Beate Landefeld über die EU-Krise und die nationale Souveränität

Aus Marxistische Blätter (4, 2011)

Die EU-Krise schwelt weiter

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Die europäischen Bourgeoisien im Zwiespalt Das Rezept sich steigernder Sparrunden im Stil Brüningscher Notverordnungen, ist in Griechenland gescheitert.

Das Rezept sich steigernder Sparrunden im Stil Brüningscher Notverordnungen, ist in Griechenland gescheitert. Ein Jahr EU-"Hilfen" gekoppelt an „nachholende Modernisierung" nach dem Vorbild der deutschen Agenda 2010 haben das Land alles andere als „wettbewerbsfähig" gemacht: Die Wirtschaft ist geschrumpft, die Arbeitslosigkeit nach oben geschnellt, der Schuldenstand steigt. Steuereinbrüche machen „Einsparungen" zunichte. Die „EU-Hilfen" zur Aufrechterhaltung des Schuldendiensts sind keine „Griechenlandhilfen", sondern eine weitere Runde von Stabilitätshilfen für Banken und Versicherungen vor allem der EU-Kernländer.

Das „Sparrezept" war ein Fehlschlag. Trotzdem wird es Griechen, Iren, Spaniern und Portugiesen weiter verordnet. Die Verantwortlichen in Berlin, Paris und Brüssel denken nicht daran, ihren Kurs zu überprüfen. Dass Schuldenabbau ohne Wachstum nicht möglich ist, wissen auch sie. Immerhin haben sie in der Krise so etwas wie Konjunkturprogramme aufgelegt. Soll an den Schuldnern ein Exempel statuiert werden? Die damit verbundene „Bestrafungsrhetorik" – so bezeichnete es der griechische Außenminister Stavros Lambrinidis – hätte den für die Herrschenden hierzulande nützlichen Nebeneffekt, Hartz IV im Nachhinein zu sanktionieren.

Nichts fürchtet die deutsche Bourgeoisie so sehr, wie das Gespenst der „Transferunion". Was das ist, zeigt Olaf Henkel gern am „abschreckenden Beispiel" des Länderausgleichs der BRD: Die reichen Länder wie Bayern, Baden-Württemberg und Hessen zahlten für die Habenichtse Bremen, Saarland, Berlin und den Osten. Eine solche „Bestrafung der Leistungsfähigen" dürfe in der EU nicht um sich greifen. Die Angst der deutschen Bourgeoisie vor der „Transferunion" setzt ihrer Europaliebe Grenzen. In Maastricht setzte sie durch, dass kein Staat für die Schulden eines anderen haften darf. Eine Hürde gegen die Integration wurde so in das EU-Vertragswerk eingebaut.

Es ist letztlich die Furcht vor jeglichem „Transfer" von oben nach unten, die dahinter steckt. Das Vertrauen in die Fähigkeit der Eliten anderer Euro-Länder, die Lohn- und Sozialkosten auf Dauer niedrig zu halten, war in der deutschen Bourgeoisie stets gering. Am tiefsten sitzt ihr Mißtrauen gegen die „weiche Südflanke"i der EU. Das hängt mit Unterschieden in den historischen Traditionen und Klassenverhältnissen zusammen. Für die deutsche Bourgeoisie sind die „Stabilitäts"-Kriterien des Maastricht-Vertrags und die „Unabhängigkeit der EZB" die Geschäftsgrundlage für ihre Zustimmung zur gemeinsamen Währung. Derzeit sieht sie diese Geschäftsgrundlage als verletzt an.

Das Verhältnis der anderen europäischen Bourgeoisien zum restriktiven „Stabilitätspakt" ist zwiespältig. Er vermindert die Flexibilität, mit der sie auf Krisen und innere soziale Unruhen reagieren können. Andererseits können sie die Abwälzung von Lasten auf die Bevölkerung als äußeren Sachzwang darstellen. So verkörpern EU-Kommission und EZB in der Innenpolitik der Staaten die Zumutungen der „Globalisierung". Die profitierenden Eliten bleiben im Hintergrund. Der Klassencharakter von Regierungshandeln wird, oft unter Zuhilfenahme nationalistisch verbrämter Abgrenzung von der „Brüsseler Bürokratie", verschleiert.

