die Marinemannschaft betrifft, sind die eigenen mißlichen Adjustierungsverhältnisse, besonders mit Bezug auf Paletots genügend bekannt, jenes der Kommandierten spottet jedoch jeder Beschreibung. Ein Großteil der Mannschaften, die gewiß nicht im guten Sinne ausgewählt wurden, ist ohne Kleidersack, ohne Dienstbuch und fast ohne Ausrüstung von Pola weginstruiert worden.“8

Zu diesen Ausrüstungs- und Versorgungsmängeln kam für die oft wochenlang unterbeschäftigten Matrosen Langeweile und sinnlose Arbeiten, während sie ihre weit besser versorgten Vorgesetzten bei Festen und sonstigen Vergnügungen beobachten konnten.9 Die „großen Schiffe aber lagen in Wartestellung. Fleet in being – seestrategisch sicher nicht ohne Bedeutung, für den Geist der Besatzungen zermürbend.“10

Gleichzeitig kam es überall in der Monarchie zu Unmutsäußerungen; die sozialen und nationalen Bewegungen erstarkten. Im Januar 1918 war es zu einer großen Streikbewegung in Wien und anderen Städten der Monarchie gekommen.11 Der Jännerstreik brachte das herr- schende Regime ernsthaft in Bedrängnis. Nur durch die tatkräftigen Bemühungen der sozialdemokratischen Parteiführung konnte der Ausstand nach einigen kleinen Zugeständnissen und unter Zurückdrängung der linken Kräfte innerhalb der sozialdemokratischen Partei beendet werden.12 Den Matrosen, die Anfang Februar den Aufstand wagten, war das endgültige Ende der Streiks noch nicht klar – der Nachrichtenfluss war schlecht in diesen Tagen, und die Matrosen hofften, durch ihre Aktion einen neuerlichen Aufschwung   der   Proteste auszulösen:

„Die Matrosen glaubten mit ihrer revolutionären Tat den kämpfenden Arbeitern im Hinterland zu helfen, wie sich auch von ihnen Hilfe erwarteten. Sie glaubten in einer Front zu stehen, die von Wien und Budapest, von Prag und Zagreb bis zu ihren Schiffen reichte. Sie wußten nicht, daß die Front in dem Augenblick, da sie die rote Fahne hißten, am anderen Ende bereits verlassen war.“13 Vor allem aber waren sich die Matrosen nicht darüber im Klaren, welche Rolle die Partei, von der sie Anweisung und Unterstützung erwarteten, bei der Beendigung des großen Streiks gespielt hatte: „Sie ahnten nicht, und sie konnten es sich nicht vorstellen, daß die Führer der Partei, die sie gelehrt hatten, den imperialistischen Krieg zu hassen, den Entscheidungskampf, der das russische Beispiel zum Vorbild hatte, nur als ‚Episode‘ ansahen. Die Matrosen von Cattaro hofften, ihre Erhebung werde das Signal zu einem österreichischen Oktober sein.“14

Die Forderungen der Matrosen

Die knapp drei Tage der Meuterei waren geprägt von Debatten der Aufständischen über die weitere Vorgangsweise. Ein Matrosenrat wurde gewählt und die von einigen Teilnehmern des Aufstands bereits vor Beginn der Aktion ausgearbeiteten Forderungen an den festgesetzten Konteradmiral Alexander Hansa übergeben. Die Liste bestand aus zwei Teilen. Neben allgemeinpolitischen Forderungen standen jene nach konkreten Verbesserungen des Alltags der Matrosen:

„Was wir wollen

  1. Maßnahmen zur Einleitung eines sofortigen allgemeinen Friedens.
  2. Vollständige politische Unabhängigkeit von anderen Mächten.
  3. Frieden auf Grund des russischen demokratischen Vorschlags, ‚ohne Annexionen etz.‘
  4. Vollständige Abrüstung (Demobilisierung) und Aufstellung der freiwilligen Miliz.
  5. Selbstbestimmungsrecht der Völker.
  6. Loyale Antwort auf Wilsons Note.
  7. Für Angehörige Eingerückter größere Unterstützung und genügende Versorgung mit Lebensmitteln und Bekleidung.
  8. Demokratisierung der Regierung.

