Das Schweigen über „Brain Drain“ brechen!

Kritik der Fiktion einer Transformation von Brain-Drain in Brain-Circulation

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In den Medien dreht sich seit Monaten viel um die sog. Flüchtlingsströme. In Deutschland und Österreich gibt es rassistische Demonstrationen von PEGIDA, NPD und FPÖ, die sich gegen Flüchtlinge richten. Konstatin Wecker wird in „Die Presse“ vom 5.7.15 wie folgt zitiert: „Unser Wirtschaftssystem erzeugt genau diese Armut, von der diese Menschen flüchten“. Ob diese Flüchtlingsströme jemandem dienen und wem, bleibt eine offene Frage. Auf jeden Fall strömt die Intelligenz der Neokolonien seit Jahrzehnten in die imperialistischen Hochburgen und wird auch aktiv abgeworben. Der Autor Dipl.-Ing. Lion Wagner bricht mit dem Schweigen über Brain-Drain und zeigt die wesentlichen Zusammenhänge dieses „Abflusses von Gehirnen“. Während es zu DDR-Zeiten noch spannende Publikationen zu diesem Thema gab, ist es aktuell relativ ruhig darum geworden. Die Idee der Broschüre ist nach einem vom Autor gehaltenen Vortrag beim Hochschulpolitischen Winterkongress des fzs (freier Zusammenschluss von StudentInnenschaften) entstanden. 

Schon ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis zeigt den wissenschaftlichen Anspruch und die systematische Vorgehensweise des Autors. Das Thema „Brain-Drain“ wird ausgehend von den Erscheinungen und hin zum Wesen analysiert sowie der Zusammenhang zum Neokolonialismus hergestellt. Als „Brain-Drain-Länder“ gelten dabei „Länder, mit einem im Vergleich zu den kapitalistischen Zentren niedrigem Verhältnis von konstantem zu variablem nationalem Kapital (Begriffsbestimmung durch Relation)“ (S.38). Diese Definition, die von Erscheinungen abstrahiert und das Wesentliche ausdrückt, wird ergänzt durch den Begriff „Intelligenztransfer“: „Intelligenztransfer ist ein Transfer derjenigen Hauptproduktivkraft Mensch, die wegen ihrer Fähigkeit komplizierte Arbeit zu leisten enorme Mehrwertgrößenmassen produziert und somit die nationale Kapitalakkumulation und Kapitalverwertung steigert bzw. senkt“ (S.5). Damit beschreibt Wagner, dass es den imperialistischen Mächten beim Brain-Drain um die Mehrwertaneignung geht. Laut der marxschen Werttheorie stellt gerade die komplizierte Arbeit, die von der Intelligenz betrieben wird, multiplizierte Arbeit dar, wodurch also relativ viele Mehrwertgrößen durch die Ausbeutung angeeignet und der nationalen Kapitalverwertung zur Verfügung gestellt werden können.

Nach den Begriffsbestimmungen wird dann im ersten Kapitel eine Klassifikation der Länder bezüglich des Intelligenztransfers vorgenommen. Dabei ordnet der Autor unter anderem Länder wie Griechenland, Portugal und Spanien (neben vielen asiatischen, afrikanischen und latein-amerikanischen Ländern) als Brain-Drain-Länder ein. Auf der anderen Seite stehen die „Brain-Gain-Länder“, die eine positive Bilanz von Verlust und Gewinn des Intelligenztransfers in der Nationalökonomie aufweisen. Darunter sind „die USA, Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Kanada, wobei die USA eine Spitzenposition einnimmt“ (S.3).

Im zweiten Kapitel werden die Ursachen des Intelligenztransfers behandelt. Nach einer Auflistung von Motiven für die Migration kommt der Autor zu dem Schluss, dass der Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen Hauptursache für Intelligenztransfer ist und dieser Widerspruch aufgrund des Systems des Neokolonialismus innerhalb des Kapitalismus nicht gelöst werden kann (S. 4). 

Der Autor entwickelt eine diskussionswürdige Klassifikation des Intelligenztransfers unter Kapitel 3 und zeigt damit, dass es unterschiedliche Arten von Intelligenztransfer gibt. Der Autor verfügt dabei offensichtlich über Kenntnisse, wie man Klassifikationen wissenschaftlich ausarbeitet. 