Wo die Macht sitzt

Die EU ist heute ein hierarchisch gegliederter Staatenverbund, in dem die BRD ökonomisch dominiert. Der Bundeshaushalt umfaßt mit 306 Mrd. Euro fast das Zweieinhalbfache des EU-Haushalts von 126 Mrd. Die Macht sitzt, wo das Geld sitzt. Ohne Erlaubnis der großen Nationalstaaten, die den Geldhahn auf- und zudrehen, haben die EU-Gremien kaum Handlungsspielraum. Das soll nach dem Willen von BDI und Bundesregierung auch so bleiben. Beide sind strikt gegen eigene Steuern der EU und für die Begrenzung des EU-Haushalts auf 1% des BIP. Brüssel an der kurzen finanziellen Leine zu halten, ist der materielle Hintergrund, wenn auch ein Großteil des konservativen Lagers die Souveränitätsrechte des deutschen Parlaments einklagen will.

Die Macht sitzt auch, wo die großen Konzerne und Banken sitzen: Von den europäischen TNKs, die zu den 500 größten Konzernen der Welt gehören, haben 75% ihren Sitz in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, den Niederlanden und Spanien, den sechs EU-Ländern, die zu den G20 gehören. Nur 25% verteilen sich auf die 21 übrigen, das heißt, auf mehr als drei Viertel der EU-Länder. Deutschland und Frankreich stellen jeweils ein knappes Viertel der größten europäischen TNKs. Die Zahl der großen britischen TNKs hat sich von 52 (1980) auf 26 (2008) halbiert, auf noch 15%.ii

Politisch geführt wird die EU von der Achse Berlin – Paris. Die Konsensfindung wurde in der Weltwirtschaftskrise schwieriger, weil Frankreich mit seiner mehr binnenmarktorientierten Ökonomie für eine „weichere" Politik gegenüber europäischen Schuldnerländern ist. Berlin, Bundesbank und EZB setzen dagegen auf Disziplinierung durch den Finanzmarkt. Das erzwingt überall staatliche „Stabilitätspolitik", hält den Arbeitslosensockel hoch und drückt Löhne und Sozialkosten im Interesse der exportabhängigen deutschen Konzerne. Der Ökonom Rudolf Hickel erfand dafür den treffenden Begriff des „Exportimperialismus mit sinkenden Lohnstückkosten".iii

Andererseits waren die deutschen Exportüberschüsse nur mit Hilfe schuldenfinanzierter Nachfrage der meisten Nachbarländer (wie auch der USA) möglich. Dafür gaben hiesige Banken Kredite, gab es Kreditversicherungen, staatliche Exportbürgschaften und – speziell bei Rüstungsgütern – Druck auf Regierungen als potentielle Abnehmer. Zur Stimulierung der Nachfrage wurden Beamte bestochen, etwa in Griechenland durch Siemens oder bei U-Boot-Geschäften mit Griechenland und Portugal durch Ferrostal.iv Auch das neoliberale Regime funktioniert nicht ohne staats- und privatmonopolistischen Druck, und das Hochtreiben öffentlicher und privater Verschuldung ist die Kehrseite der „Disziplinierung durch den Markt".

In der EU-Wirtschaftspolitik muss sich Paris wohl oder übel mit Berlin, das sich als „Zahlmeister der EU" sieht, arrangieren. Im sogenannten „Diktat von Deauville"v willigte Sarkozy ein, die deutsche „Schuldenbremse" auf die Eurozone auszudehnen. Merkel akzeptierte die seit langem von Frankreich vorgeschlagene „Wirtschaftsregierung". Bis dahin hatte Berlin in der Wirtschaftsregierung eine Bedrohung für die Unabhängigleit der EZB gesehen. Nun interpretiert Merkel sie im Sinn einer Verstärkung „automatischer Mechanismen" gegen „Schuldensünder".

