100 Jahre Republik

Albert F. Reiterer zum Verhalten der politischen Klasse

Das österreichische Jubiläum schlechthin! Das könnte man glauben. Als am 11./12. November 1918 vor dem Parlament die Republik („Deutsch“-) Österreich ausgerufen wurde, gab es die Möglichkeit für eine neue Gesellschaft und einen neuen Staat. Sie wurde vorerst von der politischen Klasse verjuxt. Heute allerdings sind wir überzeugt: Wir schulden der Existenz dieses Staats einen nicht geringen Teil unseres alltäglichen Wohlbefindens. Wir hätten also allen Grund, seine Existenz zu feiern.

Text auf der Seite Selbstbestimmtes Österreich

 

Aber für die politischen Eliten und ihre intellektuellen Lohnschreiber ist das Datum eine echte Verlegenheit.

1918 waren diese Gruppen auf Deutschland orientiert, auf das Deutsche Reich, wie es passend hieß. Heute sind sie es wieder, sprechen aber lieber von „Europa“. Noch zu stark ist die Erin­nerung, was dieses Deutschland Österreich und seinen Menschen, u. a., seinerzeit angetan hat. Und dann noch was: 1918, das war der Zerfall und die Zerschlagung des Habsburger-Imperi­ums. Das aber läuft dem heute dominanten Erzählmuster zuwider. Wir sollen ja inzwischen das Übernationale schätzen und hoch verehren. Es soll das einzig Zulässige sein. Die Nation Österreich entstand auf den Trümmern dieses Imperiums. Ein Großteil seiner Bevölkerung, seiner Völker hat es gehasst. Damals, im November 1918, wurde trotz allem, was folgte und gegen den Willen der politischen Klasse, die Grundlage dieses Staats, des neuen Österreichs gelegt. Die zeitgenössischen Intellektuellen allerdings haben es verteufelt. Schon im Novem­ber 1918 wollten die Politiker diesen neuen Staat möglichst schnell wieder zum Verschwin­den bringen – gegen den Willen vieler, vermutlich einer Mehrheit, in der Bevölkerung. So steht damals die Republik Österreich für die Selbstbestimmung der Bevölkerung – aber gegen den Willen der politischen Klasse. Die Geschichtsschreibung, die journalistische wie auch die akademische, hat dies umgelogen: „Der Staat, den keiner wollte“, so schrieben die alten und neuen Deutschnationalen. Und damit wiederholt sich heute, auf einer neuen Ebene, die Ge­schichte. Wieder steht die Bevölkerung gegen die politische Klasse und ihre Intellektuellen.

Die damalige Sozialdemokratie hatte mit Karl Renner und Otto Bauer ihr Ideal bereits in der Vorkriegszeit formal fixiert. Sie wollte dieses Imperium, aber unter ihrer eigenen Führung. Seine Modernisierung unter ihrer Verwaltung – und nicht eine Revolution – sollte ihr Werk sein. Die Dominanz der deutschsprechenden Bürokratie, der deutschen Bourgeoisie und jetzt, zur Ergänzung, der deutschen Sozialdemokratie oder vielmehr ihres Partei-Vorstandes sollte erhalten bleiben. Wer aus einer z. B. slawisch sprechenden Nation kam, sollte sich assimilieren; dann war er willkommen.

Nun, 1918, war dies illusorisch. Also wollte die Sozialdemokratie möglichst schnell „heim ins Reich“. Die Sozialdemokratie und ihr Außenminister Otto Bauer wurden zu den eigentlichen Betreibern des Anschlusses.

Die Christlichsozialen („und Antisemiten“ – vor dem Krieg offizieller Parteiname) wurden überrumpelt. Sie hätten sich gewünscht, dass möglichst wenig geändert wird. Sie waren Reaktionäre, nicht Transformisten. Der archaische autoritäre Staat war ihnen „Gotteswerk“ (Seipel). Doch im November stimmten auch ihre Abgeordneten für den Anschluss. Sehr viele unter ihren Anhängern war dies gar nicht recht. In der Provinz hatten sie das Heft in der Hand. Der politische Katholizismus stellte ihnen seine Organisation zur Verfügung. Im Deutschen Reich konnte dies gefährdet sein, schon allein, weil dort eine evangelische Mehrheit lebte. Das „verjudete Wien“ hingegen konnte man irgendwie isolieren, eingrenzen. Das war denn auch der Hauptgrund, dass die Stadt nach einigen Jahren ein eigenes Bundesland wurde.

Die kleine, aber lautstarke Schicht der Intellektuellen stand für den Anschluss ohne Wenn und Aber.

Das Versagen der politischen Klasse in toto und die deutschnationale Ausrichtung der Intel­lektuellen ist ihnen heute eine Peinlichkeit. Daher möchten sie von 1918 möglichst schwei­gen. Seit den 1990ern passt 1918 auch nicht mehr zur dominanten Politik. Zum Unterschied von 1918 sprechen aber nicht mehr Leute wie K. Renner oder O. Bauer für die Sozialdemo­kratie. Die hatten immerhin eine gewisse intellektuelle Potenz und konnten ihre Sicht auch noch gut vermitteln. Heute müssen wir uns dort mit Gestalten wie F. Vranitzky, H. Fischer und Ch. Kern / P. Rendi-Wagner / Th. Dozda zufrieden geben.

Die hegemonialen Literaten sind auch wieder dort, wo sie auch 1918 schon waren. In den 1970er / 1980er haben sie gejammert, wie unterdrückt sie wären. Das war schon damals Chuzpe und Lüge. Nun aber sind sie nicht mehr einfach hegemonial. Sie sind inzwischen dominant. Wer es heute wagt, ein kritisches Wort gegen Jelinek und Menasse zu sagen, ist nicht nur sofort marginalisiert. Er / Sie stellt seine berufliche Existenz in Frage, wenn diese sich im para-öffentlichen Bereich abspielt, in der Schule, auf den Unis oder auch im sonstigen Kulturbetrieb.