  1. Infolge Unterernährung Weglassen jeder unnötigen Arbeit und Exerzitien. Für Korvees15 separate Kostzubuße.
  2. Mehr Landgang und von längerer Dauer.
  3. Heimaturlaub unbedingt innerhalb  6 Monate einmal in der Dauer von 21 Tagen ohne Reisetage. Für Stab gleiche Bedingungen.
  4. Einführung eines menschenwürdigen, rascheren Urlaubertransportes, Erhöhung des Kostgeldes bei Heimaturlauben und eventuell Ausfolgung der Kost in natura.
  5. Gerechte Verteilung der Schiffskost. Für Stab und Mannschaft Einheitsküche.
  6. Bessere Versorgung mit Rauchmaterialien, für Stab und Mannschaft gleich.
  7. Abschaffung der Briefzensur.
  8. Berücksichtigung von Spezialforderungen einzelner Schiffe und Boote.
  9. Keine irgend geartete Konsequenz dieser Demonstration.

Matrosendelegationen sämtlicher Einheiten.“16

 

Der sehr unterschiedliche Charakter der Forderungen – im ersten Teil weitreichende politische, im zweiten Teil konkrete, unmittelbar umsetzbare – sind wohl Ausdruck dessen, dass die Teilnehmer des Aufstandes diesen aus sehr verschiedenen Gründen unterstützten. Die schlechten Bedingungen ihres Dienstes waren aber wohl für die meisten Matrosen die Hauptmotivation für das Aufbegehren. Gleichzeitig machen die scheinbar widersprüchlichen Forderungen – bei Erfüllung der Hauptforderung nach Frieden wäre der überwiegende Teil der For- derungen nach Verbesserungen in Zusammenhang mit dem Kriegsdienst obsolet gewesen – aber auch den Zusammenhang zwischen den alltäglichen Problemen der Marinesoldaten und den großen politischen Fragen deutlich.

In einer Antwort an die Matrosen erklärte sich Admiral Hansa für den ersten Teil der Wünsche der Matrosen nicht zuständig. Hinsichtlich der anderen Punkte besteht die Antwort des Admirals aus Zurückweisungen der in den Forderungen implizierten Vorwürfe, Verspre- chungen über Verbesserungen sowie erneut Verweise auf die mangelnde eigene Kompetenz zur Umsetzung. Von besonderem Interesse ist natürlich die Antwort auf den letzten Punkt zur geforderten Straffreiheit. Hansa schrieb hierzu: „Jene Leute, die nur demonstrierten und entge- gen den Bestimmungen des Reglements bei mir jetzt erschienen, werde ich nicht strafen, da sie ja schließlich nur Bitten vorbringen. Von der strengsten Bestrafung der Meuterer jedoch, das sind insbesondere jene, die mit Handfeuerwaffen und Geschützen geschossen haben, und der Rädelsführer kann keinesfalls Abstand genommen werden.“17

Insbesondere das Versprechen über Straffreiheit für jene, „die nur demonstrierten“, spielte für den Verlauf des Aufstands eine große Rolle. Während der drei Februartage versuchten die Aufständischen, jene Schiffe, die sich der Meuterei nicht angeschlossen hatten, zur Teilnahme zu bewegen. Noch während sich der Aufstand ausweitete, begannen unter den Aufständischen bereits Diskussionen über die versprochene Straffreiheit und angekündigte Verbesserungen; Voraussetzung für diese war freilich die Kapitulation. Einige Matrosen folgten ihren Vorgesetzten, und so holten bereits am 2. Februar einige Schiffe die rote Fahne ein und wechselten die Seiten.18