Mit derartigen Instrumenten sollen – so die portugiesische KP – „neben der massiven Plünderung von in diesen Ländern erzeugtem Reichtum … permanente Mechanismen der Einmischung" installiert werden, „die die Organe demokratischer Souveränität aushöhlen und dazu tendieren, souveräne Länder in Kolonien und Protektorate der großen kapitalistischen Länder zu verwandeln."vi

Zwischen „Renationalisierung" und „Schicksalsgemeinschaft"

In der Außenpolitik stört sich Berlin an „Sarkozys Alleingängen". In Libyen betont Frankreich auf militaristische Weise seine Rolle in der Welt. Der französische Außenminister Juppé lästert über Deutschlands „weiche" Libyen-Politik und sieht eine „variable Geometrie" in der EU: Bei der Wirtschaftspolitik spielten die Länder der Eurozone die wichtigste Rolle, bei der Verteidigungspolitik zeichne sich eine „französisch-britische Achse" ab. Dass Frankreich unter Sarkozy stärker die britische und atlantische Karte spielt, hat mit gemeinsamen Ölinteressen zu tun, aber auch mit der Rivalität um die Führungsrolle in der EU.

Nach 1945 hatte die französische Bourgeoisie das Ziel, den deutschen Imperialismus in einen (west)europäischen Integrationsprozess einzubinden, um ihn zu bändigen. Heute prägen Deutschlands reaktionäre Wirtschafts- und Sozialpolitik und Frankreichs Militarismus das Bild der EU. Das „imperialistische Konstrukt" hat die großen Nationalstaaten nicht ersetzt. Es dient als Struktur, mit der sie ihren Radius zu erweitern suchen, mal kooperierend, mal rivalisierend. Dass die bürgerlichen Eliten zwischen Wellen sogenannter „Renationalisierung" und der Beschwörung der „Schicksalsgemeinschaft Europa" hin- und herpendeln, gehört zur Struktur der EU.

Derzeit diskutiert die deutsche Bourgeoisie heftig über die EU. Ex-BDI-Chef Olaf Henkel will den kollektiven Austritt der „gesunden Nordstaaten" aus dem Euro, Ifo-Chef Sinn den Austritt Griechenlands. Den kühnsten Plan unterbreitete der frühere Thyssen-Boss Spethmann aus Anlaß des ersten Hilfspakets an Griechenland im Handelsblatt: „Ich bin dafür, dass Deutschland mit den nordeuropäischen Ländern, also den Niederlanden und den Skandinaviern, eine Nord-Währungsunion bildet. Wir sollten Frankreich einladen, Mitglied zu werden, und auch Russland als Gegengewicht hinzubitten."vii

Kein Wunder, wenn der spanische Regierungsberater Torreblanca eine "Rebellion der Eliten" in Deutschland sieht und den Verdacht äußert, das "neue Deutschland" verliere sein Interesse an Europa. Die boomenden Wirtschaftsbeziehungen zu Asien, vor allem zu China, relativierten die Rolle der EU und führten in der Bundesrepublik zu der Ansicht, Südeuropa sei vor allem ein "Wachstumshindernis".viii

Die Expansion der deutschen Konzerne war nie auf Europa beschränkt. Sie zielt auf alle relevanten Märkte der Welt. So gibt es auch jetzt neue Investitionen von VW, RWE, Thyssen, BASF, Siemens und Daimler in Werke in den USA, Brasilien, Russland, China und Indien. Doch fast zwei Drittel der deutschen Exporte und 55% der Auslandsinvestitionen gehen in die EU. Die Spaltung der Eurozone würde den Euro als Reservewährung und die EU als Interessenvertretung im Wettlauf mit den konkurrierenden Wirtschaftsräumen Nordamerika und Asien schwächen. Das Interesse an der EU als Heimatmarkt und Hinterland für die Weltmarktexpansion steht also gegen das Interesse, soziale Kosten zu sparen, die die Konkurrenzfähigkeit behindern. So widersprüchlich, wie die Interessenlage, so gespalten ist die Meinungsbildung der deutschen Bourgeoisie.