Besondere praktische Relevanz hat danach das Kapitel 4, in dem häufige Rechtfertigungsgründe (z.B. wie: „Vorübergehende Intelligenzverluste führen zu Intelligenzgewinnen, wenn ihre Träger fortgebildet werden und mit neuen Ideen remigrieren. …“) für die Abwerbung von Intelligenz genannt und systematisch widerlegt werden. Dadurch erhält man eine nützliche Argumentationshilfe bei Diskussionen zum Thema. Höchst Interessant ist auch das „Blockschaltbild zur anschaulichen Widerlegung eines behaupteten Intelligenztransfers über Intelligenztransfer-Netzwerke“ im Abschnitt 4.1. Darauf folgend werden fünf Bilanzfälle des Intelligenztransfers untersucht, um auch quantitative Aussagen zum Thema zu treffen. Kapitel 5 beschäftigt sich mit dem Intelligenztransfer als ein Element des Systems Neokolonialismus. Der Neokolonialismus wird vom Autor als Teilsystem des Systems der kapitalistischen Weltwirtschaftsbeziehungen verstanden und somit nicht isoliert, sondern auf dialektische Weise betrachtet. Allein innerhalb des Neokolonialismus gibt es laut dem Autor acht Ausbeutungsformen, die „die Aneignung von fremdnationalen Mehrwertgrößen“ zum Ziel haben (S. 31). „Die Entwicklungsstrategie der kapitalistischen Zentren zielt auf eine Nutzbarmachung des Intelligenzpotentials der in Milliardenhöhe vorliegenden Hauptproduktivkraft Mensch der ökonomisch schwachen Länder zum Vorteil der Zentren“ (S. 32).
Ganz wichtig ist es dem Autor unter Abschnitt 6.1 zu betonen, dass die Bedeutung des Intelligenztransfers, deshalb so wichtig ist, weil es sich um „den Abfluss der Hauptproduktivkraft Mensch handelt, die notwendige Bedingung für die Entwicklung aller anderen Produktivkräfte ist“. Die entscheidende Rolle liege dabei in der informatisch-mathematisch-naturwissenschaftlich-ökonomisch-technisch-technologischen Intelligenz (S. 32).

Der Intelligenztransfer kann sogar zur politökonomischen Kriegsursache werden, so Wagner der diesbezüglich auf sein Buch „Krieg und Gesellschaftssystem“ verweist (S. 33).
Dies zeigt damit eine weitere Brisanz dieses Themas. Umso verwunderlicher ist es, dass das Thema „Brain-Drain“ fast von niemandem aufgegriffen wird. Uns muss bewusst sein, dass wir beim Aufbau des Sozialismus auf Brain-Drain verzichten, während der Sozialismus dabei dennoch so produktiv sein muss, um sich gegen die kapitalistische Konkurrenz behaupten zu können. Solche wichtige Fragen der Produktivkraftentwicklung müssen auch gelöst werden.
In Kapitel 7 sind Zitate zum Intelligenztransfer aufgeführt, die die zum Teil durchaus offenen Worte von Vertretern des Imperialismus zeigen. Exemplarisch möchte ich die Worte des ehemaligen USA-Außenministers Dean Rusk zitieren:
„Die Bedeutung der Zuwanderung für die Vereinigten Staaten hängt jetzt weniger von der Zahl als von der Qualität der Einwanderer ab...Wir sind auf dem internationalen Markt wegen Gehirnen.“

Der Autor hat einen z.T. abweichenden Erkenntnisstand zur klassischen politischen Ökonomie von Marx und Engels. Jedoch ist sein Erkenntnisstand diesem gegenüber nicht widersprüchlich. Denn Begriffsbestimmungen müssen sich auch anpassen, da sich die Realität ändert. Die Frage, ob dies in der Broschüre in jedem Fall berechtigt geschieht, möchte ich nicht bewerten. Konstatieren will ich allerdings, dass z.B. die neue Definition der  „Arbeitskraftwertgröße“ nicht zu einer Verteidigung des Kapitalismus führt. Im Gegenteil, sie führt  zur Einsicht in die Notwendigkeit der Beseitigung des Kapitalismus.  

Die Broschüre macht deutlich, dass der Kampf um die Intelligenz sich noch weiter verschärfen wird, genauso wie sich auch die Situation von Flüchtlingen dramatisieren wird. Die Brain-Drain-Länder werden durch die Abwerbung der Intelligenz jeglicher Chance von wirklicher Entwicklung beraubt und können somit nie zum Entwicklungsstand der Brain-Gain-Länder aufholen.

Wer also heute gegen den Imperialismus ist, der darf zur „Brain-Drain“-Frage nicht schweigen.

Im letzten Kapitel verfügt die Broschüre über eine Auswahl von Begriffsdefinitionen, die einer einheitlichen Begriffsverwendung dienen und auch über diese Broschüre hinaus sehr hilfreich sein können.
Alles in Allem kann man von einer sehr lesenswerten Broschüre sprechen, die in der Gesellschaft breit und kontrovers diskutiert werden sollte.
Besonders anzumerken ist jedoch, dass die Broschüre nur im Eigenverlag vertrieben wird.
Bestelladresse: Dipl.-Ing. Lion Wagner, Ascheberger Str. 26; 16831 Rheinsberg. 
E-Mail: bestellung@gesellschaftlicher-fortschritt.de

Mark Staskiewicz, Graz, Autor einer Sozialismus-Diskussionsbroschüre der KPÖ Steiermark, Ausschussmitglied in der steirischen Arbeiterkammer für den Gewerkschaftlichen LinksBlock.
 

18. November 2015