Debatten  der Aufständischen

Den Entschlosseneren unter den Aufständischen war die Gefahr bewusst, die von derartigen Versprechungen ausging. Deshalb kam es von Beginn an zu heftigen Auseinandersetzungen darüber, wie mit den Offizieren umgegangen werden solle. Aus Protokollen und Zeugenaus- sagen lassen sich Debatten darüber rekonstruieren, ob die Offiziere entwaffnet werden sollen oder nicht. Ein Oberleutnant etwa schildert ein entsprechendes Ereignis in der U-Bootstation in Gjenović. Eine „20–30 Mann starke bewaffnete   Patrouille“,   geschickt  vom „Matrosenkomitee vom ‚Georg‘“ sei am Samstag [2. Februar; Anm. S.L.] zum U-Bootstationskommando geschickt worden mit dem Auftrag, die Offiziere zu entwaffnen und einzusperren. Die Anführer der Patrouille „führten jedoch diesen Auftrag nicht aus, begnügten sich vielmehr mit der Erklärung der Offiziere, gegen die Mannschaft nichts unternehmen zu wollen. Ein Teil der draußen vor der Baracke wartenden Meuterer war jedoch damit nicht einverstanden und forderte die Entwaffnung.“19 Darauf kam es zu „einem heftigen Wortwechsel“. Die Patrouille verließ die Station, nachdem die Mannschaft versichert hatte, für die Bewachung der Offiziere zu sorgen, was offenbar hier – wie anderen Schilderungen zu Folge teilweise auch auf den Schiffen – nur halbherzig durchgeführt wurde: „Die Posten hielten pro forma Dienst, ohne jedoch die Offiziere in ihrer Bewegungsfreiheit irgendwie zu hindern.“20

Mangelnde Klarheit darüber, was mit dem Aufstand erreicht werden sollte bzw. wie vorgegangen werden musste, führte in Kombination mit einem teilweise fast kameradschaftlichen Verhältnis zwischen einfachen Soldaten und Vorgesetzten in den oft nur mit wenigen Dutzend Soldaten bemannten Schiffen, sowie mit der Hoffnung auf Straffreiheit zu dem halbherzigen Agieren vieler Aufständischer.

Das individuelle Verhalten Einzelner spielte auch während des Prozesses eine zentrale Rolle – dabei ging es den Anklägern nicht zuletzt darum, „Rädelsführer“ ausfindig zu machen. Deshalb existieren auch Berichte über entschlosseneres Vorgehen von Einzelnen, deren Namen in der Regel nicht Eingang in die Literatur gefunden haben, obwohl sie durch ihre Handlungen energisch und ohne Rücksicht auf die Versprechungen ihrer Vorgesetzten versuchten, den Aufstand weiterzutreiben. In allen Darstellungen geraten durch die Konzentration auf die Aktivitäten des Zentrums des Aufstands um Franz Rasch Handlungen in anderen Bereichen in den Hintergrund. Immerhin beteiligten sich aber mehrere tausend Matrosen an der Aktion, in allen aufständischen Untereinheiten gab es rege Debatten über die Teilnahme und dementsprechend Personen, die sich in die eine oder andere Richtung stark exponierten. Als Beispiel sei der Matrose Josef Zanchi angeführt, der maßgeblich für Beteiligung der Mannschaft in der U- Bootstation Gjenović am Aufstand verantwortlich war. In dem Bericht des bereits zitierten Oberleutnant wird Zanchi als „Haupträdelsführer auf der Ubootstation“ bezeichnet, der insbesondere „regen Anteil an der Entwaffnung u. Verhaftung der Offiziere und an der ganzen Meuterei“ hatte. Als die vom Matrosenkomitee entsandte Patrouille aufgrund der Versicherung der Offiziere, nichts gegen die Mannschaft zu unternehmen, diese nicht entwaffnen wollte, setzte sich Zanchi dieser Darstellung nach vehement dafür ein, die Offiziere vollständig zu entwaffnen und unter Bewachung einzusperren: „Die Entwaff- nung und Internierung der Offiziere der Ubootstation ist wohl in erster Linie dem Beschuld. auf’s Kerbholz zu schreiben.“21 Außerdem sei Zanchi „derjenige gewesen, der Posten vor der Offiziersbaracke aufstellte, damit die Offiziere nicht hinausgehen.“22

Allerdings gibt der Berichtende zu bedenken, dass „der Vorfall mit der Entwaffnung und Internierung der Offiziere im Vorverfahren nicht bis in Detail aufgeklärt werden konnte, da es keinen Augenzeugen gibt, der den ganzen Vorfall genau gesehen hätte. Auf der Ubootstation war ein derartiges Durcheinander, dass einzelne Zeugen nur Bruchstücke des ganzen wiedergeben können. Die ganze Sache wird erst die Hauptverhandlung völlig aufklären können. – Dies steht aber fest, dass bei Zanchi der spiritus agens gewesen ist.“23