Finanzoligarchen und „Familienunternehmer"

100 „Familienunternehmer", die Umsätze von 38 Mrd. Euro repräsentieren, unter ihnen mindestens drei Milliardäre und vier fürstliche Vermögensverwalter, kritisieren in einer „Berliner Erklärung" den „verhängnisvollen Weg" der Euro-Rettungsschirme, mit dem „sämtliche Versprechen, die uns die Politik vor Eintritt in die Währungsunion gemacht hat, gebrochen worden" seien.ix Dagegen erklären 50 Konzernchefs, die für 1,5 Billionen Euro Umsatz stehen, unter ihnen die meisten DAX-Konzernbosse: „Die Rückkehr zu stabilen finanziellen Verhältnissen wird viele Milliarden kosten, aber die Europäische Union und unsere gemeinsame Währung sind diesen Einsatz allemal wert". Diese Finanzoligarchen haben ihre Erklärung mit der Regierung in Berlin abgesprochen.x

FAZ-Mitherausgeber Günther Nonnenmacher sieht Europa „am Scheideweg". Da bleibe „nur der Weg nach vorn".xi Joschka Fischer fordert die „visionäre Neuausrichtung der EU". Peer Steinbrück weist Europa die historische Mission zu, im Wettbewerb mit „ökonomisch attraktiven staatskapitalistischen Systemen wie China", die „einfach befehlen und anordnen", wirtschaftlich zu bestehen und zugleich die Alternative des „gezähmten Kapitalismus" zu verkörpern: „Dann können aufstrebende Nationen von Lateinamerika bis Afrika Freiheit und Rechtsstaatlichkeit als attraktiv erleben."xii

Kanzlerin Merkel verkündet am Finanzplatz Singapur: „Der Euro ist uns Deutschen ein Herzensanliegen." Und: „Es gibt keine Eurokrise, sondern nur eine Schuldenkrise einiger Länder". Aus dieser Sicht ist der Euro durch eine Art Erziehungsdiktatur gegen diejenigen, die „über ihre Verhältnisse leben", zu retten. Doch ist Europa dann noch attraktiv im Sinn von Steinbrücks historischer Mission? Die Visionen sind dünn, der „Weg nach vorn" bleibt im Nebel. Im Juli beginnt Italien zu straucheln. Der Rettungsschirm reicht dafür nicht und soll von 750 Mrd auf 1,5 Bio Euro erhöht werden.

Die kanadische Wirtschaftszeitung „Report On Business" sorgt sich um die Souveränität Griechenlands als Wiege der Demokratie. Das Land drohe, als erstes EU-Mitglied seine Demokratie aufzugeben. Griechenland sei bereits eine Art Satellitenstaat der Troika aus EU, EZB und IWF. Falls das Land kollabiere, könne es sich „in ein Kuba der Ägäis" verwandeln.xiii

China vereinbart mit Spanien, Griechenland und Ungarn Kredite und Investitionsabkommen. Wie schon in Lateinamerika schafft der Aufstieg der Schwellenländer auch in Europa alternative Möglichkeiten des Einbringens in die internationale Arbeitsteilung. Bisher nutzen dies vor allem die Großkonzerne. Es kann aber auch den Spielraum abhängiger Länder gegenüber den kriselnden imperialistischen Zentren erweitern. Die Alternative lautet nicht Internationalisierung oder „Renationalisierung". Sie lautet imperialistische Unterordnung nach dem Treuhandmodell oder internationale Kooperation zum gegenseitigen Vorteil. Die EU arbeitet zur Zeit nach dem Treuhandmodell.