Jelinek, Menasse und die anderen, deren Namen man sich nicht merkt, stehen im Grund auf einer Ebene mit Andreas Mölzer. Der ist nur ein bisschen hinten nach, erst im Jahre 1861 und bei Bismarck angelangt statt bei Merkel, oder wer demnächst die deutsche Bezugsperson sein wird. Es kann aber auch Macron oder Tsipras sein. Der Unterschied ist sowieso nur persön­lich. Und statt Bismarck, dieses altadeligen Früh- und Klein-Hitler, kann auch Juncker oder Moscovici stehen.

Die österreichische politische Klasse hat also Schwierigkeiten mit der österreichischen Geschichte. Das zeigt sich am besten am „Haus der österreichischen Geschichte“. Nach vielen Jahren Bemühungen seitens einiger SP-naher und grün-affiner Intellektuellen mit Hang zur Orwell’schen Geschichts-Transformation gibt es dieses HdöG jetzt. Man sollte wirklich das Interview im „Standard“ vom 3./4. November lesen. Dort gibt die Direktorin Auskunft über ihre Absichten, und auch über die neuesten Probleme. Denn jetzt gibt es eine ÖVP-Regierung. Das heißt, man muss z. B. für den Austrofaschismus eine Bezeichnung finden, welche die Dollfuß-Nostalgiker in der ÖVP nicht vor den Kopf stößt. „Kanzlerdiktatur“? „Der Begriff leistet viel“ – die Direktorin Sommer bezieht sich dabei auf einen ÖVP-Partei-Historiker und politischen Beamten. „Unser Vorschlag ist ‚Dolfuß-Schuschnigg-Diktatur’.“ Das ist ja wirklich das Beste. Da ist der Faschismus draußen und die Diktatur auf eine persönliche Angelegenheit, eine Marotte von Dollfuß und Schuschnigg reduziert! Das also haben wir vom HdöG zu erwarten!

Wir haben hier nicht den Faschismus zum Thema. Aber wir kommen natürlich nicht darüber hinweg. Die jüngsten Auseinandersetzungen der EU mit Italien zeigen Eines: Noch versucht das Imperium, auf dem bisherigen Weg des Legalismus und der Bürokratie zu arbeiten. Aber möglicherweise, das wissen wir noch nicht, wird das bei Italien so nicht funktionieren. Wie das Hollande- und Macron-Frankreich mit seinen verewigten Notstandsgesetzen zeigt, ist der Weg in einen neuen Faschismus nicht so ganz ausgeschlossen. In Spanien ist die Regierung mit Hilfe der EU gegen die Katalanen, welche gewaltfrei ihre Selbstbestimmung anstreben, mit Gewalt und Gefängnis vorgegangen, die Volkspartei und die PSOE gleichermaßen.

Die Brüsseler Bürokratie zieht sicherlich die Legalität und die Advokaten-Tricks vor. Sie berufen sich auf die Verfassungen, welche sie gerade mit schmutzigen Tricks geändert haben. Was aber, wenn dies nicht mehr funktioniert? Das Agieren sowohl gegen Großbritannien wie auch jetzt gegen Italien ist nicht mehr allzu weit von faschistischen Machteinsätzen entfernt. Man will beide Länder zerstören, wenn sie auf ihrer Selbstbestimmung beharren. Allerdings dürfen wir natürlich nicht Aufmärsche wie seinerzeit mit SA usw. erwarten, oder sonstige altfaschistische Folklore. Das liegt der Bürokratie als elitärer Behörde nicht. Über die neuen Formen wissen wir noch nicht Bescheid. Die liberalen Intellektuellen werden aber dabei eine ebensogroße Rolle spielen, wie seinerzeit die deutschnationalen bei den Nazis oder die italienischen Chauvinisten bei den dortigen Faschisten.

Österreich feiert seine Gründung also nicht. Vielmehr gibt es ein Kontrast-Programm. Einige Literaten werden einen Aufruf zur Auflösung der Republik vom Balkon irgendwelcher Theater – aber auch eines Gemeindebaus, des Liebknechthauses: ein Gustostück mit ausge­wähltem Zynismus – verlesen. Warum nicht vom Hitler-Balkon auf dem Heldenplatz? Die Zerstörung der Republik wird wie seinerzeit also wieder von der politischen Klasse gefördert, offenbar auch von der Wiener Stadtregierung. Es ist die Verneinung der österreichischen Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg, denn die hat auch den Unterschichten und den Arbeitern ein bisschen Wohlstand gebracht.

Täuschen wir uns nicht! Dieses Literaten-Grüppchen mag lächerlich wirken, und die Theater-Balkone passen durchaus zu ihnen. Aber sie haben die Macht der Eliten und der politischen Klasse hinter sich. Zur Ablenkung demonstrieren einige von ihnen auch gegen die Regierung. In ihren Inhalten aber vertreten sie das Kurz-Programm. Die („links“-)liberale Hegemonie bröckelt zwar, und das ganze europäische Gebäude ächzt gewaltig. Aber der Prozess der Zerstörung unserer bescheidenen Demokratie und ihrer Errungenschaften für die Unten ist weit fortgeschritten. Manchmal scheint es geradezu unmöglich, ihn noch zu stoppen. So könnte unsere Erinnerung an 100 Jahre österreichische Republik zur Leichenfeier unserer Demokratie werden – wenn wir nicht mit aller Kraft dagegen halten.

 

 

Veröffentlicht: 13. November 2018