Der Zeuge wirft dem Matrosen zudem vor, die Versuche der Offiziere, mittels Versprechungen und Appellen an die Kameradschaft die Aufständischen auf ihre Seite zu ziehen, hintertrieben zu haben: „Er begann schon am Freitag Abends [1. Februar, somit wenige Stunden nach Beginn des Aufstands; Anm. S.L.] die Mannschaft gegen die Offiziere zu hetzen.“ So soll er etwa „als die Offiziersdiener das Nachtmahl der Herren auf ‚Pannonia‘ trugen geäußert haben, man solle ihnen die Teller und Schüsseln abnehmen.“24

Aufschlussreiche Quellen sind auch die Gedächtnisprotokolle von Offizieren, in denen diese den Verlauf des Aufstands schilderten. Da berichten etwa hohe Militärs davon, wie es unmittelbar nach Beginn des Aufstands bzw. bereits zuvor25 zu zahlreichen individuellen Un- mutsäußerungen durch die Matrosen gekommen sei. Matrosen auf Landgang spuckten vor Höherrangigen aus, verweigerten Ehrbezeugungen etc. Natürlich müssen derartige Berichte von Offizieren, die immerhin in Zusammenhang mit den Prozessen entstanden sind, mit Vorsicht gelesen werden. Doch der Eindruck, der auch durch Zeitzeugenberichte aus späteren Jahren sowie durch die Verhörprotokolle entsteht, ist, dass viele Matrosen sich durch den Beginn des Aufstands ermutigt fühlten, lange aufgestauten Frust endlich abzulassen.

Ende des Aufstands

Am dritten Tag des Aufstands und nach Verstreichen eines Ultimatums des Kriegshafenkommandos kam es auf dem Flaggschiff „Sankt Georg“ zu einer Abstimmung über Abbruch oder Weiterführen des Aufstands. Zu diesem Zeitpunkt war die Moral der Matrosen bereits an einem Tiefpunkt angelangt. Die aufgrund der Isolierung ausbleibende Unterstützung von außen hatte zu hektischen Diskussionen im Matrosenrat geführt. Während einige für weiteres Zuwarten plädierten, wollten andere aus der Bucht hinausfahren, um der Bedrohung durch die Landbatterien zu entgehen und um nicht im Hafen eingeschlossen zu werden. Der Ausbruch passierte nicht, die Untätigkeit ließ mehr und mehr unentschlossene Matrosen an einem Erfolg des Aufstands zweifeln, auf den meisten Schiffen hatten die Offiziere bereits wieder das Kommando übernommen. Die revolutionären Matrosen hatten zu früh die Anfangsinitiative verloren: „Hätten die Matrosen versucht, den eisernen Ring, der um sie gelegt war, zu durchbrechen, die Landtruppen auf ihre Seite zu bringen, die Zivilbevölkerung zum offenen Aufstand zu bewegen, wäre der Matrosenrat aus seiner selbstgewählten Igelstellung ausgebrochen, aus der Defensive in die Offensive übergegangen – die Ereignisse hätten einen anderen Verlauf genommen.“26 All dies war aber nicht passiert, und so endete die Abstimmung auf der „Sankt Georg“ mit der endgültigen Niederlage für die revolutionären Matrosen.27 Die Versprechen des Admirals und der Offiziere waren sofort vergessen, die „Rädelsführer“ sowie knapp vierhundert weitere Matrosen wurden festgenommen und die Verfahren begannen.

 

Rezeption des Matrosenaufstands

Obwohl der Aufstand der Matrosen einen tragischen Verlauf nahm und sein Ziel verfehlte, spielte er in späterer Zeit immer wieder eine Rolle in der politischen Debatte. Aufgrund der Rolle der sozialdemokratischen Parteiführung – die auch nachdem sie spätestens ab Mitte Februar 1918 von der Meuterei und den Exekutionen wusste, dies aber aus Staatsräson nicht öffentlich machte28 – wurden die besiegten revolutionären Matrosen von Cattaro für die Linke in- und außerhalb der österreichischen Sozialdemokratie zu einem Symbol für den Verrat der SDAP-Führung. Franz Rasch wurde zu einer Symbolfigur des aufrechten und selbstlosen Kämpfers, dessen Ermordung aus dieser Perspektive letztlich nicht nur das Standgericht, sondern auch die sozialdemokratische Führung zu verantworten hatte.