Treuhandmodell

Die Bandbreite reicht von „wohlmeinender" Bevormundung bis zur Drohung mit der Plünderung. Schäuble will in Griechenland, Sonnenkollektoren für die deutsche Energiewende aufstellen. Eine Dame im „Presseclub" meint, Griechenland eigne sich wegen seiner Strände vor allem zum Feriengebiet, nicht zur Industrienation. CDU/CSU-Mittelstandssprecher Michelbach macht den ruppigen Vorschlag, alle griechischen Staatsunternehmen und –beteiligungen in einen Treuhandfonds unter maßgeblicher Beteiligung des IWF und der EU zu überführen. Der Fonds solle Gläubigern, die sich an einer Umschuldung beteiligen, die eingebrachten Werte als zusätzliche Sicherheiten anbieten. Darüber hinaus solle der Fonds auch die Privatisierungsverkäufe abwickeln.xiv

Private ausländische Gläubiger haben griechische Anleihen seit dem ersten „Hilfspaket" 2010 schon massiv verkauft. Mögliche Umschuldungsabschläge werden minimiert. Wieder einmal konnten Risiken auf staatliche Banken transferiert werden. Die EZB tritt gegen jede Beteiligung privater Gläubiger auf. Die Gefahr der Destabilisierung von Banken und der EZB selbst sei zu groß. Das Fass ohne Boden ist nicht Griechenland, sondern der Finanzsektor. Doch die Auspressbarkeit der Menschen ist begrenzt. Es wird daher zu irgendeiner Form von Schuldenerlaß kommen müssen.

Ob ein „Schuldenschnitt" den Lohnabhängigen der Schuldnerländer nur neue Auflagen bringt oder mehr Luft zum Atmen, hängt von den Klassen- und Kräfteverhältnissen in jedem betroffenen Land sowie von der Frage ab, wer den „Schnitt" kontrolliert: die Gläubiger in Kollaboration mit der inneren Bourgeoisie oder eine Regierung, die sich eher dem eigenen Land und der eigenen Bevölkerung verpflichtet fühlt. Die Möglichkeit einer solchen Regierung scheint in einem Europa, das manche als „postdemokratisch" bezeichnen, weit entfernt. Ob sie nur durch eine Revolution zustande kommen kann oder auch durch ein Kräfteverhältnis unterhalb dieser Schwelle, kann nur die Zukunft beantworten – wahrscheinlich je nach Land unterschiedlich.

Reiche Griechen parken ihr Geld im Ausland. „In Griechenland gibt es so gut wie kein privates Millionen-Vermögen mehr, das nicht zumindest zum Großteil längst ins Ausland verbracht worden wäre." Nach Schätzungen von Bankenkreisen betrug das Volumen der Kapitalflucht im Mai rund vier Mrd. Euro, doppelt so viel wie noch im April. Laut griechischer Notenbank gingen die privaten Geldeinlagen bei griechischen Banken von Januar 2010 bis April 2011 um gut 31 Milliarden auf 165,5 Mrd. Euro zurück. Das Interesse von reichen Griechen an Luxusimmobilien in London hat sich im letzten Quartal verdoppelt. Begehrt sind Häuser in den Edelvierteln Chelsea, Kensington und Knightsbridge zu drei Millionen Pfund und mehr. Gezahlt wird meist in bar.xv

Das bürgerlich-demokratische Recht auf nationale Souveränität wird heute nicht von den Bourgeoisien, sondern von den Lohnabhängigen verteidigt. Die Bourgeoisien der abhängigen Länder in Europa sind bestrebt, sich ihr Plätzchen in der imperialistischen Hierarchie zu sichern. Ihr Widerstand gegen das „Diktat der Troika" ist meist nur verbal. Zwar versuchen sie, ihre innere Hegemonie zu wahren, indem sie nationalistische Phrasen dreschen – aber nur, um vom faktischen Ausverkauf nationalen Reichtums an die Monopole abzulenken.

Internationalismus versus Selbstbestimmungsrecht?