Zudem eignete sich das Kapitel des Matrosenaufstands, um die für die Endphase der Monarchie so zentrale Verzahnung von nationalem und sozialem Aufbegehren zu diskutieren. Diese Frage spielte für die gesamte österreichisch-ungarische Armee eine ganz zentrale Rolle – immerhin spiegelten sich in der militärischen Armee die sozialen und nationalen Spaltungen innerhalb der Monarchie besonders gut. In der Marine waren allerdings auf allen Ebenen Vertreter slawischer Nationen in relativ hohem Ausmaß zu finden: „Im Marineoffizierskorps  war  auf  der  sozialen Ebene der Anteil des Adels, auf der nationalen Ebene zusätzlich der Anteil der Südslawen als relativ stark anzusetzen.“29 Auch in der Mannschaft waren „Südslawen und Italiener […] stark überrepräsentiert“.30 Plaschka spricht von „34% Kroaten, Serben und Slowenen“, wobei hinsichtlich der „sozialen Struktur […] der Anteil von dalmatinischen und istrischen Küstenbewohnern, vorwiegend Fischern, und Facharbeitern aus dem Hinterland, vor allem Maschinenfacharbeitern, überdurchschnittlich“ gewesen sei.31 Angesichts dieser Zusammensetzung ist die relativ starke Verbreitung von Ideen der nationalen Bewegungen der Monarchie in der Marine und die Rolle, welche diese auch für die Aufständischen spielten, nicht  weiter verwunderlich.   Durch „Deutsche und Tschechen“, die im „Maschinen- und Elektropersonal relativ stark vertreten“ waren,32 hatten zudem „auch Gesinnungsimpulse der sozialdemokratischen Parteien aus dem Inneren der Monarchie Zugang in die Einheiten gefunden.“33 Diese beiden für die gesamte Monarchie zentralen Komplexe der ungelösten Nationalitätenfrage und der mit dem Verlauf des Krieges immer drängenderen sozialen Frage, liefen bei den Marinesoldaten zusammen: „Soziale und nationale Fragen bewegten und bohrten. Wo war das Schwergewicht? Die Mangelerscheinungen in den lebensnächsten Bereichen gaben dem Unwillen und der Bereitschaft zum Aufbegehren die primär soziale Prägung.“34

 

Von der Zwischenkriegszeit bis in die 1980er Jahre entstanden mehrere literarische Bearbeitungen des Stoffes. Als wichtigste wären zu nennen das Theaterstück „Die Matrosen von Cattaro“ von Friedrich Wolf (1930), die Erzäh- lung „Begegnung im Morgengrauen“ aus dem Band „Vom Baume der Frei- heit“ der kommunistischen Schriftstellerin und Journalistin Eva Priester (1955), das umfangreiche Werk „Catta- ro. Roman aus den letzten Tagen der k. und k. Kriegsmarine“ von Franz Xaver Fleischhacker (1957) sowie ein Kapitel in Alfredo Bauers Roman „Die Vorgänger“, geschrieben in den 1980er Jahren auf Spanisch und erst kürzlich (2012) auf Deutsch erschienen.

Trotz unterschiedlicher Schwerpunkte, die die Autoren in ihren jeweiligen Auseinandersetzungen mit dem Aufstand setzen, sind sie sich in ihrer grundsätzlichen Einschätzung des Aufstands einig. Die Hauptursache für die Niederlage der Matrosen von Cattaro war demnach, dass ihre Erhebung isoliert blieb. Wären die Nachrichten der Aufständischen nach außen gedrungen, darüber sind sich die Autoren einig, dann hätte Cattaro zu einem auslösenden Moment für eine breite revolutionäre Bewegung werden können.