Anders stellt sich die Frage der Souveränität aus der Sicht der Lohnabhängigen. So erklärt die portugiesische KP: Die „PCP berücksichtigt, dass die Verteidigung der nationalen Souveränität entscheidende Wichtigkeit erlangt hat, nicht nur um die unabhängige und progressive Entwicklung Portugals zu sichern, sondern auch um den demokratischen Charakter der Einrichtungen der Republik zu erhalten."xvi

Das Monopol verneint die Demokratie, auch die bürgerliche. „Der Kapitalismus überhaupt und der Imperialismus insbesondere verwandelt die Demokratie zu einer Illusion – und zugleich erzeugt der Kapitalismus demokratische Bestrebungen in den Massen, schafft er demokratische Einrichtungen, verschärft er den Antagonismus zwischen dem die Demokratie negierenden Imperialismus und den zur Demokratie strebenden Massen."xvii Dies schrieb Lenin in einem Beitrag zum „Selbstbestimmungsrecht der Nationen". Es war eine unter den damaligen Linken umstrittene Forderung, wie heute auch.

Rosa Luxemburg fürchtete, die Unterstützung des Rechts auf Selbstbestimmung werde mit dem Zerfall von Großstaaten die Spaltung des internationalen Proletariats befördern. Lenin hielt dagegen, dass die Ablehnung des Selbstbestimmungsrechts die Reaktionäre in der unterdrückenden Nation stärke: „Ein Volk, das andere Völker unterdrückt, kann selbst nicht frei sein." Eine Loslösung Polens von Rußland könne die polnischen Nationalisten stärken, schwäche aber den großrussischen Chauvinismus. Dagegen bedeute die „Leugnung des Rechts auf Selbstbestimmung in der Praxis … Unterstützung der Privilegien der herrschenden Nation."xviii

Andererseits sei das Recht auf Selbstbestimmung nur negativ zu definieren, als Ablehnung von Zwangsherrschaft und Privilegien. Zu wahren sei die „absolute Neutralität der Proletarier im Kampf der Bourgeoisien der verschiedenen Nationen um Vorrang. Die geringste Unterstützung der Privilegien der eigenen nationalen Bourgeoisie durch das Proletariat irgendeiner Nation wird notwendigerweise Mißtrauen beim Proletariat der anderen Nationen hervorrufen" und die internationale Klassensolidarität schwächen. Zur Anerkennung des Rechts auf Lostrennung stehe die Agitation der Marxisten einzelner Länder gegen eine Lostrennung nicht im Widerspruch, so wie die Anerkennung des Rechts auf Ehescheidung nicht bedeute, für die Scheidung jeder Ehe einzutreten.xix

Ein Thema war auch bei Luxemburg-Lenin die Frage der ökonomischen Verflechtung, etwa zwischen Polen und Rußland oder zwischen Irland und England. Diese Frage stellt sich heute auf dem Hintergrund der „Globalisierung" noch vordergründiger. Doch damals wie heute muß zwischen Ökonomie und Politik unterschieden werden. Die Frage der Selbstbestimmung, wie die Frage der Demokratie überhaupt, bezieht sich auf die politische Macht. Diese ist auch heute überwiegend nationalstaatlich organisiert, wobei die großen Nationalstaaten in der Welt (G20) wie in der EU die „erste Geige" spielen.

Grenzüberschreitende Vergesellschaftung

Analytisch davon zu unterscheiden ist die internationale Vergesellschaftung der Produktion. Sie hat sich ohnehin nie an den Grenzen der EU orientiert, sondern an den größten und am schnellsten wachsenden Märkten. Dies zwingt die privaten Monopole und die mit ihnen verflochtenen großen bürgerlichen Staaten seit langem zu internationaler Kooperation auf Weltebene, ohne dass die zwischenmonopolistische Konkurrenz und zwischenimperialistische Rivalität verschwunden wären.

Kleineren Staaten bleibt für ihre eigenständige Entwicklung im Weltkapitalismus neben der Besetzung von Nischen die Möglichkeit, die Widersprüche zwischen den Großen zu nutzen, um sich möglichst günstig in die internationale Arbeitsteilung einzugliedern. Was passiert, wenn kleine Länder einen progressiven Weg einschlagen, zeigt das Beispiel Kubas. Es ist seit Jahrzehnten einem von den USA verhängten Wirtschaftsboykott ausgesetzt. Dennoch konnte Kuba seine Souveränität bis heute wahren, zunächst mit Hilfe der Sowjetunion, später mit Hilfe befreundeter lateinamerikanischer Länder.

Ein demokratisches Europa wird nicht „von oben" entstehen. Die EU könnte lange, bevor es zu demokratischen Veränderungen kommt, gespalten werden, weil die Bourgeoisien der Hauptländer auf andere Weise ihre Widersprüche nicht in den Griff kriegen. Sie kann im Fall von progressiven Veränderungen, die auf einzelne Länder beschränkt bleiben, nicht mit Gewalt zusammen gehalten werden. Ob die EU als Ganzes demokratische und soziale Veränderungen überdauert, hängt in hohem Maße von den Kräfteverhältnissen in ihren großen Ländern ab.

Heute müssten in der BRD höhere Löhne, Senkung des Renteneintrittsalters, Investitionsprogramme in Gesundheit, Bildung, Kultur und Ökologie erkämpft werden – soll Europa nicht noch weiter auseinander driften. Die Transfers von unten nach oben, zugunsten von Finanzoligarchen und Milliardärsclans müssten aufgekündigt und umgekehrt werden. Die Senkung des Renteneintrittsalters wäre der effektivste Entlastungsangriff gegen Rentenkürzungen in anderen Ländern, wo „Reformen" nach dem Muster der Agenda 2010 erst noch durchgesetzt werden sollen.

Es hängt hochgradig von der Kampfbereitschaft der deutschen Arbeiterklasse ab, ob Europa auseinander- oder zusammenwächst. Würden unsere Gewerkschaften, ihre eigenen Interessen den „Wettbewerbsinteressen" der deutschen Exportindustrie nicht länger unterordnen, ginge hiervon ein mächtiger Schub für mehr Demokratie und weniger Hierarchie in ganz Europa aus.

(aus Marxistische Blätter 4-2011)

iGerd Höhler, Weiche Südflanke. Handelsblatt online 6.11.2008

iiVgl. Beate Landefeld, Europäisiert sich die Bourgeoisie? Marxistische Blätter 1-2010, S. 33ff

iiiRudolf Hickel, Der Euro ist unschuldig. FR online 13.2.2009

ivFerrostal war zur Zeit der Korruptionsaffäre noch 100%ige Tochter der MAN.

vFAZ online 27.5.2011: „So nannten die anderen Verantwortlichen der Eurozone den im vergangenen Oktober ausgeheckten Versuch, die europäische Währungsunion im deutsch-französischen Parforceritt zu reformieren."

viErklärung der PCP zum Wahlausgang. Pressekonferenz 8.6.2011.

vii„Wir werden schlecht regiert." Handelsblatt online 8.7.2010

viiihttp://kritische-massen.over-blog.de/article-der-deutsche-umgang-mit-der-krise-riskiert-die-eu-74196858.html

ixHandelsblatt.online 27.6.2011

xHandelsblatt.online 17.6.2011

xiFAZ online, 23.6.2011: „Auf der Suche nach dem Gründergeist".

xii„Steinbrück fordert deutsch-französische Initiative", Handelsblatt online 8.6.2011

xiiiHandelsblatt.online 9.6.2011

xivHandlesblatt online 20.6.2011

xvHandelsblatt.online 26.6.2011

xviSiehe: Fußnote 6

xviiW.I. Lenin, Antwort an P. Kijewski (J. Pjatakow). LW 23, S. 14

xviiiW.I. Lenin, Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen. LAW 2, S. 428

Quelle: http://belafix.wordpress.com/2011/08/01/die-eu-krise-schwelt-weiter/

xixEbenda, S. 460

 

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Beate Landefeld

Veröffentlicht: 9. September 2011