Das bedingungslose Vertrauen in die SDAP-Führung hatte zur Folge, dass die Matrosen während der Tage des Aufstands vor allem auf Nachricht und Unterstützung von außen warteten. In den literarischen Bearbeitungen des historischen Stoffs wie auch in den Inter- pretationen in Dokumenten und Veröffentlichungen der Kommunistischen Partei Österreichs wird daran die politische Unreife der Aufständischen demonstriert. Die abwiegelnde Reaktion der SDAP-Führung auf die Nachrichten über die standrechtlichen Erschießungen von meuternden Matrosen wiederum präsentieren die Autoren als symptomatisch für die Rolle der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei während des Ersten Weltkrieges.

Es ist müßig zu erwähnen, dass der Matrosenaufstand von Cattaro im offiziellen Geschichtsbewusstsein in Österreich keine Rolle spielt. In Schulbüchern sucht man die Episode vergeblich. Und wie zehntausende andere Opfer der habsburgischen Militärmaschinerie sind auch die vier in Cattaro exekutierten Matrosen im kollektiven Gedächtnis der Österreicherinnen und Österreicher nicht vorhanden.

 

Dieser Text erschien zuerst in  dem  von

„Helle Panke“ e.V. – Rosa-Luxemburg-Stiftung  Berlin  herausgegebenen Band

 

„Erster Weltkrieg – ‚Urkatastrophe‘ und Widerstand. Materialien einer Konfe- renz.“ Berlin 2014 (Reihe „Pankower Vorträge“, Heft 189).

 

Quellen:

Österreichisches Staatsarchiv, Kriegsarchiv, Militärgerichtsakten (ÖStA, KA, MGA) Cattaro Prozess, Kumbor, Gjenovic, U-Station, Fasz. 2. ÖStA, KA, Präsidialkanzlei (PK) 1918 XV 4/61– 4/90 Kt 988.

Der Prozeß in Cattaro, in: Arbeiter-Zeitung, 19.10.1918.

 

Literatur:

Alfredo Bauer: Die Vorgänger. Romanzyklus. Wien: Theodor Kramer Gesellschaft 2012 (Anti- faschistische Literatur und Exilliteratur, Bd. 22). Julius Braunthal: Auf der Suche nach dem Mille- nium. Wien u.a.: Europa-Verlag 1964.

Franz Xaver Fleischhacker: Cattaro. Roman aus den letzten Tagen der k. und k. Kriegsmari- ne. Wien: Globus-Verlag 1957.

Bruno Frei: Die roten Matrosen von Cattaro. Eine Episode aus dem Revolutionsjahr 1918. Wien: Verlag der Wiener Volksbuchhandlung 1927.

Bruno Frei: Die Matrosen von Cattaro: Neue Forschungen, in: Weg und Ziel, Nr. 6, Juni 1962, S. 447–452.

Bruno Frei: Die Matrosen von Cattaro. Eine Epi- sode aus dem Revolutionsjahr 1918. Wien: Glo- bus-Verlag 1963.

 

 

Hans Hautmann: Geschichte der Rätebewegung in Österreich 1918–1924. Wien, Zürich: Europa- Verlag 1987.

Historische Kommission beim Zentralkomitee der KPÖ (Hg.): Die Kommunistische Partei Österreichs. Beiträge zu ihrer Geschichte und Politik. Wien: Globus-Verlag 19892.

Richard Georg Plaschka: Cattaro – Prag. Revol- te und Revolution. Kriegsmarine und Heer Österreich-Ungarns im Feuer der Aufstands- bewegungen vom 1. Februar und 28. Oktober 1918. Graz, Köln: Böhlau 1963.

Richard Georg Plaschka/Horst Haselsteiner/ Arnold Suppan: Innere Front. Militärassistenz, Widerstand und Umsturz in der Donaumonar- chie 1918. Bd. 1: Zwischen Streik und Meuterei; Bd. 2: Umsturz. Wien: Verlag für Geschichte und Politik 1974.

Richard Georg Plaschka: Avantgarde des Widerstands. Modellfälle militärischer Auf- klärung im 19. und 20. Jahrhundert. Bd. 1 und

2. Wien, Köln, Graz: Böhlau-Verlag 2000.

Eva Priester: Begegnung im Morgengrauen, in: Vom Baume der Freiheit. Sechs historische Erzählungen. Wien: Globus-Verlag 1955.

Hans Hugo Sokol: Österreich-Ungarns Seekrieg 1914–18. Graz: Akademische Druck- und Ver- lags-Anstalt 1967 (Unveränderter Nachdruck der in Wien erschienenen Ausgabe von 1933). Friedrich Wolf: Die Matrosen von Cattaro. Stücktext/Dokumente zur Wirkungsgeschichte, hg. von Klaus Hammer. Leipzig: Reclam 1988.

 

Anmerkungen:

1/ Richard Georg Plaschka: Avantgarde des Widerstands. Modellfälle militärischer Aufklärung im 19. und 20. Jahrhundert. Bd. 1. Wien, Köln,

Graz 2000. S. 248; Richard Georg Plaschka/Horst Haselsteiner/Arnold Suppan: In- nere Front. Militärassistenz, Widerstand und Um- sturz in der Donaumonarchie 1918. Bd.1: Zwi- schen Streik und Meuterei. Wien 1974. S. 108.

2/ Plaschka, Avantgarde, S. 246.

3/ Vgl. Bruno Frei: Die Matrosen von Cattaro. Eine Episode aus dem Revolutionsjahr 1918. Wien 1963. S. 108–110.

4/ Das umfangreiche Archivmaterial ermöglicht HistorikerInnen heute recht gute Einblicke in den Verlauf des Matrosenaufstands. Insbesondere der Historiker Richard Georg Plaschka hat in mehreren seit den 1960er Jahren erschienen Büchern und Aufsätzen die drei Tage des Auf- stands minutiös rekonstruiert. Vgl. neben den bereits genannten Werken: Richard G. Plaschka: Cattaro – Prag. Revolte und Revolution. Kriegs- marine und Heer Österreich-Ungarns vom 1. Fe- bruar und 28. Oktober 1918. Graz, Köln 1963.

5/ Vgl. Frei, Matrosen, S. 105f. 6/ Plaschka, Avantgarde, S. 250.

7/ ÖStA, KA, PK 1918 XV 4/61–4/90 Kt. 988.

8/ Ebd.

9/ Plaschka, Cattaro – Prag, S. 19–26. 10/ Plaschka, Avantgarde, S. 248f.

11/ Zum Jännerstreik vgl. etwa Hans Hautmann: Geschichte der Rätebewegung in Österreich 1918–1924. Wien, Zürich 1987, S. 153–176.

12/ Zur Rolle der SDAP-Führung beim Abbruch des Jännerstreiks vgl. ebd., S. 174–176.

13/ Frei, Matrosen, S. 21. 14/ Ebd., S. 21.

15/ „Korvees“ wurde die Heranziehung der Matrosen für Arbeiten an Land genannt. Diese waren bei den Matrosen besonders unbeliebt, weil sie nicht in ihren eigentlichen Aufgaben- bereich fielen, mit großer körperlicher Anstren- gung verbunden waren und manchmal in Zusammenhang mit Verbesserungen des Lebens der Vorgesetzten standen; so wurden unter anderem auch Sportstätten für die Offizie- re errichtet.

16/ Zit. nach Plaschka, Cattaro – Prag, S. 59; siehe auch Frei, Matrosen, S. 135.

17/ Zit. nach Plaschka, Cattaro – Prag, S. 61. 18/ Frei, Matrosen, S. 68–70.

19/ÖStA, KA, MGA, Cattaro Prozess, Kumbor, Gjenovic, U-Station, Fasz. 2, Bl. 658.

20/ Ebd., Bl. 658f.

21/ Ebd., Bl. 667.

22/ Ebd., Bl. 668.

23/ Ebd., Bl. 668f.

24/ Ebd., Bl. 667.

25/ Plaschka, Cattaro – Prag, S. 17–19. 26/ Frei, Matrosen, S. 70f.

27/ Plaschka, Cattaro – Prag, S. 178–180.

28/ Vgl. Julius Braunthal: Auf der Suche nach dem Millennium. Wien u.a. 1964, S. 203; siehe auch Frei, Matrosen, S. 111–114.

29/ Plaschka, Avantgarde, S. 246. 30/ Ebd., S. 246.

31/ Ebd., S. 246.

32/ Ebd., S. 246.

33/ Ebd., S. 247.

34/ Ebd., S. 249.

Veröffentlicht: 1. Februar 2018